Sozialrecht

Rückwirkende Aufhebung einer Teil-Erwerbsminderungsrente und rückwirkende Bewilligung einer Voll-Erwerbsminderungsrente

Aktenzeichen  S 10 R 4162/15

Datum:
12.4.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB X SGB X § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3

 

Leitsatz

1 An dem Tatbestandsmerkmal der “Einkommenserzielung” iSd § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB X fehlt es, wenn anstelle zuerkannter teilweiser Erwerbsminderungsrente rückwirkend volle Erwerbsminderungsrente zuerkannt wird. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die in dem Urteil des BSG BeckRS 2011, 66599 entwickelten Grundsätze können auf die Rechtsbeziehung zwischen dem Sozialleistungsträger und dem Sozialleistungsempfänger nicht übertragen werden, sondern bedürfen der sachgerechten Angleichung und Modifikation. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 03.02.2015 wird betreffend der Anlage 10 in der Fassung des Bescheides vom 23.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.06.2015 aufgehoben.
II. Die Beklagte erstattet der Klägerin die Kosten.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 23.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.06.2015 war aufzuheben.
Als Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist die Anlage 10 zu dem Bescheid vom 03.02.2015 in der Gestalt des Bescheides vom 23.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.06.2015 anzusehen, da diese Verfügungen eine nicht trennbare Einheit bilden (vgl. zu einem ähnlichen Fall auch das Urteil des Sächsisches Landessozialgerichts vom 28.02.2017 – L 5 KN 305/16, zitiert nach juris, dort insbesondere Rn. 18 u. 19). Denn die in der Anlage 10 zu dem Bescheid vom 03.02.2015 getroffene Aufhebungsverfügung wird durch die im Bescheid vom 23.02.2015 enthaltene Erstattungsverfügung ergänzt und konkretisiert. Daher kann der von der Beklagten vertretenen Auffassung, wonach der Bescheid vom 03.02.2015 – insbesondere hinsichtlich der Anlage 10 – bestandskräftig geworden sei, nicht gefolgt werden.
Die streitgegenständliche Forderung in Höhe von 1.334,70 € wurde ohne Rechtsgrundlage und damit rechtswidrig erhoben. Insbesondere ergibt sich die Rechtsgrundlage nicht aus § 50 SGB X, da die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Vorschrift nicht erfüllt sind.
Die Aufhebungsverfügung in der Anlage 10 des Bescheides vom 03.02.2015 ist rechtswidrig erfolgt, weil die Voraussetzungen für eine rückwirkende Aufhebung des die Teil-Erwerbsminderungsrente zuerkennenden Bescheides vom 15.07.2010 nicht vorlagen. Insoweit bestand ein schutzwürdiges Vertrauen der Klägerin, welches einer Erstattungsforderung entgegensteht. Zwar liegt in dem Eintritt des Leistungsfalles der vollen Erwerbsminderung eine wesentliche Änderung im Sinn des § 48 SGB X der Verhältnisse, die dem Erlass des Bescheides vom 15.07.2010 zugrunde gelegen haben, (vgl. hierzu auch Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 28.02.2017 – L 5 KN 305/16, dort Rn. 22, unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes), jedoch ist keine der Alternativen nach § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 – 4 SGB X erfüllt, welche eine rückwirkende Aufhebung des Bescheides vom 15.04.2010 „mit Wirkung vom Zeitpunkt der Veränderung der Verhältnisse“ legitimieren würde. Insbesondere hat die Klägerin kein „Einkommen erzielt“ im Sinn des § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB X (ebenso: Landessozialgericht Schleswig-Holstein, Urteil vom 20.12.2016 – L 7 R 92/15, zitiert nach juris, dort Rn. 32 f – Revision anhängig unter B 13 R 3/17 R).
Ergänzend ist auszuführen:
Auch, wenn man eine „Einkommenserzielung“ i.S.d. § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X als Voraussetzung für eine rückwirkende Aufhebung der ursprünglich die Teil-Erwerbsminderungsrente bewilligenden Bescheides vom 15.07.2010 als gegeben ansähe – wie dies vom Sächsische Landessozialgericht im oben bereits zitierten Urteil vom 28.02.2017 sowie vom Landessozialgericht Schleswig-Holstein im Urteil vom 23.02.2016 – L 7 R 133/15 vertreten wird, wäre die in der Anlage 10 zum Bescheid vom 03.02.2015 formulierte Aufhebungsentscheidung nicht rechtmäßig.
Denn es fehlt an einer notwendig vorzunehmenden Ermessensausübung:
§ 48 Abs. 1 S. 2 SGB X stellt eine Sollvorschrift dar, das heißt, es ist im Einzelfall zu prüfen, ob ein atypischer Fall vorliegt und wenn ja, ob dieser aufgrund einer vorzunehmenden Interessenabwägung ein Absehen von der für den Regelfall vorgesehenen Rechtsfolge erfordert.
Ein solcher atypischer Fall ist vorliegend aus mehreren Gründen zu bejahen (vgl. hierzu auch: Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 28.02.2017, Az: s.o.; Landessozialgericht Schleswig-Holstein, Az: s.o.; Landessozialgericht Hessen, Urteil vom 27.09.2016 – L 2 R 298/15):
Erstens weicht der vorliegende Sachverhalt ab vom Regelfall einer „Einkommenserzielung“ im Sinn des § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB X vor, wie er beispielsweise beim Zufluss einer zweiten Rente oder einer zusätzlichen Sozialleistung oder eines zusätzlich erzielten Arbeitseinkommens gegeben ist. Denn der Klägerin ist kein vergleichbares, weiteres Einkommen zugeflossen. Eine tatsächliche Doppelzahlung, deren Abschöpfung die Vorschrift des § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X dem Grunde nach bezweckt, hat bei der Klägerin gerade nicht stattgefunden.
Zweitens hat die Klägerin ursprünglich nicht einen Antrag auf Zuerkennung einer vollen Erwerbsminderungsrente, sondern einen Reha-Antrag gestellt, welcher nachträglich von der Beklagten gemäß § 116 SGB X umgedeutet wurde und auf diesem Wege zu der langen, zeitlichen Rückwirkung der vollen Erwerbsminderungsrente und damit zu dem langen Überschneidungszeitraum mit dem Arbeitslosengeldbezug führte.
Drittens war der Klägerin von der Beklagten selbst angeraten worden, den Antrag auf volle Erwerbsminderungsrente vom 21.08.2014 zu stellen. In diesem Zusammenhang konnte die Klägerin keinesfalls damit rechnen, dass sie sich letztlich wegen der Erfüllungsfiktion des § 89 Abs. 1 S. 1 SGB VI einer Forderung der Beklagten gegenübersehen würde. Auch hierin ist eine Atypik im Sinn des § 48 Abs. 1 S. 2 SGB X begründet.
Viertens wäre für die Klägerin – jedenfalls aus der laufenden monatlichen Rente in Höhe von 853,92 € – eine Rückzahlung der erhobenen Forderung nur schwer zu bewältigen, sodass auch dieser Gesichtspunkt eine Atypik begründet und im Rahmen der vorzunehmenden Ermessensentscheidung zu berücksichtigen wäre.
Nach Auffassung der hier entscheidenden Kammer (siehe oben im ersten Teil der Entscheidungsgründe) fehlt es jedoch bereits an dem Tatbestandsmerkmal der „Einkommenserzielung“ im Sinn des § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB X, sodass es nach der hier vertretenen Auffassung gar nicht zu einer Ermessensentscheidung kommen kann.
Die hier vertretene Auffassung gründet auch auf folgenden Überlegungen:
Die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 07.09.2010 (B 5 KN 4/08 R), auf welche sich die Beklagte in ihrer Kernaussage immer wieder beruft, ist vor einem völlig anderen sachlichen Hintergrund ergangen: In der dortigen Entscheidung ging es um einen Trägerstreit, nämlich eine Erstattungsforderung der Bundesagentur für Arbeit gegen den Träger der Rentenversicherung. Das Bundessozialgericht bezweckte mit der Entscheidung eine Regelung der Kostenrisikotragung im Innenverhältnis zwischen den Trägern. Die dort entwickelten Grundsätze können keineswegs auf die völlig anders geartete Rechtsbeziehung zwischen dem Sozialleistungsträger und dem Sozialleistungsempfänger übertragen werden, sondern bedürfen der sachgerechten Angleichung und Modifikation.
Insbesondere ist der Gesichtspunkt des schutzwürdigen Vertrauens des Sozialleistungsempfängers maßgeblich mit zu berücksichtigen.
Diesem Umstand wird mit der Vorschrift des § 48 SGB X Rechnung getragen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.


Ähnliche Artikel

BAföG – das Bundesausbildungsförderungsgesetz einfach erklärt

Das Bundesausbildungsförderungsgesetz, kurz BAföG, sorgt seit über 50 Jahren für finanzielle Entlastung bei Studium und Ausbildung. Der folgende Artikel erläutert, wer Anspruch auf diese wichtige Förderung hat, wovon ihre Höhe abhängt und welche Besonderheiten es bei Studium und Ausbildung gibt.
Mehr lesen

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben