Sozialrecht

Voraussetzungen für den Vertrauensschutz im Aufhebungsverfahren

Aktenzeichen  S 15 AS 393/14

Datum:
9.11.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 128456
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB X § 44 Abs. 1 S. 1, § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2, Abs. 4 S. 2
SGB II § 40 Abs. 2 Nr. 3
SGG § 54 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, Abs. 4, § 123, § 136 Abs. 3, § 193
SGB III § 330 Abs. 2
SGB I § 60 Abs. 1 Nr. 1

 

Leitsatz

Vertrauensschutz im sozialrechtlichen Aufhebungsverfahren hängt nicht von einer strafrechtlichen Verantwortungsfähigkeit ab. Auf das Verständnis von (komplexen) Zusammenhängen kommt es nicht an. Entscheidend ist allein die wissentliche und willentliche unrichtige bzw. unvollständige Angabe von Vorgängen oder Zuständen der Vergangenheit bzw. Gegenwart. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage gegen den Bescheid vom 30.12.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1.7.2014 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid vom 30.12.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1.7.2014 ist rechtmäßig und der Kläger hierdurch nicht beschwert, § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rücknahme oder Abänderung des Rücknahme- und Erstattungsbescheides vom 6.3.2013.
1. Streitgegenstand ist ausweislich des Klageantrags der Bescheid der Beklagten vom 30.12.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1.7.2014, mit dem die Beklagte den Antrag des Klägers ablehnte, den Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 6.3.2013 im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X zurückzunehmen.
2. Die so verstandene (§ 123 SGG) – gemäß § 54 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 SGG als kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage statthafte (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG [10. Aufl. 2012], § 54 Rn. 20c m.w.N.) – Klage ist unbegründet. Die erkennende Kammer folgt im Wesentlichen der Begründung des Bescheides vom 30.12.2013 sowie des Widerspruchsbescheids vom 1.7.2014 und sieht deshalb von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 136 Abs. 3 SGG).
3. Ergänzend hält die erkennende Kammer fest, dass der Kläger aus § 44 SGB X keinen Anspruch auf Rücknahme oder Abänderung des Rücknahme- und Erstattungsbescheides vom 6.3.2013 hat. § 44 SGB X ist nicht anwendbar, weil der Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 6.3.2013 im Zeitpunkt seines Erlasses rechtmäßig war.
a) Nach § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist. Die Beklagte hat damals jedoch nicht das Recht unrichtig angewandt, § 44 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 SGB X. Die Beklagte stützte ihren Rücknahme- und Erstattungsbescheid auf § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II in Verbindung mit § 330 Abs. 2 SGB III in Verbindung mit § 45 SGB X. Damit war dieser Verwaltungsakt im Zeitpunkt seines Erlasses gesetzmäßig. Dies stand zwischen den Beteiligten nicht im Streit.
b) Die Beklagte hat damals auch das Gesetz auf einen zutreffend ermittelten Sachverhalt richtig angewandt, § 44 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 SGB X. Die Voraussetzungen für eine Rücknahme der Bewilligungsbescheide nach § 45 SGB X lagen vor. Die anfängliche Rechtswidrigkeit der im Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 6.3.2013 aufgeführten Bewilligungsbescheide aufgrund übersteigenden Vermögens ist zwischen den Beteiligten nicht streitig. Gegenteilige Anhaltspunkte sind auch nicht ersichtlich.
Der Kläger kann sich auch nicht nach § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 SGB X auf Vertrauen berufen, da die aufgehobenen Bewilligungsbescheide auf Angaben beruhten, die er vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hatte. Der Begriff der „Angaben“ ist dabei eine verkürzte Formulierung für die Angabe von Tatsachen, wie sie das Gesetz an anderer Stelle (etwa in § 60 Abs. 1 Nr. 1 SGB I, §§ 21 Abs. 2 S. 2, 24 Abs. 2 Nr. 3 SGB X) kennt. Unter Tatsachen sind Vorgänge oder Zustände der Gegenwart oder Vergangenheit zu verstehen, nicht aber Rechtsauffassungen oder Werturteile (Merten in: Hauck/Noftz, SGB X [Stand: 08/16], § 45 Rn. 61). Vorsätzlich handelt, wer wissentlich und willentlich unrichtige bzw. unvollständige Angaben macht. (Merten in: Hauck/Noftz, SGB X [Stand: 08/16], § 45 Rn. 64). Der Begriff des Vorsatzes enthält ähnlich wie im Strafrecht ein Element des Wissens und des Wollens. Es reicht insofern entweder die Kenntnis von der Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der angegebenen Tatsachen oder das billigende Inkaufnehmen einer erkannten möglichen Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der gemachten Angaben aus (Padé in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X [1. Aufl. 2013], § 45 Rn. 86).
Diese Voraussetzungen sind zur Überzeugung der erkennenden Kammer vorliegend gegeben. Der Kläger hatte wissentlich und willentlich unrichtige bzw. unvollständige Angaben über den wirtschaftlichen Wert der Gesamtheit aller in seinem Eigentum stehenden Güter und Rechte bzw. Ansprüche hierauf gemacht, mithin über das, was gemeinläufig – und gerade nicht im Sinne des SGB II – als „Vermögen“ bezeichnet wird. Dies steht für die erkennende Kammer aufgrund des klägerischen Verhaltens fest, wie es im streitgegenständlichen Widerspruchsbescheid vom 1.7.2014 auf den Seiten 4 ff. aufgeführt wird und sich auch in der Verwaltungsakte der Beklagten wiederfindet. Exemplarisch sei hier die Vorlage der geschwärzten Kontoauszüge am 3.11.2011 (Blatt L 122 ff. der Verwaltungsakte) im Rahmen des Weiterbewilligungsantrages vom 20.10.2011 (Blatt A 66 der Verwaltungsakte) aufgeführt. Hier wurden unter anderem bewusst die Abbuchungen für die FC Bayern Sparkarte der HypoVereinsbank geschwärzt, wie sich aus den ungeschwärzten Kontoauszügen ergibt, die sich die erkennende Kammer hat vorlegen lassen (Blatt 129 ff. der Gerichtsakte). Die Existenz der Sparbücher wurde sogar vom Kläger auf Nachfrage der Beklagten bejaht (Blatt L 129 der Verwaltungsakte). Auch die Prozessbevollmächtigte und Betreuerin des Klägers selbst trägt vor, dass der Kläger bei den jeweiligen Antragstellungen offensichtlich nicht immer sein gesamtes Vermögen angegeben hat. Dies ist für die Bejahung von Vorsatz im Hinblick auf die Nichtangabe von Vermögenswerten ausreichend. Rechtliche Würdigungen oder Werturteile sind hierfür nicht erforderlich. Dem Kläger war bewusst, dass er Vermögenswerte besaß und er hierauf würde zurückgreifen müssen, wenn er diese angeben und infolgedessen keine Leistungen mehr von der Beklagten erhalten würde. Dies ergibt sich für die erkennende Kammer nicht zuletzt auch aus dem Widerspruchsschreiben des Klägers vom 4.1.2012 gegen den Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 14.12.2011 (Blatt 142 ff. der Verwaltungsakte) sowie den diesbezüglich vor dem Sozialgericht Würzburg unter dem Aktenzeichen S 13 AS 79/12 geführten Rechtsstreit.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Schuldunfähigkeit des Klägers, welche in dem Strafverfahren vor dem Amtsgericht Schweinfurt unter dem Aktenzeichen mit Urteil vom 16.12.2013 aufgrund des psychiatrischen Gutachtens des Prof. Dr. med. Volz vom 11.9.2013 (Blatt 278 ff. der Akten der Staatsanwaltschaft A-Stadt) festgestellt wurde. Denn hierauf kommt es vorliegend nicht an. Vertrauensschutz hängt nicht von einer strafrechtlichen Verantwortungsfähigkeit ab. Schuld ist die Verantwortung für die Folgen normwidrigen Verhaltens. Die Schuldfähigkeit ist mithin die Einsichtsfähigkeit in das Unrecht einer Tat, das verstehende Erkennen der Rechtswidrigkeit einer Tat. Dies ist für § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 SGB X im Hinblick auf den Vorsatz ohne Belang. Auf das Verständnis von (komplexen) Zusammenhängen kommt es nicht an. Entscheidend ist allein die wissentliche und willentliche unrichtige bzw. unvollständige Angabe von Vorgängen oder Zuständen der Vergangenheit bzw. Gegenwart. Der Vorsatz ist das Wissen und Wollen um das, was man tut. Zur Überzeugung der erkennenden Kammer wusste und wollte der Kläger aber genau, was er tat, als er seine Vermögenswerte nicht angab. Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aus dem psychiatrischen Gutachten des Prof. Dr. med. Volz vom 11.9.2013. Hiernach ist bei dem Kläger lediglich die Einsichtsfähigkeit, nicht hingegen die Steuerungs- oder gar die Handlungsfähigkeit aufgehoben. Auch aus dem im Rahmen des Betreuungsverfahrens vor dem Amtsgericht Schweinfurt – Abteilung für Betreuungssachen eingeholten psychiatrischen Gutachten des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dipl.-Med. Lux vom 16.3.2014 (Blatt 37 ff. der Akte des Amtsgerichts A-Stadt – Abteilung für Betreuungssachen) ergibt sich nichts anderes. Hier wird vielmehr die Vermutung geäußert, dass der Kläger den Besitz einer größeren Summe Geldes als Erfolgserlebnis und Aufwertung der eigenen Person empfunden habe, deshalb darauf nicht mehr verzichten wolle und wahrscheinlich versuchen werde, die Zahlung der Rückforderungen an die Beklagte zu verhindern. Dies mag möglicherweise ein Motiv für das Handeln des Klägers sein, spricht jedoch gerade nicht gegen, sondern vielmehr für dessen Handlungsbzw. Steuerungsfähigkeit. Schließlich ergeben sich auch aus dem psychologischen Gutachten des Dipl.-Psych. Wallkamp vom 7.9.2007 (Blatt E 70 f. der Verwaltungsakte) sowie dem ärztlichen Gutachten für die gesetzliche Rentenversicherung der Frau Dr. med. Schmittner vom 27.10.2014 (Blatt 80 ff. der Gerichtsakte) keine gegenteiligen Anhaltspunkte.
Da es somit auf die vom Kläger aufgeworfene Frage bezüglich dessen Urteils-, Kritik- und Einsichtsfähigkeit nicht entscheidungserheblich ankommt, konnte die erkennende Kammer von der Einholung des beantragten Sachverständigengutachtens absehen (Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG [11. Aufl. 2014], § 103 Rn. 8 m.w.N.).
Die Klage war somit nach alledem in vollem Umfang abzuweisen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens.


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