Sozialrecht

Unfallversicherungsrecht: Beweismaßstäbe für Gesundheitsschaden und Kausalität bei zeitlich verzögerter Feststellung eines mit Wahrscheinlichkeit bereits im Unfallzeitpunkt eingetretenen Gesundheitsschadens

Aktenzeichen  L 2 U 18/16

Datum:
22.11.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 36950
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VII § 8 Abs. 1 Satz 2

 

Leitsatz

Das von der beklagten Berufsgenossenschaft postulierte Erfordernis, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachzuweisen, dass der Gesundheits(erst) schaden bereits in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfall eingetreten ist, findet weder im Gesetz noch in der Rechtsprechung des BSG eine Grundlage und würde in allen Fällen, in denen – wie häufig – der sichere Nachweis einer Gesundheitsstörung erst Wochen oder Monate nach dem Unfallereignis gelingt, die Beweiserleichterung hinsichtlich der Kausalität im Sinne des Nachweises mit hinreichender Wahrscheinlichkeit konterkarieren.

Verfahrensgang

S 15 U 31/14 2015-12-14 GeB SGLANDSHUT SG Landshut

Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerin wird unter Abänderung des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts Landshut vom 14.12.2015 und des Bescheides der Beklagten vom 10.06.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.12.2013 die Beklagte verurteilt, der Klägerin wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom 19.01.2012 Verletztenrente nach einer MdE von 20 v. H. für den Zeitraum vom 20.03.2013 bis zum 31.10.2013 zu bezahlen.
II. Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.
III. Die Beklagte hat der Klägerin vier Zehntel ihrer notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufungen sind zulässig, insbesondere wurden sie form- und fristgerecht eingelegt (§§ 105 Abs. 2 Satz 1, 143, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG). Die Berufungen bedürfen gemäß § 144 SGG keiner Zulassung.
Die Berufung der Klägerin ist begründet. Zu Unrecht hat das SG die Klage abgewiesen, soweit sie darauf gerichtet war, unter Abänderung der angefochtenen Bescheide die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 19.01.2012 Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H. für den Zeitraum vom 20.03.2012 bis zum 31.10.2012 zu bezahlen. Die Klage ist insoweit als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 4 SGG statthaft und zulässig. Die Klage ist in diesem Umfang der zuletzt gestellten Klageanträge auch begründet.
Die Berufung der Beklagten ist unbegründet. Zu Recht hat das SG unter Abänderung des Bescheides vom 10.06.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.12.2013 die Beklagte verurteilt, bei der Klägerin als Folge des Schulunfalles vom 19.01.2012 eine muskulär kompensierte Restinstabilität am linken Kniegelenk nach unfallbedingter Ersatzplastik des vorderen Kreuzbandes, eine endgradige Funktionseinschränkung am linken Kniegelenk, eine geringe Muskelminderung am linken Ober- und Unterschenkel sowie einen teilweisen Verlust des Innenmeniskus links und einen partiellen Verlust des Außenmeniskusvorderhorns links anzuerkennen. Insoweit ist eine kombinierte Anfechtungs- und (auf einen feststellenden Verwaltungsakt gerichtete) Verpflichtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 SGG statthaft und zulässig. Zwar hat die Klägerin erstinstanzlich insoweit nicht ausdrücklich einen solchen Antrag gestellt, sondern er wurde vom SG in die Anträge der Klägerin hineininterpretiert. Spätestens mit ihrem Antrag auf Zurückweisung der Berufung der Beklagten vom 22.02.2016 hat aber die Klägerin die Klage im Sinne der erstinstanzlichen Verurteilung erweitert. Diese Klageerweiterung ist gemäß § 99 SGG zulässig, weil sich die Beklagte darauf eingelassen hat, ohne der Klageerweiterung zu widersprechen; sie wäre im Übrigen auch sachdienlich, weil das SG insoweit ein Sachurteil erlassen hat und die Frage der Unfallfolgen durch die Gutachten entscheidungsreif geklärt ist. Die Klage ist im Rahmen der Verurteilung durch das SG auch begründet.
Welche Gesundheitsstörungen dem Unfallversicherungsträger als Unfallfolgen zuzurechnen sind, ist nach der Theorie von der wesentlichen Bedingung zweistufig zu prüfen (ständige Rechtsprechung, vergleiche z. B. BSG, Urteil vom 24.07.2012 Az. B 2 U 9/11 R, Rdnrn. 31 ff.):
Auf der ersten Stufe setzt die Zurechnung voraus, dass die Einwirkung durch die versicherte Verrichtung als Wirkursache objektiv (mit) verursacht wurde. Insoweit ist Ausgangspunkt der Zurechnung die naturwissenschaftlich-philosophische Bedingungstheorie, nach der schon jeder beliebige Umstand als notwendige Bedingung eines Erfolges gilt, der nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (Conditio-sine-qua-non). Nach der im Strafrecht maßgeblichen rechtlichen Zurechnungslehre der „Äquivalenztheorie“ gelten alle solchen notwendigen Bedingungen stets als gleichwertig (äquivalent) und deshalb schon rechtlich als Ursachen (BSG, Urteil vom 13.11.2012 Az. B 2 U 19/11 R = BSGE 112, 177, Rdnr. 34). Wenn festzustellen ist, dass der Versicherungsfall eine (von möglicherweise vielen) Bedingungen für den Erfolg ist, ist auf der ersten Prüfungsstufe weiter zu fragen, ob es für den Eintritt des Erfolgs noch andere Ursachen im Sinne der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie gibt; das können Bedingungen aus dem nicht versicherten Lebensbereich wie z. B. Vorerkrankungen, Anlagen, nicht versicherte Betätigungen oder Verhaltensweisen sein (BSG vom 09.05.2006 Az. B 2 U 1/05 R = BSGE 96, 196, Rdnr. 15).
Erst wenn sowohl der Versicherungsfall als auch andere Umstände als Ursachen des Gesundheitsschadens feststehen, ist auf einer zweiten Prüfungsstufe rechtlich wertend zu entscheiden, welche der positiv festzustellenden adäquaten Ursachen für die Gesundheitsstörung die rechtlich „wesentliche“ ist. Hierzu muss auf der zweiten Stufe die Wirkung rechtlich unter Würdigung auch aller auf der ersten Stufe festgestellten mitwirkenden unversicherten Ursachen die Realisierung einer in den Schutzbereich des jeweils erfüllten Versicherungstatbestandes fallenden Gefahr sein. Hierbei ist zu prüfen, ob sich durch das versicherte Handeln ein Risiko verwirklicht hat, gegen das der jeweils erfüllte Versicherungstatbestand gerade Schutz gewähren soll (BSG, Urteil vom 13.11.2012 Az. B 2 U 19/11 R = BSGE 112, 177, Rdnr. 37). Für die wertende Entscheidung über die Wesentlichkeit einer Ursache hat die Rechtsprechung folgende Grundsätze herausgearbeitet (BSG, Urteil vom 09.05.2006 Az. B 2 U 1/05 R, Rdnr. 15): Es kann mehrere rechtlich wesentliche Mitursachen geben. Sozialrechtlich ist allein relevant, ob das Unfallereignis wesentlich war. Ob eine konkurrierende Ursache es war, ist unerheblich. „Wesentlich“ ist nicht gleichzusetzen mit „gleichwertig“ oder „annähernd gleichwertig“. Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die andere(n) Ursache(n) keine überragende Bedeutung hat (haben) (BSG, SozR Nr. 69 zu § 542 RVO a.F.; BSG, SozR Nr. 6 zu § 589 RVO; Schönberger/ Mehrtens/ Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, Kap. 1.7 S. 21 ff.). Ist jedoch eine Ursache oder sind mehrere Ursachen gemeinsam gegenüber einer anderen von überragender Bedeutung, so ist oder sind nur die erstgenannte(n) Ursache(n) „wesentlich“ und damit Ursache(n) im Sinne des Sozialrechts (BSGE 12, 242, 245 = SozR Nr. 27 zu § 542 RVO; BSG, SozR Nr. 6 zu § 589 RVO). Die andere Ursache, die zwar naturwissenschaftlich ursächlich ist, aber (im zweiten Prüfungsschritt) nicht als „wesentlich“ anzusehen ist und damit als Ursache nach der Theorie der wesentlichen Bedingung und im Sinne des Sozialrechts ausscheidet, kann in bestimmten Fallgestaltungen als „Gelegenheitsursache“ oder Auslöser bezeichnet werden (BSGE 62, 220, 222 f.; BSG SozR 2200 § 548 Nr. 75; BSGE 94, 269 Rdnr. 11). Für den Fall, dass die kausale Bedeutung einer äußeren Einwirkung mit derjenigen einer bereits vorhandenen krankhaften Anlage zu vergleichen und abzuwägen ist, ist darauf abzustellen, ob die Krankheitsanlage so stark oder so leicht ansprechbar war, dass die „Auslösung“ akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte, sondern dass jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zu derselben Zeit die Erscheinung ausgelöst hätte (BSGE 62, 220, 222 f.; BSGE 94, 269 Rdnr. 11).
Die als Unfallfolgen anzuerkennenden Gesundheitsschäden müssen nach allgemeinen Grundsätzen im Vollbeweis feststehen, d.h. es ist ein der Gewissheit nahe kommender Grad der Wahrscheinlichkeit bzw. ein für das praktische Leben brauchbarer Grad an Gewissheit erforderlich. Für den Zusammenhang zwischen Unfall und Gesundheitsschaden genügt dagegen eine hinreichende Wahrscheinlichkeit; diese liegt vor, wenn nach der medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung zu Ätiologie und Pathogenese den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein deutliches Übergewicht zukommt (Keller, in: Hauck/ Noftz, SGB VII, Stand 06/18, zu § 8 SGB VII Rdnrn. 333 f. mit Nachweisen aus der Rspr.).
Die Unfallfolgen, zu deren Feststellung das SG die Beklagte verurteilt hat, ergeben sich aus den überzeugenden Gutachten der beiden gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr. M. und Dr. X. und stehen auch im Einklang mit der von Dr. F. als Operateur und D-Arzt geäußerten Auffassung vom 27.06.2013.
Der Senat hält es demnach für deutlich überwiegend wahrscheinlich, dass die Anfang August 2012 diagnostizierte vordere Kreuzbandteilruptur sowie die Meniskusschäden durch den versicherten Skiunfall vom 19.01.2012 verursacht worden sind, wobei von folgendem Kausalverlauf auszugehen ist: Unmittelbar durch den Unfall vom 19.01.2012, der mit einer Distorsion des linken Knies verbunden war, kam es zu einer Teilruptur des vorderen Kreuzbandes. Bezüglich der Menisken des betroffenen Kniegelenks kam es entweder bereits unmittelbar im Zeitpunkt des Unfalles zu Einrissen, die sich eventuell im weiteren Verlauf verstärkten, oder die Risse sind erst in der Folgezeit entstanden, da die durch eine Kreuzbandteilruptur entstandene Instabilität typischerweise im weiteren Verlauf zu derartigen Meniskuseinrissen führt, wie insbesondere Dr. M. ausführlich und überzeugend dargelegt hat.
Die Tatsache, dass die Klägerin unmittelbar nach dem Unfall in der Lage war, sich noch eine Stunde auf der Piste aufzuhalten und insbesondere zur Talstation abzufahren und dass sie den Rest des Schuljahres am Sportunterricht teilgenommen hat, spricht nach den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen Dr. M. und Dr. X. sowie des Orthopäden Dr. F. nicht entscheidend gegen die Annahme, dass die Kreuzbandteilruptur bereits am 19.01.2012 eingetreten ist. Denn da das Kreuzband nicht vollständig, sondern nur teilweise gerissen war und insbesondere die Seitenbänder intakt geblieben waren, ist mit großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Klägerin insbesondere aufgrund Ihres jugendlichen Alters und einer gut trainierten Muskulatur in der Lage war, die sich aus der Teilruptur ergebende Instabilität weitgehend zu kompensieren. Trotzdem hatte sie weiterhin durchgehend Beschwerden am linken Knie. Der Senat hält insoweit die Aussagen der Klägerin und ihrer Mutter für glaubhaft, dass sie nach dem Unfall nie völlig beschwerdefrei war, dass sie beim Schulsport gelegentlich pausieren musste und dass nach dem Schulsport gelegentlich Schwellungen auftraten, die erneut mit Quarkwickeln behandelt wurden. Wie insbesondere der Sachverständige Dr. X. eindrucksvoll dargelegt hat, laufen Fußballspieler mit ähnlichen Verletzungen nicht nur noch das ganze Spiel, sondern sogar oft noch eine ganze Saison oder länger weiter. Andere Ursachen sind für die Kreuzbandteilruptur nicht bekannt und nach Auffassung des Senats höchst unwahrscheinlich. Die Auskunft des Hausarztes Dr. H. vom 08.07.2013 hat keine früheren Beschwerden des Kniegelenks ergeben. Eine degenerative Ursache hat der Sachverständige Dr. M. ausgeschlossen. Der Senat hält auch die Einschätzung der Klägerin für glaubhaft, dass außer dem Unfall vom 19.01.2012 kein anderes Ereignis als Ursache der Kreuzbandteilruptur in Betracht komme. Entscheidend für die Glaubhaftigkeit der Einschätzung der Klägerin ist der Umstand, dass bereits in der ersten ärztlichen Behandlung nach dem Vorfall beim Fußballspiel am 27.07.2012 bei Dr. F. in dessen D-Arzt-Berichten vom 30.07.2012 vermerkt ist, dass die Klägerin angegeben habe, dass sie beim Skifahren mit einer anderen Skifahrerin zusammengestoßen und gestürzt sei und seither Schmerzen im linken Kniegelenk habe. Die Schmerzen durch den Sturz seien zwar nach einer Woche besser geworden, jedoch nie richtig abgeklungen. Es ist für den Senat hochgradig unwahrscheinlich, dass diese eindeutig dokumentierte Aussage der Klägerin am 30.07.2012 eine bewusst unwahre Aussage darstellte. Wenn es die Klägerin darauf abgesehen hätte, Ansprüche gegen die Beklagte geltend zu machen, hätte sie sich schon allein aus diesem Grunde in der Zeit vom 19.01.2012 bis zum 27.07.2012 in ärztliche Behandlung begeben und alles getan, um die Verletzungsfolgen des Schulunfalles zu dokumentieren; im Übrigen wäre es für sie dann viel leichter gewesen, bei der Untersuchung durch Dr. F. am 30.07.2012 das ebenfalls versicherte Fußballspiel (mit Unebenheit, Vertreten usw.) als Ursache zu nennen. Dass sie nun beim ersten Arztbesuch, der durch das erstmals für die Klägerin dramatische Ereignis vom 27.07.2012 unabweisbar geworden war, sofort und spontan auf die seit der Knieverletzung vom Januar durchgehend bestehenden Beschwerden hingewiesen hat, spricht eindeutig für die Glaubhaftigkeit dieser Aussage und für das Vorhandensein durchgehender Beschwerden. Das Gericht hat keinen Anlass, an der Richtigkeit dieser Aussage zu zweifeln, zumal auch dem D-Arzt Dr. F. die Schilderung völlig glaubhaft erschien, weshalb er sich später für einen entsprechenden Kausalzusammenhang ausgesprochen hat.
Auch das Schreiben des Schulleiters der staatlichen Realschule T., M., vom 29.10.2015 an die Beklagte kann nicht als Argument gegen die Glaubwürdigkeit der Klägerin oder gegen den hier für überwiegend wahrscheinlich angenommenen Kausalverlauf herangezogen werden. Zwar hat darin der Schulleiter ausgeführt, laut Auskunft von C., der Sportlehrerin der Klägerin im Schuljahr 2011/12, die jedoch nicht mit ins Skilager gefahren war, habe man in den Zeiträumen von September 2011 bis 14.01.2012 und vom 21.01.2012 bis 26.07.2012 beobachten können, dass die Klägerin während des Sportunterrichts sehr häufig eine Kniebandage getragen und sich aber trotzdem aktiv am regulären Sportunterricht beteiligt habe. Durch persönliche Befragung der inzwischen im Ruhestand befindlichen früheren Sportlehrerin C. in der mündlichen Verhandlung vom 22.11.2018 konnte jedoch das Zu-Stande-Kommen dieser Angaben nicht geklärt werden. Die Zeugin konnte sich selbst nicht mehr daran erinnern, ob sie die Klägerin überhaupt mit einer Kniebandage gesehen habe, weil dies schon zu lange her gewesen sei. Sie hat auch angegeben, über derartige Umstände keine Vermerke angefertigt zu haben, es sei denn, dass jemand keine Sportnote bekommen habe. Dies wäre aber angesichts der zugleich von der Realschule bestätigten Teilnahme der Klägerin am Sportunterricht bis einschließlich Juni 2012 nicht nachvollziehbar. Frau C. hat weiter ausgesagt, sie könne sich auch nicht erinnern, ob die Klägerin vor oder nach dem Skilager über Schmerzen im Knie geklagt habe. Der Senat geht davon aus, dass die genaue Angabe der Zeiträume im Schreiben des Schulleiters M. nicht von der Zeugin C. selbst stammte, sondern lediglich aus der entsprechenden Fragestellung seitens der Beklagten in deren Schreiben vom 22.10.2015 übernommen worden war, das der Beklagtenvertreter in der mündlichen Verhandlung vorgelegt hat, wobei beim Inhalt der Antwort nicht zwischen den beiden Zeiträumen differenziert wurde. Zusammenfassend kann der Aussagewert des Schreibens des Schulleiters M., das fast vier Jahre nach dem Unfall entstanden war, nicht mehr geklärt werden und ist jedenfalls höchst zweifelhaft.
Dass die zunächst von der Klägerin relativ gut muskulär kompensierbare Instabilität sich ab dem Ereignis vom 27.07.2017 immer stärker funktionell auswirkte, hat bereits Dr. F. in seiner Stellungnahme nachvollziehbar damit erklärt, dass infolge der Meniskusteilresektion sowie der durch die Arthroskopien erforderlichen körperlichen Schonung und dem damit verbundenen Muskelabbau eine muskuläre Kompensation der Instabilität immer schwieriger wurde.
Das Gutachten des Dr. S. vom 25.12.2012, der einen Kausalzusammenhang zwischen dem Sturz vom 19.01.2012 und den späteren Beschwerden der Klägerin verneinte, konnte den Senat schon deshalb nicht überzeugen, weil Dr. S. in wesentlicher Hinsicht von falschen Tatsachen ausgegangen war. So hat Dr. S. angenommen, dass die unfallbedingten Beschwerden bereits zwei Tage nach dem Sturz weitgehend abgeklungen gewesen seien, dass die Klägerin noch eine Woche nach dem Unfall im Skilager gewesen sei und dass sie nach dem Unfall auch wieder Leichtathletik im Verein betrieben habe. Demgegenüber hat die Klägerin für das Gericht glaubhaft angegeben, nach dem Unfall nie mehr völlig beschwerdefrei gewesen zu sein. Das Skilager endete nachgewiesen am Tag nach dem Unfall, so dass die Klägerin nur noch eine Stunde nach dem Unfall weiterfahren musste und nicht eine ganze Woche. Außerdem ist durch die Auskunft der Leichtathletik-Gemeinschaft P. vom 05.07.2013 geklärt worden, dass die Klägerin bereits geraume Zeit vor dem Unfall dort nicht mehr weiter trainiert hatte.
Der abweichenden Auffassung des Beratungsarztes Dr. L. in dessen Stellungnahme vom 31.12.2015 ist der Senat aus folgenden Gründen nicht gefolgt: Erstens hat sich Dr. L. nicht ausreichend mit den Argumenten der Sachverständigen Dr. M. und Dr. X. auseinandergesetzt. Zweitens hat Dr. L. die nach dem Skiunfall und der Abheilung der ersten Schwellung weiter bestehenden Beschwerden nicht ausreichend gewürdigt bzw. verharmlost. Drittens steht Dr. L. als Beratungsarzt auf der Seite der Beklagten, so dass im Zweifel seiner Aussage nicht das gleiche Gewicht zukommt wie derjenigen eines unabhängigen Gerichtssachverständigen. In diesem Zusammenhang ist auch anzumerken, dass der Sachverständige Dr. X. zwar auf Antrag und Kosten der Klägerin bestellt worden war, jedoch bereits zuvor in einem für die private Unfallversicherung erstellten Gutachten vom 29.05.2013 die gleiche Auffassung vertreten hatte.
Da keine konkurrierenden unversicherten Ursachenbeiträge ersichtlich sind, ist die Kausalität des Unfalls für die Entwicklung der Kniegelenksschäden auch wesentlich.
Nicht erforderlich ist es, den unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang der über sechs Monate nach dem Unfall diagnostizierten Kreuzbandteilruptur im Vollbeweis festzustellen Auch wenn man die Kreuzbandteilruptur als Gesundheitserstschaden ansieht, ist ein solcher Beweis nicht zu fordern. Nur für die äußerlich feststellbaren Tatbestandsmerkmale versicherte Tätigkeit, Verrichtung zur Zeit des (Unfall-)Ereignisses, Gesundheits(erst) schaden und Unfallfolge fordert das BSG als Beweismaß die annähernde Gewissheit nach § 286 ZPO, während für die Zurechnungs- bzw. Kausalitätsfeststellungen eine hinreichende Wahrscheinlichkeit als ausreichend angesehen wird (vgl. hierzu in Abgrenzung zum Zivilrecht Becker, in: MedSach 2011, S. 32 ff., 34). Der herabgesetzte Beweismaßstab hinreichende Wahrscheinlichkeit zur Feststellung der Ursachenzusammenhänge in der gesetzlichen Unfallversicherung wurde schon vom Reichsversicherungsamt entwickelt und geht als spezialgesetzliches Recht den allgemeinen Regeln zu den Beweismaßstäben vor (vgl. Becker, in MedSach 2011 S. 32 ff., 35). Das von der beklagten Berufsgenossenschaft postulierte Erfordernis, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachzuweisen, dass der Gesundheits(erst) schaden bereits in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfall eingetreten ist, findet weder im Gesetz noch in der Rechtsprechung des BSG eine Grundlage und würde in allen Fällen, in denen – wie häufig – der sichere Nachweis einer Gesundheitsstörung erst Wochen oder Monate nach dem Unfallereignis gelingt, die Beweiserleichterung hinsichtlich der Kausalität im Sinne des Nachweises mit hinreichender Wahrscheinlichkeit konterkarieren. Es widerspricht dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung sowie der Rechtsprechung des BSG, einen engen zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der Feststellung einer Gesundheitsstörung nicht nur als wichtiges Indiz sondern als zwingendes Kriterium zu fordern.
Wie der Senat bereits mit Urteil vom 18.10.2017 (Az. L 2 U 451/15) entschieden hat, ist es nicht erforderlich, eine Unfallfolge mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als „Erstschaden“ festzustellen. Es genügt, wenn eine erst Jahre später festgestellte Verletzung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf den Unfall zurückzuführen ist. Davon abgesehen, hat die Beklagte selbst eine Prellung als Erstschaden im angefochtenen Bescheid festgestellt.
Bezüglich der Höhe der MdE folgt das Gericht dem Gutachten des Sachverständigen Dr. M.. Das SG, das sich auch auf Dr. M. berufen hat, hat übersehen, dass auf Seite 25 des Gutachtens des Sachverständigen Dr. M. im Anschluss an die Kreuzbandersatzplastik-OP vom 20.03.2013 eine vierwöchige Schulunfähigkeit und anschließend eine 6-monatige MdE von 20 v.H. befürwortet wurde. Daraus ergibt sich eine Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H. für die Zeit vom 20.03.2013 bis zum 31.10.2013, weil die Rente gemäß § 73 Abs. 2 SGB VII bis zum Ende des Monats geleistet wird, in dem die Voraussetzungen ihrer Gewährung weggefallen sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision ist nicht zuzulassen, da weder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat noch das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).


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