Sozialrecht

Versicherungsschutz, Verkehrsunfall, Fahrtrichtung, Unfallzeitpunkt

Aktenzeichen  S 9 U 325/18

Datum:
17.7.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 56526
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Landshut
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGG § 136 Abs. 2

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage gegen den Bescheid vom 26.10.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.11.2018 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig, in der Sache aber nicht erfolgreich. Die angefochtenen Verwaltungsakte der Beklagten sind rechtmäßig, denn der Kläger befand sich zum Zeitpunkt des Unfallereignisses vom 09.02.2018 nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.
Gemäß § 8 Abs. 1 Sozialgesetzbuch VII (SGB VII) sind Arbeitsunfälle Unfälle, die ein Versicherter in Folge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 und 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherten Tätigkeit) erleidet. Für einen Arbeitsunfall ist in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innere bzw. sachlicher Zusammenhang), dass diese Verrichtung zu einem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis – dem Unfallereignis – geführt hat (Unfallkausalität), und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität).
Zu den versicherten Tätigkeiten zählt nach § 8 Abs. 2 Nr.1 SGB VII auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit. Für Unfälle auf Wegen gilt, dass das Zurücklegen von Wegen in aller Regel nicht die Ausübung der versicherten Tätigkeit selbst darstellt, sondern eine der versicherten Tätigkeit vor- oder nachgelagerte Tätigkeit ist, die zu der eigentlichen Tätigkeit, weswegen das Beschäftigungsverhältnis eingegangen wurde, in einer mehr (z. B. bei Betriebswegen) oder weniger engen Beziehung (zum Beispiel Weg zur Arbeit) steht.
Der Gesetzgeber hat, wie sich aus dem Wortlaut der Norm bereits ergibt, nicht schlechthin jeden Weg unter Versicherungsschutz gestellt, der zur Arbeitsstätte hinführt oder von ihr aus angetreten wird. Erforderlich ist demgegenüber, dass der Weg mit der versicherten Tätigkeit rechtlich zusammenhängt, d. h., dass ein innerer Zusammenhang zwischen dem Weg und der Tätigkeit besteht. Dieser innere Zusammenhang setzt voraus, dass die Zurücklegung des Weges wesentlich dazu dient, den Ort der Tätigkeit oder nach deren Beendigung – in der Regel – die eigene Wohnung oder einen anderen Endpunkt des Weges von dem Ort der Tätigkeit zu erreichen. Maßgebliches Kriterium für die wertende Entscheidung über diesen inneren Zusammenhang ist die Handlungstendenz des Versicherten, so wie sie insbesondere durch objektive Umstände des Einzelfalls bestätigt wird. Sobald allein eigenwirtschaftliche (private) Zwecke verfolgt werden, wird der Versicherungsschutz unterbrochen, bis die Fortbewegung auf das ursprüngliche Ziel hin wieder aufgenommen wird.
Hinsichtlich des Beweismaßstabs gilt, dass die versicherte Tätigkeit, der Unfall und die Gesundheitsschädigung im Sinn des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein müssen. Bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens muss der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden können (vgl. BSG, Urteil vom 30.04.1985 – 2 RU 43/84). Der ursächliche Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht, der nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, muss dagegen grundsätzlich nur mit „hinreichender Wahrscheinlichkeit“ – nicht allerdings als bloße Möglichkeit – feststehen. Eine solche Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn nach vernünftiger Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Faktoren ein deutliches Übergewicht zukommt, so dass darauf die richterliche Überzeugung gestützt werden kann (BSG, BSGE 45, 285; 60, 58).
Unter Anwendung dieser Grundsätze ist die Kammer zu der Überzeugung gelangt, dass die Beklagte zu Recht die Anerkennung eines Arbeitsunfalls abgelehnt hat. Der Kläger gehörte zwar zum Unfallzeitpunkt am 09.02.2018 gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII zum Kreis der unfallversicherten Personen. Zudem steht fest, dass er sich bei dem Unfall einen Gesundheitsschaden zugezogen hat, nämlich eine traumatische Amputation des linken Oberarms und einen Bruch der 4. Rippe links. Allerdings ist der Weg, auf dem der Kläger im Unfallzeitpunkt fuhr, als nicht versicherter Abweg in entgegengesetzter Richtung zum Ziel (hier: seiner Wohnung) zu qualifizieren, d. h. als Unterbrechung des versicherten Rückwegs mit anderer Zielrichtung. Auf die zutreffenden Ausführungen im Bescheid vom 26.10.2018 und im Widerspruchsbescheid vom 26.11.2018 wird verwiesen. Von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe wird diesbezüglich abgesehen, da die Kammer die Klage aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist (§ 136 Abs. 3 SGG).
Ergänzend wird lediglich ausgeführt, dass der Vortrag der Klägerseite, sowie das Ergebnis der Beweisaufnahme im gerichtlichen Verfahren keine andere Bewertung rechtfertigten.
Selbst wenn unterstellt wird, dass der Kläger sich unmittelbar vor dem Unfallereignis mit der subjektiven Handlungstendenz fortbewegte, seine Wohnung zu erreichen, konnte diese Handlungstendenz allein keinen Versicherungsschutz im Sinne der Wegeunfallversicherung auf der zum Unfallzeitpunkt zurückgelegten Wegstrecke begründen. Denn der Kläger befand sich zum Zeitpunkt des Unfalls nicht auf dem grundsätzlich unter Unfallversicherungsschutz stehenden direkten Weg. Umstände, die ausnahmsweise den Versicherungsschutz begründen könnten, sind nicht hinreichend belegt. Die Nichterweislichkeit dieser Umstände geht nach den Grundsätzen der Beweislastverteilung zulasten des Klägers.
Aus dem vom Gesetz geforderten unmittelbaren Zusammenhang zwischen Weg und versicherter Tätigkeit folgt zwar nicht, dass der Versicherte ausschließlich auf dem streckenmäßig kürzesten Weg von und zu der Arbeitsstätte geschützt ist. Eine unschädliche Abweichung vom kürzesten Weg liegt aber nur dann vor, wenn sie unbedeutend ist. Dabei hängt die Frage, ob ein Ab-/Umweg im Verhältnis zur kürzesten Wegverbindung als erheblich anzusehen ist, nicht allein von der Länge der zu vergleichenden Wegstrecken ab. Es sind dabei vielmehr alle nach der allgemeinen Verkehrsanschauung maßgeblichen Umstände in Betracht zu ziehen, insbesondere das gewählte Verkehrsmittel und die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit, im Hinblick auf dieses Verkehrsmittel einen bestimmten Weg einzuschlagen, um möglichst schnell und sicher die Arbeitsstätte bzw. die Wohnung zu erreichen (BSG Urteil vom 22.01.1957, 2 RU 92/55). Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG ist bei Bestehen bestimmter allein durch die objektiven Verkehrsverhältnisse geprägter Umstände (Staub, schlechter Weg, schlechte Sicht oder ähnliches) auch die längere Wegstrecke unter den Versicherungsschutz gestellt. Ist ein eingeschlagener Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit insbesondere weniger zeitaufwendig, sicherer, übersichtlicher, besser ausgebaut oder kostengünstiger als der entfernungsmäßig kürzeste Weg, steht auch dieser längere Weg unter Versicherungsschutz (BSG Urteil vom 11.09.2001, B 2 U 34/00 R).
Wie von dem Kläger angegeben, führte sein Hinweg üblicherweise über die ST 001 auf die ST 002 nach St. E. (ohne Überquerung der D.). In der vom Kläger vorgelegten Google-Auskunft wird diese Strecke mit 26,2 km ausgewiesen. Die vom Kläger beschriebenen Rückweg-Varianten mit Überquerung der D. stellen eine bedeutende Abweichung des Weges dar, da sich hierdurch die Wegstrecke auf 38 km bzw. 50,9 km verlängert (vgl. Google-Auskunft). Objektive Gründe dafür, die angegebene, grundsätzlich versicherte Hinwegstrecke bei der Rückfahrt nicht zu nehmen, sind nicht ersichtlich. So sind Gefahren, die mit der besonderen Art des Weges verbunden und möglicherweise der Grund für ein irrtümliches Befahren der Wegstrecke gewesen sein könnten (z. B. Sichtbehinderung durch Nebel oder dergleichen) nicht (mehr) feststellbar. Zum einen konnte der Kläger auf Grund von Erinnerungslücken keine Gründe für die gewählte Streckenführung nennen. Zum anderen ergeben sich weder aus den Angaben des Zeugen C. bei der polizeilichen Vernehmung unmittelbar nach dem Verkehrsunfall am 09.02.2018, noch aus seinen Ausführungen bei der Zeugeneinvernahme in Termin vom 17.07.2019 Hinweise auf witterungsbedingt eingeschränkte Sichtverhältnisse. Der Zeuge C. fuhr, wie er glaubhaft darlegte, mit seinem Lkw ab dem Kreisverkehr in „B.“ bis zur Unfallstelle mit einer Geschwindigkeit von etwa 60 – 65 km/h unmittelbar hinter dem Fahrzeug des Klägers. Dabei hielt er wegen einem auffälligen Fahrverhalten des Klägers, auf das er bereits bei seiner polizeilichen Vernehmung unmittelbar nach dem Unfall hingewiesen hatte, einen „Sicherheitsabstand“ von etwa 100 m ein. Hätte eine Sichtbehinderung durch Nebel bestanden, wäre die Fahrweise entsprechend anzupassen gewesen; hiervon wurde jedoch nicht berichtet. Die Angaben des Zeugen C. sind glaubhaft, denn die Auswertung des Fahrzeugschreibers des Lasters des Zeugen im Rahmen des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens hat eine Geschwindigkeit von 60 km/h zum Unfallzeitpunkt ergeben.
Im Übrigen lassen die vorgelegten Aufnahmen (hier: Fotos der Feuerwehr B., Aufnahme in Fahrtrichtung des Klägers bzw. Bildausschnitte aus dem Kurznachrichten-Film D. TV, Aufnahme entgegen der Fahrtrichtung des Klägers), insbesondere im Hinblick auf den Zeitpunkt und den Standort der Aufnahmen, nicht die Schlussfolgerung zu, dass im Ortsteil „H.“ eine Sichtbehinderung durch Nebel bestand, die dazu geführt haben könnte, dass der Kläger irrtümlicherweise die Ausfahrt/Abzweigung von der ST 001 auf die ST 002 übersehen hätte. Nichts anderes ergibt sich aus den Ausführungen der Lebensgefährtin des Klägers. Diese konnte zwar bestätigen, dass es in den Morgenstunden des angeschuldigten Unfalltags gegen 6:45 Uhr an dem gemeinsamen Wohnort neblig war. Eine Beschreibung der Sichtverhältnisse bei der oben genannten Abzweigung zum Zeitpunkt, als der Kläger diese passierte, resultiert hieraus nicht.
Eine weitere Beweisaufnahme, namentlich die Beauftragung des Deutschen Wetterdienstes mit der Erstellung eines Gutachtens über die konkreten Witterungsverhältnisse bei der Abzweigung der ST 001auf die ST 002 zum Zeitpunkt des Unfalls, war nach Überzeugung der Kammer im Hinblick auf die Ausführungen des Zeugen C. nicht veranlasst.
Im Ergebnis steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass der Verkehrsunfall vom 09.02.2018 nicht als entschädigungspflichtiger Versicherungsfall anerkannt werden kann, da sich der Kläger zum Zeitpunkt des Unfalls auf einem nicht versicherten „Abweg“ befunden hat. Die angefochtenen Bescheide sind nicht rechtswidrig und deshalb nicht zu beanstanden. Die Klage ist als unbegründet abzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.


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