Sozialrecht

Voraussetzungen einer Erwerbsminderungsrente

Aktenzeichen  L 19 R 395/14

Datum:
27.7.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
SGb – 2017, 535
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI SGB VI § 43 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 2, § 240

 

Leitsatz

1. Zu den Voraussetzungen einer Erwerbsminderungsrente. (amtlicher Leitsatz)
2. Psychische Erkrankungen können erst dann rentenrechtlich relevant werden, wenn trotz adäquater Behandlung (medikamentös, therapeutisch, ambulant oder stationär) davon auszugehen ist, dass der Versicherte die psychischen Einschränkungen weder aus eigener Kraft noch mit ärztlicher oder therapeutischer Hilfe dauerhaft überwinden kann. (amtlicher Leitsatz)
3 Bei der Prüfung der Voraussetzungen einer teilweisen Erwerbsminderungsrente bei Berufsunfähigkeit kommt es nicht darauf an, ob die beim Kläger zu berücksichtigenden qualitativen Einschränkungen auch in seinem konkreten Arbeitsverhältnis umsetzbar wären. Es ist vielmehr auf vergleichbare Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt abzustellen. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 4 R 348/13 2014-04-09 Urt SGWUERZBURG SG Würzburg

Tenor

I.
Auf die Berufung der Beklagten hin wird das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 09.04.2014 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid vom 01.02.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.04.2013 abgewiesen.
II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III.
Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Würzburg ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG -).
Sie ist auch begründet. Das SG hat die Beklagte zu Unrecht zur Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung ab Rentenantragstellung verurteilt. Ein Nachweis einer dauerhaften, einer Behandlung nicht mehr zugänglichen quantitativen Leistungsminderung, die einen Rentenanspruch nach § 43 SGB VI begründen könnte, ist noch nicht gegeben. Ebenso wenig besteht Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 SGB VI.
Gemäß § 43 Abs. 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie
1. teilweise erwerbsgemindert sind,
2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbei-
träge für eine versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung haben und
3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Teilweise erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes für mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein.
Zur Überzeugung des Senats ist gegenwärtig davon auszugehen, dass der Nachweis eines Absinkens des quantitativen Leistungsvermögens des Klägers auf unter sechs Stunden täglich noch nicht gelungen ist, sondern der Kläger sowohl seine letzte Tätigkeit als Qualitätskontrolleur als auch Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes bei Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen noch mindestens 6 Stunden täglich verrichten kann und insbesondere ausreichende Behandlungsoptionen der psychischen Erkrankung des Klägers gegeben sind.
Der Schwerpunkt der gesundheitlichen Einschränkungen des Klägers liegt unzweifelhaft auf psychiatrischem Fachgebiet. Der Kläger hat zur Begründung seines Rentenantrages vom 27.11.2012 auf bestehende Depressionen wegen des zunehmenden beruflichen Stresses sowie wegen finanzieller Probleme hingewiesen. Aus dem Reha-Entlassungsbericht der Klinik Bad B. ist das Vorliegen einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig schwere Episode sowie eine Dysthymia zu entnehmen, obwohl der Kläger arbeitsfähig zur Rehamaßnahme aus eigener Initiative angetreten ist und von dort auch als arbeitsfähig sowie mit einem Leistungsbild von mehr als 6 Stunden täglich sowohl für die letzte Tätigkeit als auch für den allgemeinen Arbeitsmarkt entlassen wurde. Ausdrücklich festgehalten ist in dem Reha-Entlassungsbericht, dass die Einschätzung der Reha-Klinik auch der Einschätzung des Klägers entspricht. Es bestünden vielfältige Einschränkungen, so seien Nachtschicht und Spätschichten sowie häufig wechselnde Arbeitszeiten zu vermeiden, des Weiteren bestehe eine eingeschränkte Stressbelastbarkeit, auf reguläre, kontinuierliche Arbeitsabläufe sei zu achten bei eingeschränktem Umstellungsvermögen. Des Weiteren seien andauernde wirbelsäulenbelastende Zwangshaltungen ebenso wie schweres Heben, Tragen und Bewegen von Lasten zu vermeiden. Dieses Leistungsbild sei mit der bisherigen Tätigkeit des Klägers stimmig, er werde arbeitsfähig entlassen. Dringend erforderlich sei die Fortführung der ambulanten Psychotherapie, bei Bedarf Physiotherapie sowie das selbstständige Fortführen des Entspannungstrainings und der erlernten krankengymnastischen Übungen, dosierte sportliche Betätigung und Bewegung, weitere Gewichtsreduktion.
Dr. M., der im Verwaltungsverfahren der Beklagten als Sachverständiger tätig geworden ist und den Kläger am 08.01.2013 untersucht hat, ist ebenfalls zu einem über sechsstündigen Leistungsvermögen sowohl für die letzte Tätigkeit als Qualitätskontrolleur als auch für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen gekommen. Dr. M. hat in seinem Gutachten den Verdacht auf eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit rezidivierenden Anpassungsstörungen sowie eine chronifizierte depressive Verstimmung beschrieben. Ihm gegenüber hat der Kläger angegeben, schon seit seiner Kindheit psychisch belastet gewesen zu sein, speziell durch seine Familie, er habe seither auch ein vermindertes Selbstwertgefühl bei Abwertung. Manifest depressiv sei er seit ca. 1990, bei vermehrter Arbeitsbelastung und wiederkehrend bei vermehrtem Stress.
Demgegenüber ist Dr. K. in seinem im sozialgerichtlichen Verfahren eingeholten Sachverständigengutachten vom 03.03.2014 zu einem aufgehobenen Leistungsvermögen des Klägers gekommen, wobei er eine rezidivierende depressive Störung und eine Persönlichkeitsakzentuierung sieht, aber auch eine dauerhafte Persönlichkeitsveränderung aufgrund eines in der Kindheit erlittenen posttraumatischen Belastungssyndroms, das durch eine ärztliche Intervention wieder aufgelebt sein soll. Er geht von einer Retraumatisierung aus, die beim Kläger zu schwersten psychischen Beeinträchtigungen geführt habe.
Der vom Senat beauftragte Sachverständige Neurologe und Psychiater Dr. G. beschäftigt sich in seinem Gutachten vom 23.10.2015 sehr intensiv mit der Fragestellung, ob beim Kläger eine massive psychische Beeinträchtigung vorliegt, die Dr. K. festgestellt hat und die dieser für nicht mehr überwindbar erachtet. Dr. G. kommt aber nach Durchführung ausführlicher Testverfahren und nach Kontrolle des Medikamentenspiegels im Blut zu dem Ergebnis, dass das Leistungsvermögen des Klägers keineswegs so gravierend eingeschränkt ist, wie dies Dr. K. angenommen hat. Festzuhalten ist dabei, dass sowohl Dr. M. als auch Dr. K. in ihren Gutachten jeweils Anhaltspunkte für eine mögliche Aggravation bzw. für eine bewusstseinsnahe Umschreibung des Gesundheitszustandes des Klägers gesehen haben. Dr. K. erklärt dies aber damit, dass der Kläger durch ein akutes depressives Geschehen in seiner Leistungsfähigkeit bei der Testung massiv beeinträchtigt gewesen sei und die erzielten Testergebnisse der Überforderung des Klägers geschuldet seien.
Dr. G. hält in seinem Gutachten ausdrücklich fest, dass aufgrund der Erlebnisse in der Kindheit beim Kläger die Annahme einer defizitären und dysfunktionalen Persönlichkeitsentwicklung und daraus resultierender Persönlichkeitsstörung nachvollziehbar und insgesamt auch plausibel ist. Narzistische und histrionische Persönlichkeitszüge, die bereits seit 1999 dokumentiert seien, ließen sich aufgrund der aktuellen Untersuchung durchaus bestätigen. Gleichwohl lasse sich eine psychische Gesundheitsstörung von Relevanz bis in das fortgeschrittene Erwachsenenalter im Grunde nicht nachvollziehen. Es lägen auch keine Anhaltspunkte für eine Retraumatisierung im engeren Sinne vor. Die Vermutung einer Retraumatisierung, die durch eine ärztliche Exploration hervorgerufen worden sein solle, sei mehr als zweifelhaft. Auch die Diagnose einer andauernden Persönlichkeitsveränderung sei nicht haltbar, weil diese eine abgeschlossene und in der Regel funktionale Persönlichkeitsentwicklung voraussetze. Der Kläger habe aber bereits in seiner Kindheitsentwicklung traumatisierende Erlebnisse gehabt, so dass diese bereits zu einer defizitären und ausgesprochen devianten Persönlichkeit geführt hätten. Es sei deshalb die Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung zu stellen.
Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass der Kläger durchaus bei der Untersuchung durch die im Verfahren tätig gewordenen Sachverständigen zu einer bewusstseinsnahen Darstellung seiner gesundheitlichen Beschwerden geneigt hat, die bei Dr. G. in einem Ausmaß gezeigt wurden, dass dieser von einer massiven Intelligenzminderung auszugehen gehabt hätte, die bislang aber noch von keinem behandelnden Arzt und auch von keinem der Sachverständigen gesehen wurde. Die Fahrtauglichkeit wäre nicht mehr gegeben, gleichwohl fährt der Kläger noch selbst Auto und ist weiterhin im Besitz seines Führerscheins. Bei Hinterfragen der Testergebnisse hat Dr. G. zahlreiche Inkonsistenzen festgestellt und hat auch die fehlende Compliance des Klägers hinsichtlich der Behandlung seiner Erkrankung konstatiert. Obwohl der Kläger angegeben hat, mit Psychopharmaka in doch nennenswertem Umfang behandelt zu werden, waren diese Medikamente zwar im Blut nachzuweisen, jedoch weit außerhalb des therapierelevanten Spektrums. Eine regelmäßige Überprüfung des Medikamentenspiegels wird weder durch die behandelnden Ärzte des Klägers berichtet noch hat eine solche Kontrolle bei Dr. K. stattgefunden. In der Reha-Klinik Bad B. hat der Kläger angegeben, in den vorausgegangenen 12 Monaten maximal 1 Woche krank gewesen zu sein, was ebenfalls ein Indiz dafür wäre, dass die Funktionseinschränkungen des Klägers infolge der psychischen Erkrankung in seinem Erwerbsleben noch nicht gravierend ausgeprägt waren. Die in den Akten vorhandenen Berichte über stationäre und ambulante Behandlungsmaßnahmen lassen erkennen, dass besondere Belastungssituationen vorlagen und der Kläger durchaus relativ gut auf entsprechend intensive Behandlungsmaßnahmen in der Vergangenheit reagieren und sein Funktionsniveau privat wie beruflich aufrechterhalten konnte.
Entscheidend ist für den Senat auch, dass der vom Kläger bei den jeweiligen Begutachtungen geschilderte Tagesablauf zuerst vielseitige Aktivitäten des Klägers aufzeigt, die jedoch während des laufenden Rechtsstreits deutlich abzunehmen scheinen.
Im Reha-Entlassungsbericht Bad B. vom 29.10.2012 ist festgehalten, dass der Kläger in den letzten zwölf Monaten ca. eine Woche arbeitsunfähig gewesen sei. Zum psychischen Befund ist festgehalten, dass der Kläger wach, bewusstseinsklar und allseits orientiert sei, Auffassung, Aufmerksamkeit, Konzentration, mnestische Fähigkeiten seien weitestgehend intakt, wobei es ihm schwer falle, die Aufmerksamkeit über einen längeren Zeitraum aufrecht zu erhalten, Antrieb und Psychomotorik leichtgradig reduziert. Stimmung situativ sehr bedrückt, affektive Schwingungsfähigkeit deutlich reduziert. Intelligenz grob orientierend im Durchschnittsbereich. Durch die Reha-Maßnahme hat der Kläger offenbar eine deutliche psychische Entlastung und Entspannung erreichen können.
Im Gutachten von Dr. M. vom 08.01.2013 ist festgehalten, dass der Kläger im eigenen Haus mit Mietern im Obergeschoss lebe. Er stehe in der Freizeit zwischen 7.00 Uhr und 8.00 Uhr auf, kümmere sich um Haus und Garten, gehe spazieren, fahre Rad, gehe ein- bis zweimal pro Woche schwimmen, fahre Pkw, mache Gymnastik, sehe fern, lese Zeitschriften zwei bis drei Stunden täglich, surfe im Internet, habe eine Nebenerwerbslandwirtschaft mit 10 ha, die von einem Nachbarn bewirtschaftet werde. Er arbeite dort kaum noch. Er treffe Freunde, er sei auch in der Kirchengemeinde aktiv. Die Stimmung sei schwankend, der Antrieb reduziert, Konzentration und Gedächtnis seien nachlassend, Schlaf sei unter Medikation gut, er trage eine Atemmaske, der Appetit sei wechselhaft.
Aus dem Befundbericht der Fachärztin für Allgemeinmedizin C. geht hervor, dass der Kläger sich bei ihr in Behandlung befindet und sich sein Zustand ab dem 01.03.2013 verschlechtert habe. Eine Arbeitsunfähigkeit sei von ihr nicht ausgestellt worden. In dem Behandlungsprotokoll vom 01.03.2013 ist festgehalten, dass der Kläger bei einem Arzt vom Versorgungsamt gewesen sei, der ihn auf die Kindheit angesprochen hätte. Dabei sei klar geworden, dass der Kläger in seiner gesamten Kindheit schon als Kleinkind von seinem Vater misshandelt worden sei, seine Mutter sei regelmäßig verprügelt und einmal sogar mit einer Mistgabel aufgespießt worden. Die beiden Schwestern seien ebenfalls misshandelt worden. Der Kläger habe lauthals geweint, sei hilflos, völlig fertig gewesen, schäme sich, habe auch Angst gehabt, in die Praxis zu kommen. Er habe das nun zum ersten Mal mit einem anderen Menschen besprochen außer mit seinen Geschwistern, der Kläger sei drei Stunden in der Praxis verblieben. Er habe versichert, keine Suizidgedanken oder -pläne zu haben, er nehme seine Medikamente regelmäßig ein. Er bitte darum, seinem Psychiater und seinem Psychologen davon zu berichten, die bisher ahnungslos seien. Er habe Schuldgefühle unter anderem seiner Mutter gegenüber, die er nicht habe beschützen können. Festzuhalten ist hierbei aber, dass der Kläger bereits im Januar 2013 von Dr. M. untersucht wurde und dort bereits von seinen Kindheitserlebnissen berichtet hatte. Die Begutachtung im Rahmen des Schwerbehindertenrechtsstreits erfolgte demgegenüber erst im Februar 2013, so dass nicht nachvollziehbar ist, weshalb die Exploration bei Dr. M. kein Ereignis gewesen sein soll, was zu einer Retraumatisierung führen konnte, sondern erst die ärztliche Exploration im Februar 2013 im Rahmen des Schwerbehindertenverfahrens – wie von Dr. K. angenommen.
Bei Dr. K. hat der Kläger an Aktivitäten angegeben, dass er meistens gegen 6.00 Uhr aufstehe, dann Kaffee trinke, Zeitung lese und er sich dann meist noch einmal auf die Couch lege, weil er müde und erschöpft sei. Jeden Dienstag gehe er zu seiner Psychotherapeutin. Er habe häufig auch andere Arzttermine, er fahre an guten Tagen mit dem Auto zum Einkaufen oder zum Arzt. Er gehe mit dem Hund täglich für eine halbe bis eine Stunde spazieren, danach müsse er sich ausruhen. Er kümmere sich auch noch um seine zwei Schweine und die Katzen. Er versuche den Haushalt regelmäßig zu erledigen, aber er schaffe dies oft nicht, er müsse sich dazwischen immer wieder hinlegen. An schlechten Tagen gelinge es ihm nicht, sich aufzuraffen und die anfallenden Arbeiten im Haushalt anzugehen. Er versuche trotz seiner Ängste aktiv zu bleiben und mal rauszugehen, gelegentlich schaue er sich am Sonntag im Dorf ein Fußballspiel an. Engeren Kontakt habe er aber noch zu seiner Kirchengemeinde, das gebe ihm Halt.
Dem gegenüber hat der Kläger bei Dr. G. einen deutlich eingeschränkteren Tagesablauf angegeben: Er lasse bei der Versorgung des Haushaltes vieles liegen, sei häufig erschöpft, räume dann einfach nicht auf. Er gehe auch zum Einkaufen, meist koche er aber nur Dosenfutter und manchmal gehe er zu seiner Schwester zum Essen. Seit einem Jahr habe er keine Tiere mehr. Er habe noch einen Hund, dieser werde jedoch von einem Kameraden versorgt. Dieser komme jeden Tag vorbei, kümmere sich um den Hund, gebe ihm essen und gehe mit ihm spazieren. Dies sei ein Arbeitskollege. Gelegentlich schaue er in die Zeitung, das gehe jedoch auch nicht immer. Früher sei er sehr am Fußball interessiert gewesen, habe auch Fußballspiele als Zuschauer besucht, beispielsweise in E-Stadt. In diesem Jahr sei er jedoch nicht dort gewesen, er schaffe das nicht mehr. Die neue Beziehung sei beendet.
Mit Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 19.11.2015 wurde ausdrücklich nochmals darauf hingewiesen, dass der Kläger nicht mehr in der Lage sei, seinen Tagesablauf zu strukturieren. Ein Freund des Klägers halte das Anwesen in Schuss und bis vor kurzem hätte er auch noch seine Lebensgefährtin gehabt. Nach den Aktenunterlagen handelt es sich bei dem Anwesen des Klägers um ein Mehrfamilienhaus mit vermietetem Obergeschoss, einer Nebenerwerbslandwirtschaft und die Lebensgefährtin hat wohl nicht bei ihm gewohnt, sondern lebte weiter entfernt, so dass er sie nach seinen eigenen Angaben nur am Wochenende besuchte.
Aus der Zusammenschau der vom Kläger geschilderten Tagesabläufe und den in allen Gutachten enthaltenen Hinweisen auf ein gewisses Aggravations- oder Tendenzverhalten, die nachgewiesenen niedrigen Serenspiegel der verordneten Medikamente und des weiteren Umstandes, dass eine intensive ambulante, teilstationäre oder gar stationäre psychiatrische Behandlung seit 2012 nicht stattgefunden hat, steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der notwendige Nachweis eines bereits eingetretenen dauerhaften Absinkens des quantitativen Leistungsvermögens des Klägers auf unter 6 Stunden täglich noch nicht geführt wurde. Es bestehen offenbar erhebliche Behandlungspotentiale für die psychische Erkrankung des Klägers, die bislang nicht ausgeschöpft wurden. Allein der Umstand, dass der Kläger seit 2009 stützende Gespräche mit Psychologen und Psychotherapeuten führt und durch seine Hausärztin Frau C. psychiatrisch betreut wird, vermag eine nicht nur vorübergehende Erwerbsminderung infolge der psychischen Erkrankung noch nicht zu rechtfertigen. Zum einen müsste die Compliance des Klägers hinsichtlich der verordneten Medikation intensiv überwacht und der weitere Verlauf der Erkrankung beobachtet werden. Dr. G. hat darüber hinaus darauf hingewiesen, dass ambulante, teilstationäre oder gar stationäre psychiatrische Behandlungen noch nicht in Anspruch genommen wurden. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) und des Senats können psychische Erkrankungen erst dann rentenrechtlich relevant werden, wenn trotz adäquater Behandlung (medikamentös, therapeutisch, ambulant oder stationär) davon auszugehen ist, dass der Versicherte die psychischen Einschränkungen weder aus eigener Kraft noch mit ärztlicher oder therapeutischer Hilfe dauerhaft überwinden kann (BSG Urteil vom 12.09.1990 – 5 RJ 88/89; BSG Urteil vom 29.03.2006 – B 13 RJ 31/05 R – jeweils zitiert nach juris; BayLSG Urteil vom 12.10.2011 – L 19 R 738/08; BayLSG Urteil vom 30.11.2011 – L 20 R 229/08; BayLSG Urteil vom 18.01.2012 – L 20 R 979/09; BayLSG Urteil vom 15.02.2012 – L 19 R 774/06; BayLSG Urteil vom 21.03.2012 – L 19 R 35/08; BayLSG Urteil vom 26.03.2015 – L 19 R 1043/11 -; BayLSG Urteil vom 18.03.2015 – L 19 R 956/11 – ).
Aus den Akten und den beigezogenen Befundberichten geht zwar hervor, dass der Kläger in der Vergangenheit immer wieder massive psychische Probleme hatte, die auch akutstationär behandelt wurden. Eine rezidivierende depressive Störung zeichnet sich dadurch aus, dass es sich um keinen Dauerzustand handelt und ihr Ausmaß entsprechenden Schwankungen unterliegt. Die massiven psychischen Dekompensationen des Klägers lassen jeweils äußere Umstände erkennen, die Auslöser hierfür gewesen sein könnten. Bei einem derartigen Zustand ist aber von einer akuten Behandlungsbedürftigkeit der Erkrankung, nicht jedoch von einer eingeschränkten quantitativen Leistungsminderung im rentenrechtlichen Sinn auszugehen.
Die übrigen gesundheitlichen Einschränkungen des Klägers im Bereich der Wirbelsäule bzw. möglicherweise Polyneuropathie, sofern diese überhaupt bereits nachgewiesen wäre, führen lediglich zu qualitativen Leistungseinschränkungen und vermögen einen Rentenanspruch nach § 43 SGB VI nicht zu begründen.
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 SGB VI. Zwar fällt der Kläger unter den Anwendungsbereich dieser Vorschrift, weil er vor dem 01.01.1961 geboren ist und als Facharbeiter (Ausbildung zum Bauschlosser, aufgegeben wohl aus gesundheitlichen Gründen, weitere Tätigkeit als Qualitätskontrolleur ebenfalls als Facharbeiter, vgl. Arbeitgeberauskunft) auch Berufsschutz nach § 240 SGB VI genießt. Der Kläger kann aber nach den für den Senat überzeugenden Ausführungen von Dr. G., Dr. M. und dem Reha-Entlassungsbericht der Klinik Bad B. seinen zuletzt ausgeübten Beruf noch mindestens 6 Stunden täglich ausüben. Es kommt dabei nicht darauf an, ob die beim Kläger zu berücksichtigenden qualitativen Einschränkungen auch in seinem konkreten – wohl ruhenden – Arbeitsverhältnis umsetzbar wären. Es ist vielmehr auf vergleichbare Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt abzustellen. Zum anderen ist die Frage eines zumutbaren Verweisungsberufs bislang nicht geprüft worden. Grundsätzlich wäre hier aber sicherlich an die Tätigkeit eines qualifizierten Registrators zu denken.
Ein weiteres Gutachten von Amts wegen war nach Überzeugung des Senats nicht einzuholen. Es bestehen zwar divergierende Einschätzungen der im Verfahren tätig gewordenen Sachverständigen, die allerdings der Wertung durch den Senat zugänglich sind. Die beim Kläger vorliegenden Erkrankungen, die rentenrechtlich relevant werden könnten, wurden aufgeklärt. Ein weiteres Gutachten nach § 109 SGG war nicht einzuholen, nachdem dem Kläger hierzu die Gelegenheit – trotz erheblicher zeitlicher Differenz zum erstellten Gutachten von Dr. G. gegeben worden war. Der innerhalb der vom Senat gesetzten Frist benannte Sachverständige war jedoch bereits vor 2 Jahren verstorben. Die im Schriftsatz vom 05.07.2016 erfolgte Benennung eines anderen Sachverständigen erfolgte erst nach der erneuten Ladung zur mündlichen Verhandlung und würde zu einer vermeidbaren Verfahrensverzögerung führen (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, § 109 SGG, Rdnr. 11 m. w. N.).
Nach alledem war auf die Berufung der Beklagten hin das Urteil des SG Würzburg vom 09.04.2014 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 01.02.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.04.2013 abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.


Ähnliche Artikel

BAföG – das Bundesausbildungsförderungsgesetz einfach erklärt

Das Bundesausbildungsförderungsgesetz, kurz BAföG, sorgt seit über 50 Jahren für finanzielle Entlastung bei Studium und Ausbildung. Der folgende Artikel erläutert, wer Anspruch auf diese wichtige Förderung hat, wovon ihre Höhe abhängt und welche Besonderheiten es bei Studium und Ausbildung gibt.
Mehr lesen

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben