Sozialrecht

Rentenversicherung: Ordnungsgemäßer Beweisantrag bei Klage auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit

Aktenzeichen  L 14 R 690/17

Datum:
9.5.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 36877
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI § 43
SGG § 103, § 109, § 118 Abs. 1 S. 1
ZPO § 373, § 403

 

Leitsatz

1. Zu den Voraussetzungen einer Rente wegen Erwerbsminderung. (Rn. 38 – 39)
2. Beweisanträgen, die nicht in prozessordnungsgerechter Weise formuliert sind muss nicht gefolgt werden. Ein Beweisantrag muss hinreichend bestimmt sein. Dazu gehört zumindest die Nennung einer Fachrichtung, auf der eine Begutachtung erfolgen soll. Daneben noch, welche Beeinträchtigungen des Gesundheitszustandes vorliegen und welche Leistungseinschränkungen sich daraus ergeben. (Rn. 56)

Verfahrensgang

S 31 R 1667/15 2017-09-07 Urt SGMUENCHEN SG München

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 07.09.2017 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet. Der Klägerin steht weder eine Rente wegen voller Erwerbsminderung noch wegen teilweiser Erwerbsminderung zu. Das Urteil des Sozialgerichts München ist ebenso rechtmäßig wie der Bescheid der Beklagten vom 14.08.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.06.2015 und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, denn sie ist nicht erwerbsgemindert.
Gem. § 43 Abs. 1, 2 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser bzw. voller Erwerbsminderung, wenn sie
1.teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind,
2.in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
3.vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs bzw. drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist gem. § 43 Abs. 3 SGB VI nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.
Nach den überzeugenden Feststellungen der erfahrenen Sachverständigen Dr. K. und Dr. S. ist das Leistungsvermögen der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht unter sechs Stunden täglich abgesunken. In Übereinstimmung mit den Vorgutachtern Dr. R. und Dr. M. und nach Sichtung und Bewertung aller vorliegenden medizinischen Unterlagen sind die Sachverständigen zu dem Ergebnis gekommen, dass die Klägerin noch mehr als sechs Stunden täglich leistungsfähig ist. Diese Feststellungen der Sachverständigen hält der Senat für in sich schlüssig und überzeugend und schließt sich ihnen an.
Auch wenn Dr. K. den Verdacht auf eine schwere Somatisierungsstörung äußerte und deshalb vermutete, dass ein auf unter sechs Stunden abgesunkenes Leistungsvermögen bestehen könnte, hat er dies fachfremd in den Raum gestellt und eine psychiatrische Begutachtung angeregt. Es erscheint dem Senat auch wahrscheinlich anzunehmen, dass Dr. K. seine Einschätzung aufgrund der Theatralik der Schmerzäußerungen der Klägerin annahm, die in der Untersuchungssituation auftrat. Der Senat hat ausgehend davon auch ein psychiatrisches Gutachten Dr. S. eingeholt. Der psychiatrische Gutachter konnte sich dem Votum von Dr. K. jedoch nicht anschließen und stellte bei der Klägerin sogar nur eine Dysthymie fest. Auch wenn die Klägerin in der affektiven Schwingungsfähigkeit eingeschränkt ist, war sie in der Lage, dem Untersuchungsgespräch kritisch zu folgen und wenn nötig auch nachzufragen. Aufgrund der abweisenden und unwillig erscheinenden Einstellung der Klägerin war die Untersuchungssituation erschwert. Dr. S. gewann jedoch den Eindruck, dass sich die Klägerin willentlich einer effizienten Behandlung entziehe, da dies für sie einen sekundären Krankheitsgewinn bedeute. Durch ihr Verhalten kümmert sich die Familie, insbesondere die Tochter und der Ehemann, um den Haushalt und die sonstigen Belange. Die Klägerin hat sich mit dieser Situation arrangiert, man kann sogar sagen, dass sie sie praktisch willentlich herbeiführt. Sie hat bei Dr. S. angegeben, dass sie nur dann etwas im Haushalt tue, wenn sie dazu Lust habe. In Anbetracht der psychiatrischen Diagnosen und der laut Dr. K. klinisch und radiologisch nicht nachvollziehbaren Schmerzen aufgrund der orthopädischen Erkrankungen, ist der Senat der Überzeugung, dass auch in der Zusammenschau beider Erkrankungen auch unter Einbeziehung der allgemeinärztlichen Gesundheitsstörungen keine Leistungsminderung besteht.
Auch scheint kein besonderer Leidensdruck bei der Klägerin zu bestehen, da sie ansonsten wenigstens ihre Medikamente einnehmen würde, was sie offensichtlich nach eigenen Angaben nicht will und diese sogar manchmal wegwirft. Das bestätigt auch der Medikamentenspiegel, der eine Einnahme der verordneten Medikamente und Schmerzmittel im therapeutischen Bereich nicht feststellen konnte. Noch nicht mal der Spiegel für das Schmerzmittel Ibuprofen befand sich in ausreichender Menge im Blut der Klägerin. Dies rechtfertigt den Schluss darauf, dass die Schmerzen der Klägerin doch nicht so stark sind, wie sie dies in der Gutachtensituation schilderte. Der Senat hat, nach Durchsicht der gesamten Akten und den Ergebnissen der Begutachtungen, daher erhebliche Zweifel an dem von der Klägerin geäußerten Leidensdruck. Auch die Mitarbeit bei den Untersuchungen ließ zu wünschen übrig, es ergaben sich Indizien für Aggravation, etwa bei Prüfung der Motorik und der Gleichgewichtsfunktion bei Dr. M. oder der erschwerten Befunderhebung bei Dr. S., bei dem eine abwehrende, unwillig erscheinende Einstellung der Klägerin auffiel. Aggravationstendenzen wurden auch von Dr. R. in seinem Gutachten erwähnt.
Die bei Dr. M. von der Klägerin gezeigte Ratlosigkeit und Trauer wegen des Kontaktabbruchs zur Tochter, bedingt, so die Gutachterin, keine Einschränkung des Leistungsvermögens. Hinsichtlich der Wegefähigkeit, stellte Dr. M. fest, dass die Klägerin ohne Hilfsmittel zur Untersuchung gelangt sei. Hieraus und aus dem Verhalten während der Untersuchung sowie aus den Befunden aus der Akte schloss Dr. M., dass Zweifel an der Wegefähigkeit nicht angebracht seien. Auch der Senat sieht keine Einschränkung der Wegefähigkeit. Die üblichen Pausen sind ausreichend.
Es gibt kein Gutachten, das den Anspruch der Klägerin stützt. Die Klägerin hat jedoch die Voraussetzungen des Anspruches § 43 SGB VI nachzuweisen. Dieser Nachweis ist der Klägerin nach Überzeugung des Senats nicht gelungen.
Weitere Ermittlungen von Amts wegen (2.) bzw. die Einholung eines Gutachtens nach § 109 SGG (1.) waren nicht veranlasst.
1. Der Antrag auf Einholung eines Gutachtens nach § 109 SGG durch Herr Dr. G., B-Straße 15, B-Stadt, war verspätet gestellt und deshalb abzulehnen.
Nach § 109 Abs. 2 SGG kann das Gericht einen Antrag ablehnen, wenn durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde und der Antrag nach der freien Überzeugung des Gerichts, in der Absicht das Verfahren zu verschleppen, oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist.
Der Senat hat mit Schreiben vom 07.03.2019 beim Klägerbevollmächtigten angefragt, ob im Hinblick auf das eindeutige Ergebnis des Gutachtens von Dr. S. die Berufung zurückgenommen oder für erledigt erklärt wird, da der Senat die medizinischen Ermittlungen für abgeschlossen hält und die Berufung als entscheidungsreif ansieht. Nachdem auf dieses Schreiben keine Reaktion erfolgte, wurde am 05.04.2019 zum Termin am 09.05.2019 geladen. Trotz des Hinweises darauf, dass weitere Ermittlungen von Amts wegen nicht durchgeführt werden und bereits terminiert war, wurde der Antrag erst in der mündlichen Verhandlung gestellt. Der Schriftsatz vom 07.05.2019, indem sowohl der Antrag nach § 109 SGG als auch die Beweisanträge schriftlich ausformuliert waren, wurde dem Gericht erst in der mündlichen Verhandlung übergeben. Damit wurde jede zur sorgfältigen Prozessführung erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen, da nicht getan wurde, was jedem einleuchten muss, nämlich den Antrag spätestens dann zu stellen, wenn die Ladung zugegangen ist (vgl. Keller, in Meyer-Ladewig, 12. Auflage, § 109 Rdnr. 11).
2. Im Einzelnen wurden folgende Beweisanträge gestellt:
a. Zum Beweis der Tatsache, dass bei der Klägerin anhaltende, deutliche und mehrere Aspekte betreffend Orientierungsstörungen bestehen, die eine Erwerbstätigkeit ausschließen, die Erholung eines Sachverständigengutachtens.
b. Zum Beweis der Tatsache, dass bei der Klägerin die diagnostizierte Dysthymie therapieresistent ist, die Erholung eines Sachverständigengutachtens.
c. Zum Beweis der Tatsache, dass bei der Klägerin seit 22.01.2014 mehrere Episoden einer rezidivierenden, depressiven Störung vorliegen, die Erholung eines Sachverständigengutachtens.
d. Zum Beweis der Tatsache, dass bei der Klägerin seit 22.01.2014 aufgrund von Einschränkungen von Auffassungsgabe, Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit ein Leistungsvermögen von weniger als sechs Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorliegt, die Erholung eines Sachverständigengutachtens.
e. Zum Beweis der Tatsache, dass bei der Klägerin seit 22.01.2014 eine Störung der Gedächtnisleistung vorliegen, die eine geordnete Tätigkeit im Umfang von mindestens sechs Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr möglich macht, einschließlich Durchführung eines MMPI 2 Test in türkischer Sprache sowie des FPI (Freiburger Persönlichkeitsinventar), die Erholung eines Sachverständigengutachtens.
f. Zum Beweis der Tatsache, dass bei der Klägerin seit 22.01.2014 ein Leistungsvermögen von weniger als sechs Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorliegt, die Erholung eines schmerztherapeutischen Sachverständigengutachtens.
Die Beweisanträge zu Buchstaben a-e, mit denen jeweils die Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragt wurde, waren bereits deshalb abzulehnen, weil sie keinen konkreten Sachverständigen bzw. keine konkrete Fachrichtung bezeichnen. Allen fünf Beweisanträgen ist gemein, dass sie keinen konkreten, geeigneten Sachverständigen bzw. wenigstens dessen Fachrichtung benennen. Ein in prozessordnungsgerechter Weise formulierter Beweisantrag setzt gemäß § 118 Abs. 1 SGG in Verbindung mit §§ 402,373 ZPO zunächst voraus, dass ein zum Beweis der streitigen Tatsachen geeigneter Sachverständiger (bzw. zumindest dessen Fachrichtung) benannt wird. Die bloße Anregung zu weiteren -medizinischenErmittlungen von Amts wegen reicht dagegen nicht aus (vgl. Fichte in SGB 2000, 653-659, mit weiteren Nachweisen). Mithin war den Anträgen bereits aufgrund ihrer fehlenden Bestimmtheit nicht zu folgen.
Selbst wenn man unterstellt, dass beim Beweisantrag zu Buchstabe e, aufgrund des Zusatzes der Einholung von Persönlichkeitstests, eine neurologisch psychiatrische Begutachtung gewollt war, ist nicht ersichtlich, ob hier (auch) die Durchführung einer (neuro) psychologischen Zusatzbegutachtung gewollt war. Daher fehlt auch diesem Antrag die konkrete Bezeichnung einer Fachrichtung, bei der eine Begutachtung eingeholt werden soll.
Im Übrigen ist der Beweisantrag zu Buchstabe e auf die Einholung von Tests gerichtet. Nach den Leitlinien für die sozialmedizinische Begutachtung, Sozialmedizinische Beurteilung bei psychischen Störungen und Verhaltensstörungen, ist jedoch Voraussetzung jeder Beurteilung des Leistungsvermögens bei psychischen Störungen die Erhebung eines psychischen Befundes mit Aussagen zu psychopathologischen Phänomenen. Die sozialmedizinische Beurteilung des Leistungsvermögens kann sich nie alleine oder primär auf testpsychologische Befunde stützen.
Das Minnesota Personality Inventory-2 (MMPI) ist zwar, so Dr. M. in ihrer ergänzenden Stellungnahme, in türkischer Sprache erhältlich. Dieser Persönlichkeitstest eignet sich jedoch keinesfalls für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit. In Rentenverfahren könnte er für Rückschlusse zur Frage der Authentizität der angegebenen Beschwerden bzw. zur Frage der Simulation herangezogen werden. Der Test sei jedoch aufwändig und bestehe aus 567 Fragen und werde in der Regel nicht für sozialmedizinische Fragestellungen verwandt. Das Freiburger Persönlichkeitsinventar ist ebenfalls ein Selbstbeurteilungsfragebogen und deshalb zu Begutachtungszwecke nicht validiert. Dr. M. wies auch darauf hin, dass testpsychologische Verfahren zur Prüfung der Gedächtnisleistung bei der Klägerin sehr wahrscheinlich keinen Erkenntnisgewinn erbringen, da sie Motivation und Anstrengungsbereitschaft voraussetzen, die die Klägerin nicht in ausreichendem Maße gezeigt habe. Somit seien verfälschte Testergebnisse zu erwarten.
Ferner hat der Klägerbevollmächtigte, dessen Verhalten sich die Klägerin zurechnen lassen muss, nicht alles getan, um eine Anhörung von weiteren Sachverständigen zu erreichen. Die Anträge wurden sämtlich i.S.v. § 411 ZPO nicht rechtzeitig gestellt. Auch hierzu gilt das oben zur Ablehnung des Einholens eines Gutachtens nach § 109 SGG gesagte entsprechend.
Der Beweisantrag zu Buchstabe f ist zwar mit Nennung einer Fachrichtung erfolgt, führte aber auch nicht dazu, dass sich der Senat gedrängt fühlte, weitere Ermittlungen einzuleiten.
Die Klägerin wurde, einschließlich des Verwaltungsverfahrens, bereits von sechs ärztlichen Sachverständigen begutachtet, die auf Ihrem Fachgebiet und zum Teil bei Zusammenschau der Gebiete keine Einschränkung des Leistungsvermögens auf unter sechs Stunden feststellen konnten. Gleichwohl beschränkt sich der Beweisantrag darauf, dass ein Leistungsvermögen von unter sechs Stunden seit Rentenantragstellung durch ein schmerztherapeutisches Gutachten festgestellt werden würde, jedoch wird wieder behauptet, dass weitere Beeinträchtigungen des Gesundheitszustands vorliegen, noch welche Leistungseinschränkungen sich daraus ergeben könnten.
Ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 SGB VI besteht bereits deshalb nicht, da die Klägerin nicht vor dem 02.01.1961 geboren ist.
Die Kostenentscheidung (§ 193 SGG) berücksichtigt, dass die Klägerin auch im Berufungsverfahren nicht erfolgreich gewesen ist.
Gründe, die Revision zuzulassen (vgl. § 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor.


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