Sozialrecht

Rückforderung von Ausbildungsförderung nach abschließender Feststellung des Einkommens der Mutter

Aktenzeichen  M 15 K 17.686

Datum:
6.6.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 46525
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BAföG § 20 Abs. 1 S. 1 Nr. 4, § 24 Abs. 3, Abs. 4
EStG § 32b Abs. 1 Nr. 1

 

Leitsatz

1. Wenn trotz entsprechender Aufforderung kein Nachweis über das von einem Elternteil des Auszubildenden bezogene Einkommen (hier: Arbeitslosengeld I und Krankengeld) vorgelegt wird, darf  das BAföG-Amt – als milderes Mittel zu einer (teilweisen) Leistungsversagung – die im Einkommensteuerbescheid aufgeführte Summe der Leistungen i.S.v. § 32b Abs. 1 Nr. 1 EStG in die Einkommensberechnung einstellen. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Annahme einer Verwirkung der Rückzahlungspflicht ist insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Gesetzgeber im Rahmen von § 20 BAföG keine Aufhebungsfrist normierte und die Befugnis zur Aufhebung nicht durch Verjährungsvorschriften beschränkt ist, nur bei Vorliegen extremer Umstände denkbar. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags ab-wenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der Bescheid vom 21. April 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Januar 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Gericht nimmt insoweit zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Begründung des Widerspruchsbescheids Bezug (§ 117 Abs. 5 VwGO).
Lediglich ergänzend wird ausgeführt:
1. Rechtgrundlage für die Teilaufhebung der Bewilligungsbescheide vom 27. und 31. März 2007 ist § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BAföG, da die Bewilligung in Hinblick auf das zu diesem Zeitpunkt noch nicht abschließend feststellbare Einkommen der Mutter des Klägers unter dem rechtmäßigen Vorbehalt der Rückforderung nach § 24 Abs. 3 Satz 3 BAföG erfolgte.
2. Der streitgegenständliche Bescheid vom 21. April 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Januar 2017 ist formell rechtmäßig. Ein etwaiger Anhörungsmangel (§ 24 SGB X) wurde zumindest mit der Durchführung des Widerspruchsverfahrens geheilt (§ 41 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 SGB X).
3. Auch die materielle Rechtmäßigkeit ist gegeben.
3.1 Im Rahmen von § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BAföG ist allein auf das objektive Vorhandensein berücksichtigungsfähigen Einkommens abzustellen, ohne dass Verschuldens- oder Vertrauensschutzgesichtspunkte beachtlich wären oder der Behörde ein Ermessen zustünde (vgl. BVerwG, U.v. 8.6.1989 – 5 C 38/86 – juris Rn. 17; VG Augsburg, U.v. 12.11.2013 – Au 3 K 12.1331 – juris Rn. 44; S. in Ramsauer/Stallbaum, BAföG, 6. Auflage 2016, § 20 Rn. 11, 13; Rauschenberg in Blanke/Rothe, BAföG, Stand Mai 2018, § 20 Rn. 11).
Da trotz entsprechender Aufforderung durch den Beklagten kein Leistungsnachweis hinsichtlich des im Jahr 2007 von der Mutter des Klägers bezogenen Arbeitslosengelds I und keine Nachweise über das Bruttosowie Nettogesamtkrankengeld eingereicht wurden, durfte der Beklagte – als milderes Mittel zu einer (teilweisen) Leistungsversagung nach § 66 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB I – die im Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2007 aufgeführte Summe der Leistungen im Sinne von § 32b Abs. 1 Nr. 1 EStG in die Einkommensberechnung nach § 24 Abs. 4 Satz 2 BAföG einstellen, was von der Klagepartei auch nicht angegriffen wurde.
3.2 Die Voraussetzungen einer Verwirkung liegen nicht vor. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Gesetzgeber im Rahmen von § 20 BAföG keine Aufhebungsfrist normierte und die Befugnis zur Aufhebung nicht durch Verjährungsvorschriften beschränkt ist (vgl. VG Hamburg, U.v. 2.7.1998 – 2 VG 228/98 – juris Rn. 9; S.weg in Ramsauer/Stallbaum, BAföG, 6. Auflage 2016, § 20 Rn. 14, 16), ist die Annahme einer Verwirkung nur bei Vorliegen extremer Umstände denkbar (vgl. zum Ganzen: Rauschenberg in Blanke/Rothe, BAföG, Stand Mai 2018, § 20 Rn. 12.2).
Dabei setzt die Verwirkung als Hauptanwendungsfall des Verbots widersprüchlichen Verhaltens (BVerwG, B.v. 3.4.2012 – 5 B 59/11 – juris Rn. 4) ein Zeitmoment, d.h. das Verstreichen einer längeren Zeit seit der Möglichkeit zur Geltendmachung eines Rechts, sowie ein Umstandsmoment, d.h. das Hinzutreten weiterer Umstände, die die Geltendmachung als treuwidrig erscheinen lassen, voraus. Letzteres ist insbesondere der Fall, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nach so langer Zeit nicht mehr geltend machen würde (Vertrauensgrundlage) und der Verpflichtete ferner tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt werde (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unmittelbarer Nachteil entstehen würde (vgl. BVerwG, U.v. 27.7.2005 – 8 C 15.04 – juris Rn. 25; VG Hamburg, U.v. 2.7.1998 – 2 VG 228/98 – juris Rn. 9).
Hinsichtlich des Zeitmoments ist nur der Zeitraum ab Vorliegen der vollständigen Einkommensunterlagen beachtlich, da die Behörde erst ab diesem Zeitpunkt zur endgültigen Prüfung der Bewilligungsvoraussetzungen in der Lage ist (vgl. VG Augsburg, B.v. 5.2.2015 – Au 3 K 14.933 – juris Rn. 53). Zwar muss die Behörde nach § 24 Abs. 3 Satz 4 BAföG dafür sorgen, dass eine abschließende Einkommensfeststellung baldmöglichst ergehen kann. Bei einer Verzögerung kann der Auszubildende hieraus jedoch grundsätzlich keine günstigen Folgen herleiten (vgl. Fischer in Blanke/Rothe, BAföG, Stand Mai 2018, § 24 Rn. 34.1 und 19.1; VG Augsburg, B.v. 5.2.2015 – Au 3 K 14.933 – juris Rn. 53).
Das Umstandsmoment kann sich grundsätzlich nicht aus einer bloßen Untätigkeit der Behörde nach Entgegennahme der Einkommensunterlagen ergeben (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 27.7.2005 – 8 C 15.04 – juris Rn. 25; BVerwG, U.v. 8.7.1989 – 5 C 38/86 – juris Rn. 21; U.v. 6.12.1984 – 5 C 1/83 – juris Rn. 19; VG München, U.v. 2.8.2018 – M 15 K 16.3907 – UA S. 12; VG Augsburg, B.v. 5.2.2015 – Au 3 K 14.933 – juris Rn. 51). Vielmehr bedarf es eines konkreten Verhaltens, aus dem geschlossen werden kann, dass von einem Recht kein Gebrauch gemacht werde (vgl. BayVGH, B.v. 28.7.2014 – 12 ZB 13.1886 – juris Rn. 15).
3.2.1 Vorliegend fehlt es bereits an einem Zeitmoment. Entgegen der Ansicht der Klagepartei wurden die Einkommensunterlagen der Mutter betreffend das Jahr 2007 nicht spätestens im November 2009 vollständig vorgelegt. Zunächst ist zu berücksichtigen, dass die sonstigen Einnahmen im Sinne des § 21 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 BAföG i.V.m. BAföG-Einkommensverordnung nicht deckungsgleich mit den im Einkommensteuerbescheid im Rahmen des Progressionsvorbehalts aufgeführten Leistungen nach § 32b Abs. 1 Nr. 1 EStG sind, sodass die Vorlage eines Einkommensteuerbescheids alleine nicht ausreichte. Da die sich aus den vorgelegten Unterlagen ergebende Summe des bezogenen Arbeitslosengelds I und Krankengelds von der Summe der im Einkommensteuerbescheid aufgeführten Leistungen nach § 32b Abs. 1 Nr. 1 EStG abweicht, was die Bevollmächtige des Klägers in der mündlichen Verhandlung ohne Erklärung der Differenz einräumte, musste der Beklagte davon ausgehen, dass die vorgelegten Einkommensunterlagen nicht vollständig waren.
3.2.2 Überdies hat der Beklagte vorliegend nicht etwa durch ein aktives Verhalten einen Vertrauenstatbestand gesetzt, sondern war schlicht untätig geblieben. Damit fehlt es – auch vor dem Hintergrund der Mitteilungspflichten des Klägers bzw. seiner Mutter nach § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB (i.V.m. § 47 Abs. 4 BAföG) sowie der entsprechenden Hinweise in den Bewilligungsbescheiden sowie auf dem Formblatt 7 – an einer ausreichenden Vertrauensgrundlage für den Schluss, dass der Beklagte die Befugnis zur (Teil-)Aufhebung und Rücknahme nicht mehr ausüben würde, und damit an einem Umstandsmoment.
Entgegen der Ansicht der Klagepartei ergibt sich ein solches insbesondere nicht aus der Auflösung des Vorbehalts nach § 50 Abs. 4 BAföG durch Bescheid vom 25. Mai 2009 betreffend den Bewilligungszeitraum …2008 bis …2009. Denn insoweit waren lediglich die Einkommensverhältnisse der Mutter des Klägers im Jahr 2006 maßgeblich, die mit Vorlage der entsprechenden Leistungsbescheinigungen über das bezogene Arbeitslosengeld I endgültig feststellbar waren. Jedoch waren im streitgegenständlichen Bewilligungszeitraum aufgrund des gestellten Aktualisierungsantrags gemäß § 24 Abs. 4 Satz 2 BAföG die durchschnittlichen Monatseinkommen in den Kalenderjahren 2006 und 2007 maßgeblich, sodass eine endgültige Berechnung der Vorlage der Einkommensunterlagen beider Kalenderjahre bedurfte. Eine Auflösung von Vorbehalten, die sich (auch) auf das Einkommen der Mutter im Jahr 2007 bezogen, erfolgte nicht, sodass der Kläger nicht davon ausgehen konnte, dass die Einkommensverhältnisse des Jahres 2007 endgültig feststellbar waren. Insbesondere bestand auch hinsichtlich des Bewilligungszeitraums …2007 bis …2008 noch bis 27. März 2017 ein Vorbehalt nach § 24 Abs. 3 Satz 3 BAföG wegen des noch nicht abschließend feststellbaren Einkommens der Mutter in den Kalenderjahren 2007 und 2008. Auch aufgrund eines weiteren Vorbehalts nach § 24 Abs. 2 Satz 2 BAföG hinsichtlich des Einkommens des Vaters betreffend den Bewilligungszeitraum …2008 bis …2009, der erst mit Bescheid vom 9. Februar 2016 aufgehoben wurde, konnte der Kläger erkennen, dass die Bearbeitung weder im streitgegenständlichen noch in den beiden folgenden Bewilligungszeiträumen abgeschlossen war.
3.2.3 Des Weiteren ist anzumerken, dass die vom Kläger bzw. seiner Mutter nach Erlass der Bewilligungsbescheide vom 27. und 31. März 2007 eingereichten Einkommensunterlagen nicht zweckgerichtet zur Auflösung des Vorbehalts dieser Bescheide überlassen wurden, so dass nicht davon auszugehen ist, dass sich der Kläger danach im Vertrauen auf die Untätigkeit des Beklagten in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hatte, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unmittelbarer Nachteil entstehen würde (VG München, U.v. 2.8.2018 – M 15 K 16.3907 – UA S. 12). Insbesondere wären nur nach Entstehen des vermeintlichen Vertrauenstatbestandes durch Einreichen der Einkommensunterlagen im November 2009 getroffene Handlungen des Klägers beachtlich, die vorliegend jedoch nicht vorgetragen wurden und auch nicht ersichtlich sind.
Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
Die Gerichtskostenfreiheit beruht auf § 188 Satz 2 VwGO, der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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