Sozialrecht

Voraussetzungen einer Erwerbsminderungsrente

Aktenzeichen  L 19 R 493/11

Datum:
28.9.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 124517
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI § 43 Abs. 1, Abs. 2, § 240

 

Leitsatz

Zu den Voraussetzungen einer Erwerbsminderungsrente.

Verfahrensgang

S 3 R 367/10 2011-04-26 GeB SGBAYREUTH SG Bayreuth

Tenor

I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 26.04.2011 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Sie ist jedoch unbegründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Gemäß § 43 Abs. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie
1. teilweise erwerbsgemindert sind,
2. in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung haben und
3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Teilweise erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes für mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass der Kläger trotz der bei ihm bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen noch in der Lage ist, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen im Umfang von wenigstens sechs Stunden täglich zu verrichten. Zu vermeiden sind körperlich schwere oder mittelschwere Tätigkeiten (Heben und Tragen von Gewichten über 10 kg), Arbeiten in Zwangshaltungen, Arbeiten unter ungünstigen Witterungseinflüssen ohne entsprechenden Bekleidungsschutz sowie nervlich belastende Tätigkeiten (etwa in Akkord oder Nachtschicht).
Der Senat stützt seine Überzeugung auf die eingeholten Sachverständigengutachten von Dr. H. auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet, Dr. G. auf orthopädischem Fachgebiet und Dr. F. auf internistisch/kardiologischem Fachgebiet. Die Sachverständigen kommen übereinstimmend zu der Überzeugung, dass der Kläger noch über ein mindestens sechsstündiges Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verfügt.
Auf orthopädischem Fachgebiet liegt der Schwerpunkt der Leistungseinschränkungen im Bereich der Lendenwirbelsäule, hier sind Bandscheibenvorfälle und eine Stenose dokumentiert. Der Kläger befindet sich durchgehend in hausärztlicher Behandlung, nimmt bei Bedarf Schmerzmittel, eine durchgreifende Besserung konnte im Bereich der Lendenwirbelsäule nicht erzielt werden. Beeinträchtigungen leichterer Art finden sich an der Halswirbelsäule und der Brustwirbelsäule. Gleichwohl ist in dem Befundbericht von Dr. F. vom 24.02.2015 festgehalten, dass der Kläger für aktive Bewältigungsstrategien wie etwa Rückengymnastik, Reha-Sport und Entspannungsverfahren wenig zugänglich zu sein scheine. Eine Besserung der Situation der Wirbelsäule wäre wohl durchaus zu erwarten. Insoweit bestehen hier durchaus erfolgversprechende weitere Behandlungsoptionen, die der Kläger bislang noch nicht ergriffen hat und deren Wahrnehmung ihm auch durchaus zuzumuten wäre. Die festgestellten gesundheitlichen Einschränkungen an der Wirbelsäule bedingen gegenwärtig nur qualitative Leistungseinschränkungen hinsichtlich der Schwere der möglichen Arbeiten und hinsichtlich der Arbeitshaltung, bedingen aber keine zeitliche Einschränkung auf unter 6 Stunden täglich für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes.
Auf nervenärztlichem Fachgebiet ist festzustellen, dass infolge des vorhandenen Diabetes Mellitus mittlerweile eine leichte Polyneuropathie eingetreten ist, die sich im Bereich der Füße dokumentieren lässt. Relevante Einschränkungen sind damit noch nicht verbunden, auch nicht hinsichtlich der Wegefähigkeit des Klägers. Nervenärztlich ist weiter vom Vorliegen einer rezidivierenden depressiven Störung auszugehen, die aber nach dem Gutachten von Dr. H. weitgehend remittiert ist. Dr. H. verweist auf die durchgeführten Testverfahren, die die Überzeugung des Klägers manifestieren, dass er unter einer schweren depressiven Erkrankung leide, die objektivierenden Tests können aber allenfalls eine leichte, wenn nicht überhaupt keine depressive Erkrankung erkennen. Dr. H. verweist insoweit auch auf den sehr geordneten Tagesablauf des Klägers, der bei ihm geschildert wurde. Danach stehe der Kläger meistens zwischen 8 und 9 Uhr auf, trinke wie immer seinen Caro-Kaffee und esse ein Brot mit Marmelade. Am Vormittag lese er 30 bis 45 Minuten die Zeitung. Er gehe dann raus. Zwei bis drei Mal in der Woche gehe er zum Einkaufen. Mittags lasse er auch das Mittagessen schon mal weg. Nachmittags lese er. Er lese gerne Karl May und Bücher von Ludwig Thoma. Bei der Hitze im Sommer habe er sich meistens flachgelegt, ansonsten versuche er eine halbe bis dreiviertel Stunde rauszugehen. Am Abend esse er und lese wieder oder löse Kreuzworträtsel. Er schaue gegen 20.30 Uhr etwas fern und gehe dann zwischen 23.30 Uhr und 0.30 Uhr zu Bett. Als Hobbies gab er an gerne zu lesen und Kreuzworträtsel zu lösen. Er habe einen geringen Freundeskreis und bekomme selten Besuch. Gelegentlich komme ein Bruder. Er wohne aber mit der Mutter im gemeinsamen Haus, sehe diese jeden Tag, helfe ihr auch beispielsweise beim Staubsaugen, er müsse dies aber langsam tun. Ansonsten gehe er regelmäßig zu seinen behandelnden Ärzten. Anhaltspunkte für eine massive, funktionsbedingte Einschränkung des alltäglichen Lebens, die sich auf die Erwerbsfähigkeit des Klägers in zeitlicher Hinsicht auswirken könnten, können hieraus zur Überzeugung des Senats nicht abgeleitet werden. Problematisch ist insoweit allenfalls der Umstand der von Dr. H. umschriebenen fehlenden Leistungsmotivation sowie der Fixierung des Klägers in der Überzeugung ein schwer kranker Mensch zu sein, was Auswirkungen auf seine Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit haben könnte. Dr. H. sieht gleichwohl ein mindestens 6stündiges Leistungsvermögen des Klägers. Gegebenenfalls wären insoweit aber unterstützende Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben für den Kläger sinnvoll, die die Beklagte ja bereits einmal dem Grunde nach bewilligt hatte. Dies ist hier aber nicht Streitgegenstand.
Im Rahmen des kardiologischen Gutachtens von Dr. F. ist festgehalten, dass der Kläger zwar im Jahr 2004 einen Myocardinfarkt erlitten hat, dass sich seither aber durchaus eine stabile Herzfunktion zeigt. Auf die unterschiedlichen Messergebnisse der Belastungs-EKGs hat die Sachverständige ausdrücklich hingewiesen. Ein Abbruch der Belastung ist im Übrigen bei keiner Untersuchung wegen Ischämieanzeichen oder Herzrhythmusstörungen erfolgt, sondern ausschließlich wegen physischer Erschöpfung. Es haben sich auch keine Anzeichen für eine restriktive oder obstruktive Lungenerkrankung ergeben. Selbst bei Unterstellung einer Belastbarkeit von maximal 75 Watt wäre aber davon auszugehen, dass der Kläger noch leichte körperliche Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verrichten kann.
Anlass für eine hiervon abweichende Beurteilung ergibt sich auch nicht aufgrund des vom Prozessbevollmächtigten des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 28.09.2016 neu vorgelegten „vorläufigen, noch nicht endgültig freigegebenen Arztbrief“ der Universitätsklinik I-Stadt vom 27.09.2016. Dem Arztbrief ist zu entnehmen, dass sich der Kläger dort am 19.09.2016 vorgestellt habe, „nachdem das Bayerische Landessozialgericht eine Frühberentung abgelehnt habe“. Er selbst hat angegeben, dass sich seine Leistungsfähigkeit nicht verändert habe. Dies hat sich bei den dort durchgeführten Untersuchungen im Wesentlichen bestätigt. Eine Belastung des Klägers war bis 115 Watt möglich, der Abbruch erfolgte – wie sonst auch – wegen peripherer muskulärer Erschöpfung. Unter der Belastung zeigte sich ein adäquater Herzfrequenz- und Blutdruckanstieg. Während und nach der Belastung fanden sich keine ischämietypischen ST-Streckenveränderungen. Die Ejektionsfraktion lag mit 45% knapp unter der bisher festgestellten von 47%. Hinweise auf eine relevante obstruktive oder restriktive Lungenerkrankung konnten nicht gefunden werden. In dem vorläufigen Bericht vom 27.09.2016 ist eine Klassifizierung der Herzerkrankung nach Weber mit „Weber A“ erfolgt, was eine leichte bis gar keine Leistungseinschränkung dokumentiert, während in dem Bericht vom 23.06.2016 eine Klassifizierung nach Weber mit „Weber B“ erfolgte, was einer leichten bis moderaten Einschränkung entspricht. Der Bericht vom 23.06.2016 lag der gerichtlichen Sachverständigen Dr. F. für die angeforderte ergänzende Stellungnahme vor. Ausgehend von dem stärkeren Befund „Weber B“ hat sie ein mindestens 6stündiges Leistungsvermögen des Klägers auf kardialem Fachgebiet bestätigt. Der Senat sieht deshalb auch keine Veranlassung, weitere Ermittlungen von Amts wegen einzuleiten.
Auf dem internistischen Fachgebiet ist beim Kläger zusätzlich die nicht optimal behandelte Stoffwechsellage durch den Diabetes Mellitus zu beachten, Spätfolgen hierdurch sind jedoch noch nicht festzustellen. Behandlungsoptionen sind hier wohl zweifellos gegeben, wenn eine entsprechend enge ärztliche Überwachung durch einen Internisten oder Diabetologen erfolgen würde oder im Rahmen einer stationären Behandlung oder Reha-Maßnahme. Dauerhafte Funktionseinschränkungen, die sich auf das quantitative Leistungsvermögen des Klägers auswirken könnten, sind hier auch noch nicht festzustellen.
Alle im Verfahren seit April 2009 eingeholten Sachverständigengutachten, die die gesundheitlichen Einschränkungen des Klägers objektiv und – nach Überzeugung des Senats – auch umfassend und nachvollziehbar beschrieben und bewertet haben, kommen zu einem mindestens sechsstündigen Leistungsvermögen des Klägers für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen. Die vom Senat eingeholten Gutachten der medizinischen Sachverständigen Dr. H., Dr. G. und Dr. F. haben dokumentiert, dass auch heute noch von einem mindestens 6stündigen Leistungsvermögen auszugehen ist und dass seit Rentenantragstellung im April 2009 eine wesentliche Änderung des Gesundheitszustandes des Klägers nicht eingetreten ist. Zudem bestehen sowohl auf orthopädischem als auch auf neurolgisch/psychiatrischem und internistischem Fachgebiet weitere Behandlungsoptionen, die der Kläger ergreifen könnte. Das subjektive Empfinden des Klägers und seine Überzeugung, nicht mehr leistungsfähig zu sein, sind demgegenüber irrelevant. Ein Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI besteht nicht.
Ein Anspruch auf eine Rente nach § 240 SGB VI wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit kommt ebenfalls nicht in Betracht. Zwar ist der Kläger vor dem Stichtag nach § 240 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI geboren, so dass diese Regelung grundsätzlich auf ihn Anwendung finden könnte. Der Kläger kann für sich aber keinen Berufsschutz beanspruchen. Er hat zwar eine Berufsausbildung zum Heizungsbauer absolviert, die jedoch nicht abgeschlossen wurde, so dass er keinen Berufsschutz als Facharbeiter genießt. Im Übrigen hat er bereits seit 1978 wechselnde Anlerntätigkeiten verrichtet. Unter Beachtung des vom Bundessozialgericht entwickelten, sogenannten Mehrstufenschemas (BSGE 55, 45 ff.) muss sich der Kläger entweder auf andere Anlerntätigkeiten (mit einer Regelausbildung bis zu zwei Jahren) oder aber auf ungelernte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes, soweit diese nicht ganz einfacher Art sind, verweisen lassen. Hierfür besteht nach den eingeholten Gutachten jedoch noch ein mindestens 6stündiges Leistungsvermögen unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen.
Nach alledem war die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 26.04.2011 als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.


Ähnliche Artikel

BAföG – das Bundesausbildungsförderungsgesetz einfach erklärt

Das Bundesausbildungsförderungsgesetz, kurz BAföG, sorgt seit über 50 Jahren für finanzielle Entlastung bei Studium und Ausbildung. Der folgende Artikel erläutert, wer Anspruch auf diese wichtige Förderung hat, wovon ihre Höhe abhängt und welche Besonderheiten es bei Studium und Ausbildung gibt.
Mehr lesen

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben