Sozialrecht

Streitigkeit um Gewährung von Erwerbsminderungsrente

Aktenzeichen  S 7 R 713/15 A

Datum:
5.12.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 164448
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Landshut
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI § 43, § 240

 

Leitsatz

1. Berufsunfähig sind Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden herabgesunken ist. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
2. Grundsätzlich liegt bei einer Einsatzfähigkeit von mehr als sechs Stunden täglich das Arbeitsmarktrisiko bei der Arbeitslosenversicherung bzw. dem Versicherten, nicht aber bei der Rentenversicherung. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.  

Gründe

Der vorliegende Rechtsstreit kann durch Gerichtsbescheid entschieden werden, da die Sache keine Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt hinreichend geklärt ist, § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Beteiligten sind vorher dazu gehört worden.
Die Klage ist zwar zulässig. Sie ist aber nicht begründet.
Der Kl. hat keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung. Der Bescheid vom 09.02.2015 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 17.07.2015 ist rechtlich nicht zu beanstanden.
Bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres haben Versicherte gemäß § 240 Sozialgesetzbuch (SGB) VI Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit, wenn sie vor dem 02. Januar 1961 geboren und berufsunfähig sind.
Berufsunfähig sind nach § 240 Abs. 2 SGB VI Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden herabgesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Zumutbar ist stets eine Tätigkeit, für die die Versicherten durch Leistungen zur beruflichen Rehabilitation mit Erfolg ausgebildet oder umgeschult worden sind. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.
Gemäß § 43 SGB VI haben Versicherte Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung, wenn sie teilweise oder voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeitragszeiten zurückgelegt und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 1 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Voll erwerbsgemindert nach § 43 Abs. 2 SGB VI sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Bei dem Kläger liegt keine Erwerbsminderung vor. Der Sachverhalt ist in medizinischer Hinsicht aufgrund des Gutachtens der Sozialmedizinerin Dr. D. vom 28.06.2016 und der weiteren ergänzenden Stellungnahmen hinreichend geklärt.
Danach wird die Erwerbsfähigkeit des Klägers zwar durch die festgestellten Gesundheitsstörungen eingeschränkt, jedoch noch nicht in einem solchen Maße, dass er zu dem Zeitpunkt als die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen noch erfüllt waren, nicht mehr in der Lage gewesen wäre, mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Bei dem Kläger liegen im Wesentlichen folgende Gesundheitsstörungen vor: Hals- und lendenwirbelsäulenabhängige Beschwerden bei Zustand nach Rückenmarkschädigung bei Bandscheibenvorfall in Höhe HWK 5/6 und engem Rückenmarkkanal 1996/97 und bei Aufbraucherscheinungen im Bereich der LWS und Nachweis von Bandscheibenschäden in Höhe L5/S1, insulinpflichtiger Diabetes mellitus Typ II mit diabetischer Polyneuropathie (Nervenschädigung) und diabetischer Angiopathie (Gefäßschädigung), Zustand nach Unterschenkelamputation rechts am 19.06.2014 wegen diabetischer Gangrän.
Unter Berücksichtigung aller festgestellten Gesundheitsstörungen war der Kl. noch in der Lage bis zum 19.06.2014 (Zeitpunkt der Unterschenkelamputation) leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten. Quantitative Leistungseinschränkungen zu einem früheren Zeitpunkt, insbesondere an dem die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen noch erfüllt waren, lassen sich nicht begründen.
Das Gericht sieht keinerlei Erfordernis, weitere medizinische Sachverständigengutachten einzuholen. Das Gutachten der Sozialmedizinerin Dr. D. hat alle medizinischen Bereiche abgedeckt. Warum gerade Gutachten nach Aktenlage auf beispielsweise orthopädischem Gebiet nach einem Zeitraum von fast 20 Jahren neue Erkenntnisse bringen sollen – wie die Klbev. meint – ist unklar.
Zudem ist der sehr erfahrenen Klbev. bekannt, dass die Beiziehung von Akten der Bundesagentur für Arbeit (BA) aus dem Zeitraum 1999 bis zur Ausreise des Kl. keinerlei Erfolg haben wird, da die BA Akten und Unterlagen in der Regel nach 5 Jahren aussondert und vernichtet.
Darüber hinaus kommt aber auch keine Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit im Sinne von § 240 SGB VI in Betracht. Nach Maßgabe von § 240 SGB VI ist das oben festgestellte Leistungsvermögen des Klägers zu seinem bisherigen Beruf in Beziehung zu setzen. Maßgeblich ist insoweit die Tätigkeit des Klägers als Zimmerer.
Auf welchen Kreis von Tätigkeiten ein Versicherter verwiesen werden kann – der Verweisungsberuf – bestimmt sich nach der Qualität des bisherigen Berufes eines Versicherten, § 240 Abs. 2 SGB VI. Zur Ermittlung des qualitativen Wertes des bisherigen Berufes hat das BSG in ständiger Rechtsprechung ein Mehrstufenschema entwickelt, das die Arbeiterberufe in vier Gruppen unterteilt. Danach ist der Kläger nach Überzeugung des Gerichts in die niedrigste Gruppe mit dem Leitberuf des ungelernten Arbeiters einzureihen. Auskünfte vom einzigen und letzten Arbeitgeber des Kl. in der Bundesrepublik Deutschland konnten entsprechend der Angabe der Klbev. nicht mehr eingeholt werden, da sowohl der Arbeitgeber des Kl. als auch dessen Rechtsnachfolger bereits verstorben sind. Eine Hochrechnung aus dem im Versicherungsverlauf angegebenen Einkommen zur Einstufung in das Mehrstufenschema des BSG lassen sich, entgegen der Auffassung der Klbev., nicht vornehmen, da sich aus dem erzielten Einkommen die Arbeitszeit und der dadurch erzielte Stundenlohn nicht errechnen lassen. Es ist nämlich völlig unklar, ob und wie viele Überstunden der Kl. geleistet hat. Gerade im Bausektor sind nämlich Überstunden nicht unüblich. Nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast geht dies zu Lasten des Kl. Diese besagen, wer die Beweislast zu tragen hat, wenn sich eine Tatsache nach Ausschöpfung sämtlicher Ermittlungsmöglichkeiten nicht nachweisen lässt. Nach eigenen Angaben der Klbev. sind weitere Ermittlungen beim ehemaligen Arbeitgeber des Kl. aussichtslos, da dieser bzw. sein Rechtsnachfolger bereits verstorben sind. Daher lässt sich nicht mehr ermitteln, welche Tätigkeit der Kl. im Rahmen des Mehrstufenschemas verrichtet hat. Daher bleibt dem Gericht keine andere Wahl, als den Kl. in die Gruppe der ungelernten Arbeiter einzureihen.
Als ungelernter Arbeiter ist dem Kläger die Verweisung auf praktisch alle Berufstätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes zumutbar. Der konkreten Benennung eines Verweisungsberufes bedarf es dabei nicht (vgl. u.a. BSG in SozR 2200 § 1246 RVO Nr. 19).
Daher ist es ohne Belang, dass der Kl. seit dem 07.11.1996 seine Tätigkeit als Zimmerer nicht mehr ausüben konnte.
Grundsätzlich liegt bei einer Einsatzfähigkeit von mehr als sechs Stunden täglich das Arbeitsmarktrisiko bei der Arbeitslosenversicherung bzw. dem Versicherten, nicht hingegen bei der Rentenversicherung. Vor allem liegt bei dem Kläger keine einzelne schwere spezifische Leistungsbehinderung oder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor, die die Fähigkeit des Klägers, körperlich leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten, zusätzlich einschränkt. Es ist nicht erkennbar, dass das bei dem Kläger festgestellte Restleistungsvermögen nicht noch solche körperliche Verrichtungen (wie z.B. Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen, usw.) erlaubt, die bei ungelernten Tätigkeiten üblicherweise gefordert werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183 ff Sozialgerichtsgesetz (SGG).


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