Sozialrecht

Voraussetzungen einer Erwerbsminderungsrente

Aktenzeichen  L 19 R 359/10

Datum:
27.7.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 132486
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI § 43 Abs. 1, Abs. 2

 

Leitsatz

Zu den Voraussetzungen einer Erwerbsminderungsrente.
Der Nachweis des Absinkens des quantitativen Leistungsvermögens auf täglich unter 6 Stunden – trotz Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen – ist im Zweifel vom Versicherten zu erbringen. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 8 R 684/04 2006-08-23 Urt SGWUERZBURG SG Würzburg

Tenor

I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 23.08.2016 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Der Senat konnte durch Urteil ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG – entscheiden, weil die Beteiligten hiermit einverstanden waren. Sie wurden vorher gehört.
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 SGG). Sie ist jedoch unbegründet. Das Sozialgericht hat im Ergebnis zu Recht einen Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente nach § 43 SGB VI verneint. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente, weil nicht nachgewiesen werden konnte, dass die Klägerin bis spätestens September 2007 in ihrem Leistungsvermögen zeitlich auf unter 6 Stunden täglich eingeschränkt war.
Gemäß § 43 Abs. 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie
1.teilweise erwerbsgemindert sind,
2.in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung haben und
3.vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Teilweise erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes für mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente sind bei der Klägerin längstens bis September 2007 gegeben, so dass eine spätere Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes zwar möglich bzw. denkbar wäre, jedoch einen Rentenanspruch nicht mehr zu begründen vermag.
Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass ein Nachweis für eine Einschränkung des quantitativen Leistungsvermögens der Klägerin auf unter 6 Stunden täglich in dem hier relevanten Zeitraum von April 2004 bis September 2007 nicht geführt werden konnte. Zumindest in der hier streitigen Zeit war die Klägerin trotz der bei ihr bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen in der Lage, mindestens 6 Stunden täglich leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes zu verrichten, wenn auch unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen.
Der Senat kommt zu dieser Überzeugung aufgrund des im Verwaltungsverfahrens eingeholten Gutachtens von Dr. S., der die Klägerin persönlich im Jahr 2004 untersucht hatte, ferner aufgrund der eingeholten Befundunterlagen, die doch erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung erlangt werden konnten und dem darauf basierenden Sachverständigengutachten nach Aktenlage von Dr. I. vom 08.06.2016.
Dr. I. legt in seinem Gutachten für den Senat nachvollziehbar dar, welche gesundheitlichen Einschränkungen bei der Klägerin ab dem Jahr 2004 vorgelegen haben und leitet dies aus den vorliegenden Befundberichten ab. Schwerpunkt der orthopädischen Leiden waren die Wirbelsäule, beide Knie und der linke Fuß, eine Schmerzhaftigkeit im Bereich des rechten Schultergelenkes, arthrotische Veränderungen an den Händen und Fingern, bei denen jedoch keine Funktionseinschränkungen dokumentiert sind. Die gesundheitlichen Einschränkungen im Bereich der oberen Extremitäten führen zu qualitativen Einschränkungen hinsichtlich der Schwere der Tätigkeiten und bei Zwangshaltungen.
Bedeutsamer sind die gesundheitlichen Einschränkungen bei den unteren Extremitäten. Hier ist eine wiederholte Schwellneigung beider Knie dokumentiert bei nachgewiesenen Verschleißerscheinungen. Beide Kniegelenke waren aber frei von entzündlichen Veränderungen, komplett streckbar und weit über einen Winkel von 90 Grad hinaus beugbar. Das linke Sprunggelenk war seiner Beweglichkeit eingeschränkt, ohne dass dies jedoch Auswirkungen auf das Gangbild gehabt hätte. Der Klägerin wäre zwar keine dauerhaft stehende oder gehende Tätigkeit zuzumuten gewesen, aber eine mindestens 6stündige Tätigkeit im Sitzen oder im Wechselrhythmus hätte sie durchaus bewältigen können. Die Wegefähigkeit der Klägerin war erhalten, obwohl sie mit einem Gehstock wegen der Beschwerden am linken Sprunggelenk und ihrer Wirbelsäule versorgt war. Hinsichtlich der Wirbelsäule sind Abnutzungserscheinungen dokumentiert, die von der Klägerin eingenommenen Medikamente bestätigen die Tatsache des Vorhandenseins von Rückenschmerzen. Eine wesentliche Funktionseinschränkung der Wirbelsäule ist trotz des dokumentierten Bandscheibenvorfalls nicht festzustellen gewesen.
Wirbelsäulenveränderungen der bei der Klägerin in der Zeit bis September 2007 vorliegenden Art könnten zwar immer wieder zu stärkeren Schmerzen führen und ärztliche Behandlungen erfordern. Sie schränkten auf Dauer aber das Leistungsvermögen der Klägerin lediglich hinsichtlich der Schwere der Arbeit und der Körperhaltung ein. Einer körperlich leichten Tätigkeit stünden diese aber nicht im Wege. Anhaltspunkte für weitere Verschleißerscheinungen in der HWS sind nicht dokumentiert.
Hinsichtlich des Hörvermögens der Klägerin ist im Dezember 2007 im Rahmen einer HNOärztlichen Untersuchung rechts eine mittelgradige Schwerhörigkeit, links eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit festgestellt. Dies bedeutet aber lediglich, dass eine Tätigkeit mit Wahrnehmung kommunikativer Aufgaben (Kundenkontakte, häufiges Telefonieren) unzweckmäßig gewesen wäre. Ein Ausgleich im Wege einer Hörgeräteversorgung ist nicht dokumentiert. Wegen der Neigung zu Ohrentzündungen wären auch Tätigkeiten unter ungünstigen klimatischen Bedingungen ausgeschlossen gewesen. Dies führt aber ebenfalls lediglich zu der qualitativen Einschränkung der Arbeitsbedingungen dahingehend, dass die Klägerin in geschlossenen Räumen und unter Vermeidung ungünstiger Witterungseinflüsse hätte tätig werden müssen. Ob in der hier interessierenden Zeit eine klinisch relevante Gesichtsnervenlähmung vorgelegen haben könnte, lässt sich nach den Ausführungen von Dr. I. in seinem Sachverständigengutachten vom 08.06.2016 nicht mehr feststellen. Bei Dr. S. wurde eine solche Gesichtslähmung nicht erwähnt, auch nicht bei anderen Untersuchungen in der fraglichen Zeit.
Bei den sonstigen Erkrankungen auf internistischem Fachgebiet (paroxysmale supraventrikuläre Tachykardien) und COPD handelt es sich ebenfalls nur um Erkrankungen, die qualitative Leistungseinschränkungen begründet hätten. Aus den vorliegenden Befundberichten ergibt sich eine Belastbarkeit der Klägerin bis 125 Watt mit normalen Funktionswerten. Gleiches gilt für die Augenerkrankung der Klägerin (Glaukom und Kurzsichtigkeit). Hierdurch wären nur Tätigkeiten mit besonderen Anforderungen an das Sehvermögen ausgeschlossen, etwa Tätigkeiten mit Feinmontagen o.ä. Aufgrund einer zwischenzeitlich durchgeführten Augen-OP betrage der Visus beidseitig mittlerweile wieder 0,8, so dass auch von einer Behandlungsfähigkeit dieser Einschränkung auszugehen gewesen wäre.
Der Senat schließt sich den Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen Dr. I. in vollem Umfang an. Die von Dr. I. aufgrund der vorliegenden Akten und Befundberichte festgestellten Leistungseinschränkungen der Klägerin entsprechen ihrer eigenen Begründung des Rentenantrags, bei dem sie auf die Schultererkrankung, den Bluthochdruck und ihre Augenerkrankung hingewiesen hat. Sie entsprechen den Feststellungen von Dr. S. im Verwaltungsverfahren, die dieser nach persönlicher Untersuchung der Klägerin am 30.06.2004 gewonnen hatte. Soweit sich im Verfahren Hinweise auf eine psychische Problematik ergeben haben könnten, ist nicht auszuschließen, dass dies in unmittelbarem Zusammenhang mit der Prozessführung durch den Ehemann der Klägerin und die zu beobachtende Vermischung von Rechtsstreitigkeiten zu werten gewesen wäre. Eine entsprechende fachärztliche Behandlung der Klägerin ist letztlich nicht dokumentiert. Wenngleich es vorliegend durchaus problematisch erscheint, dass aufgrund der langen Dauer des Verfahrens nicht ausgeschlossen werden kann, dass die gesundheitlichen Einschränkungen der Klägerin gegebenenfalls doch schwerer gewesen sein könnten, sieht der Senat keine weiteren Ermittlungsmöglichkeiten, so dass vorliegend nach der objektiven Darlegungs- und Beweislast zu entscheiden war. Der Nachweis des Absinkens des quantitativen Leistungsvermögens auf täglich unter 6 Stunden – trotz Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen – ist im Zweifel von der Klägerin zu erbringen. Ein unter 6stündiges Leistungsvermögen für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes in der Zeit zwischen April 2004 und September 2007 ist nicht nachgewiesen.
Ein Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 SGB VI kommt vorliegend ebenfalls nicht in Betracht. Zwar fällt die Klägerin aufgrund ihres Alters unter den Regelungsbereich dieser Vorschrift. Sie hat jedoch keine Berufsausbildung absolviert und kann deshalb auch keinen Berufsschutz im Sinne des § 240 SGB VI beanspruchen. Sie ist grundsätzlich auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar.
Nach alledem war die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 23.08.2006 als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.


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