Steuerrecht

Auflösung einer für einen veräußerten Mitunternehmeranteil gebildete Rücklage

Aktenzeichen  13 K 1825/19

Datum:
10.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 50877
Gerichtsart:
FG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Finanzgerichtsbarkeit
Normen:
EStG § 6b
§ 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
3. Die Revision wird zugelassen.

Gründe

Die Klage ist unbegründet. Das Finanzamt hat zu Recht im Einkommensteuerbescheid 2010 die § 6b EStG Rücklage aufgelöst und einen Zuschlagsbetrag gemäß § 6b Abs. 7 EStG angesetzt.
1. Die Klage ist zulässig, obwohl die Einkommensteuer 2010 im Bescheid vom 8. Oktober 2018 mit 0 € festgesetzt ist. Denn die Kläger sind im Hinblick auf die gesonderte Verlustfeststellung gemäß § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG auch bei einem sog. Nullbescheid beschwert.
2. Die Änderung des Einkommensteuerbescheids 2010 vom 8. Oktober 2018 gemäß § 174 Abs. 4 AO war zulässig.
2.1. Ist aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen, der auf Grund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird, so können aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden (§ 174 Abs. 4 Satz 1 AO). Gemäß § 174 Abs. 3 AO ist der Ablauf der Festsetzungsfrist unbeachtlich, wenn die steuerlichen Folgerungen innerhalb eines Jahres nach Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften Steuerbescheids gezogen werden.
Durch § 174 AO soll die Finanzbehörde die Möglichkeit erhalten, in bestimmten Fällen der materiellen Richtigkeit Vorrang einzuräumen, indem vermieden wird, dass Steuerfestsetzungen bestehen bleiben, die inhaltlich zueinander im Widerspruch stehen (vgl. BFH-Urteil vom 28. Januar 2009 X R 27/07, BStBl. II 2009, 620). Die Vorschrift setzt hinsichtlich der verfahrensmäßigen Abfolge voraus, dass ein angefochtener Bescheid als irrig erkannt und deswegen auf Antrag des Steuerpflichtigen zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird. Dieser Umstand löst sodann die Rechtsfolge des § 174 Abs. 4 AO aus, nämlich, dass ein anderer Bescheid erlassen oder geändert werden kann. Die Vorschrift zieht somit die verfahrensrechtliche Konsequenz daraus, dass der andere Bescheid nunmehr eine „widerstreitende Steuerfestsetzung“ enthält, wie sie das Gesetz nach der amtlichen Überschrift zu § 174 AO voraussetzt (vgl. BFH-Urteile vom 11. Mai 2010 IX R 25/09, BStBl II 2010, 953 und vom 28. Januar 2009, X R 27/07, BStBl II 2009, 620; Beschluss des Großen Senats des BFH vom 10. November 1997 GrS 1/96, BStBl II 1998, 83).
Irrige Beurteilung eines Sachverhaltes bedeutet, dass sich die Beurteilung eines bestimmten Sachverhaltes nachträglich als unrichtig erweist (BFH-Urteile vom 19. November 2003 I R 41/02, BFH/NV 2004, 604). Unter einem „bestimmten“ Sachverhalt i.S. des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO ist der einzelne Lebensvorgang zu verstehen, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft. Der Begriff des bestimmten Sachverhalts ist dabei nicht auf eine einzelne steuererhebliche Tatsache oder ein einzelnes Merkmal beschränkt, sondern erfasst den einheitlichen, für diese Besteuerung maßgeblichen Sachverhaltskomplex. Unerheblich ist, ob der für die rechtsirrige Beurteilung maßgebliche Fehler im Tatsächlichen oder im Rechtlichen gelegen hat (BFH-Urteile vom 19. November 2003 I R 41/02, BFH/NV 2004, 604; vom 18. März 2004 V R 23/02, BStBl II 2004, 763; vom 2. Mai 2001 VIII R 44/00, BStBl II 2001, 562).
Die Vorschrift ermöglicht es den Finanzbehörden, im Falle der Aufhebung oder Änderung einer unrichtigen Steuerfestsetzung oder Feststellung von Besteuerungsgrundlagen auf Betreiben des Steuerpflichtigen den nunmehr unberücksichtigten Sachverhalt in dem richtigen Bescheid zu erfassen. Der Steuerpflichtige soll im Falle seines Obsiegens an seiner Auffassung festgehalten werden, soweit derselbe Sachverhalt zu beurteilen ist (BFH-Urteil vom 21. August 2007 I R 74/06, BStBl II 2008, 277). Die der Finanzbehörde durch § 174 Abs. 4 AO eingeräumte Möglichkeit, einen bestandskräftigen Steuerbescheid nachträglich zu ändern, findet ihre Rechtfertigung im fehlenden schutzwürdigen Vertrauen des Steuerpflichtigen. Denn derjenige, der erfolgreich für seine Rechtsansicht gestritten hat, muss auch die damit verbundenen Nachteile hinnehmen (vgl. BFH-Urteile vom 11. Mai 2010 IX R 25/09, BStBl. II 2010, 953; vom 28. Januar 2009 X R 27/07, BStBl. II 2009, 620 und vom 10. März 1999 XI R 28/98, BStBl. II 1999, 475). Die Einheitlichkeit des Lebenssachverhalts und das Interesse an seiner übereinstimmenden steuerrechtlichen Beurteilung erlauben es, unter diesen Voraussetzungen einer zutreffenden Besteuerung den Vorrang vor dem Schutz des Vertrauens auf die Bestandskraft der Steuerfestsetzung zu geben (vgl. BFH-Urteil vom 28. Januar 2009 X R 27/07, BStBl. II 2009, 620).
2.2. Unter der Berücksichtigung dieser Rechtsgrundsätze durfte das Finanzamt den Einkommensteuerbescheid 2010 vom 27. Oktober 2015 nach § 174 Abs. 4 AO ändern.
2.2.1. Der Feststellungsbescheid 2006 vom 29. Oktober 2010 war rechtswidrig, aber gleichwohl ein wirksamer Steuerbescheid, der vom Finanzamt … geändert wurde. Das Finanzamt … hat den Feststellungsbescheid 2006 vom 29. Oktober 2010 zutreffend – nach dem Wortlaut des Bescheids ausdrücklich – nach § 183 Abs. 2 AO an den Kläger einzeln bekanntgegeben. Mit seiner Bekanntgabe ist der Bescheid dem Kläger gegenüber mit dem bekannt gegebenen Inhalt wirksam.
2.2.1.1. Fehlen einem Steuerbescheid unverzichtbare wesentliche Bestandteile (§ 157 Abs. 1 Satz 2 AO), die dazu führen, dass dieser inhaltlich nicht hinreichend bestimmt ist (§ 119 Abs. 1 AO), so ist ein solcher Verwaltungsakt gemäß § 125 Abs. 1 AO nichtig und damit unwirksam (§ 124 Abs. 3 AO). Eine Heilung derartiger Fehler ist nicht möglich, vielmehr ist ein neuer Verwaltungsakt zu erlassen (BFH-Urteil vom 17. Juli 1986 V R 96/85, BStBl II 1986, 834).
2.2.1.2. Inhaltsadressat eines Feststellungsbescheides ist der Feststellungsbeteiligte, gegen den sich die Feststellungen richten (vgl. § 181 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 157 Abs. 1 Satz 2 AO). Der Feststellungsbeteiligte ist regelmäßig identisch mit demjenigen, dem der Gegenstand der Feststellung bei der Besteuerung zuzurechnen ist (vgl. § 179 Abs. 2 Satz 1 AO; BFH-Urteil vom 30. Januar 2018 VIII R 20/14, BStBl II 2018, 487). Im Streitfall ist Inhaltsadressat der Kläger.
Ein Gewinnfeststellungsbescheid richtet sich inhaltlich nicht an die Gesellschaft, sondern an die einzelnen Gesellschafter als Subjekte der Einkommensteuer (z.B. BFH-Urteil vom 27. Mai 2004 IV R 48/02, BStBl II 2004, 964). Gleichwohl ist ein solcher Bescheid grundsätzlich nach § 183 Abs. 1 AO einem von den Feststellungsbeteiligten bestellten gemeinsamen Empfangsbevollmächtigten mit Wirkung für und gegen alle Feststellungsbeteiligten bekannt zu geben. Ist ein Empfangsbevollmächtigter nach § 183 Abs. 1 Satz 1 AO vorhanden, kann gemäß § 183 Abs. 3 Satz 1 AO ein Feststellungsbescheid auch mit Wirkung gegenüber einem – wie im Streitfall – aus der Gesellschaft ausgeschiedenen Feststellungsbeteiligten bekannt gegeben werden, soweit und solange dieser Beteiligte nicht widersprochen hat. Andernfalls ist nach § 183 Abs. 2 Satz 1 AO gegenüber dem ausgeschiedenen Gesellschafter Einzelbekanntgabe erforderlich. Nach § 183 Abs. 2 Satz 2 AO bedeutet dies, dass dem Feststellungsbeteiligten der Gegenstand der Feststellung, die alle Beteiligten betreffenden Besteuerungsgrundlagen, sein Anteil, die Zahl der Beteiligten und die ihn persönlich betreffenden Besteuerungsgrundlagen bekannt zu geben sind. Der gesamte Inhalt des Feststellungsbescheids ist dem Beteiligten nur bei berechtigtem Interesse bekannt zu geben (§ 183 Abs. 2 Satz 3 AO; vgl. BFH-Urteil vom 19. Juli 2011 IV R 42/10, BStBl II 2011, 878).
2.2.1.3. Die Einzelbekanntgabe des Bescheids vom 29. Oktober 2010 wird diesen Anforderungen gerecht. Der Kläger hat gegenüber dem Feststellungsfinanzamt ausdrücklich die Einzelbekanntgabe beantragt, da der Kläger zum 30. Juni 2006 aus der Gesellschaft ausgeschieden ist und nach dem Ausscheiden verschiedene Meinungsverschiedenheiten mit den Erwerbern der Gesellschaftsanteile aufgetreten sind (vgl. Schreiben des Prozessbevollmächtigten vom 11. März 2008 Bl. 41 ff. Klageakte).
Der Kläger ist als Inhaltsadressat des Feststellungsbescheids vom 29. Oktober 2010 ausdrücklich genannt (sowohl im Anschriftenfeld als auch auf Seite 2 bei Aufteilung der Besteuerungsgrundlagen für den Gesellschafter). Im Streitfall handelt es sich um einen an den Kläger einzeln bekannt gegebenen Bescheid, so dass unzweifelhaft ist, an wen sich der Bescheid richtet. Dass die Gesellschaft, die nicht Inhaltsadressat eines Feststellungsbescheids ist, unter dem Insolvenzverfahren und Insolvenznummer genannt ist, macht den Feststellungsbescheid nicht unwirksam. Denn der Kläger als Inhaltsadressat konnte erkennen, dass sich der Bescheid auf seine Beteiligung an der A-KG bezieht (vgl. BFH-Beschluss vom 17. Juni 2014 IV B 184/13, BFH/NV 2014, 1563).
Der Bescheid entspricht inhaltlich den Anforderungen des § 183 Abs. 2 Satz 2 AO, denn er enthält den Gegenstand der Feststellung, die alle Beteiligten betreffenden Besteuerungsgrundlagen (u.a. Einkünfte aus Gewerbebetrieb), die Zahl der Beteiligten, den Anteil des Klägers sowie die ihn persönlich betreffenden Besteuerungsgrundlagen. Die Einkünfte des Klägers aus Gewerbebetrieb sind auch gesondert vor und nach Anwendung des § 15a EStG dargestellt.
Das Finanzamt … erließ den Feststellungsbescheid vom 29. Oktober 2010 gegenüber dem Kläger auch mit Bekanntgabewille. Anhaltspunkte dafür, dass der Feststellungsbescheid vom 29. Oktober 2010 vom Finanzamt … nicht zu dem Zweck übersendet worden ist, die an eine Bekanntgabe geknüpften Rechtsfolgen herbeizuführen, sondern nur der Information des Empfängers über den Inhalt eines bei den Akten befindlichen Schriftstücks dienen soll (vgl. BFH-Urteil vom 18. März 2014 VIII R 9/10, BStBl II 2014, 748), liegen im Streitfall nicht vor. So ist auf der vom Finanzamt vorgelegten Kopie der Verfügung ausdrücklich das Datum des Bescheids, der Vorbehaltsvermerk und unter Erläuterungen der Änderungsvermerk händisch korrigiert und ein Verfügungsvermerk angebracht. Selbst der Kläger geht in seinem Einspruchsschreiben vom „17. September 2010“ davon aus, dass er Einspruch gegen einen Feststellungsbescheid einlegt (Bl. 56 ff Klageakte: „namens und im Auftrag unseres o.g. Mandanten legen wir Einspruch gegen die o.g. Feststellungsbescheide (Feststellungsbescheide 2005/2006 vom 29. Oktober 2010) ein…“).
Dass der Feststellungsbescheid 2006 vom 29. Oktober 2010 nur noch als Verfügung und ohne Seite 3 (Erläuterungen) vom Finanzamt … vorgelegt werden konnte, führt nicht zur Unwirksamkeit des Bescheids. Selbst wenn dem Bescheid eine Rechtsbehelfsbelehrunggefehlt haben sollte, macht dies den Bescheid nicht unwirksam, sondern verlängert gemäß § 356 Abs. 2 AO die Einspruchsfrist auf ein Jahr. Da der Feststellungsbescheid 2006 vom 29. Oktober 2010 unstreitig an den Kläger ergangen ist, kann in den Akten nur noch ein Entwurf, Abdruck oder sonstige Zweitschrift bzw. Kopie vorhanden sein. Weiter ist unstreitig, dass der Kläger gegen den Feststellungsbescheid 2006 innerhalb der Einspruchsfrist mit Schreiben vom 17. September 2010, eingegangen am 12. November 2010, Einspruch eingelegt hat (Bl. 56 ff. Klageakte). Dass im Feststellungsbescheid 2006 vom 29. Oktober 2010 beim Kläger die Verteilungsquote ab 01.05.2006 mit 0/100 angegeben ist, obwohl der Kläger laut Bescheid erst am 30. Juni 2006 ausgeschieden ist, macht den Bescheid nicht unwirksam.
2.2.2. Die Änderung des Feststellungsbescheids 2006 erfolgte gemäß § 164 Abs. 2 AO im Rahmen des Einspruchsverfahrens mit Bescheid vom 24. November 2017 aufgrund eines Rechtsbehelfs des Klägers.
Der Kläger verfolgte mit seinem Einspruch vom 17. September 2010, eingegangen am 12. November 2010, das Ziel der Bildung einer Rücklage gemäß § 6b EStG i.H. des mit der Veräußerung seines KG-Anteils entstandenen Gewinns. Die Nichtberücksichtigung einer § 6b EStG-Rücklage im Feststellungsbescheid vom 29. Oktober 2010 war objektiv unzutreffend, wovon letztlich auch das Finanzamt … im Einspruchsverfahren ausging.
Der Beklagte hat aufgrund irriger Beurteilung des Sachverhalts die Auflösung der § 6b EStG-Rücklage bei der Veranlagung des Streitjahres nicht berücksichtigt. Durch die Bildung einer Rücklage gemäß § 6b EStG soll die Versteuerung aufgedeckter stiller Reserven nur hinausgeschoben, aber nicht beseitigt werden. Da laut Feststellungsbescheid 2006 vom 29. Oktober 2010 fehlerhaft keine Rücklage für den Kläger berücksichtigt war, hat das für die Einkommensteuer zuständige Finanzamt irrig nicht die Auflösung der Rücklage berücksichtigt. Dabei handelt es sich bei Bildung der Rücklage und dessen späteren Auflösung um einen Lebenssachverhalt, an den das Gesetz die steuerlichen Folgen knüpft. Der bestimmte Sachverhalt ist nicht periodenbezogen beschränkt (BFH-Urteil vom 14. November 2012 I R 53/11, BFH/NV 2013, 690). Mit der Bildung einer Rücklage ist aber gemäß § 6 Abs. 3 EStG auch immer entweder eine Übertragung auf andere Wirtschaftsgüter oder die Auflösung verbunden.
2.2.3. Diese „einseitige“ Wirkung der Regelung des § 174 Abs. 4 AO steht letztlich im Einklang mit dem Zweck der Vorschrift, wonach bei einer antragsgemäßen Änderung des Steuerbescheides zu Gunsten des betroffenen Steuerpflichtigen der Finanzverwaltung die Durchsetzung des sich aus demselben Sachverhalt ergebenden materiell-rechtlich richtigen Steueranspruchs ermöglicht werden soll (vgl. BFH-Urteil vom 24. März 1981 VIII R 85/80, BStBl II 1981, 778; vgl. auch BTDrucks VI/1982, 153, 154). Diese ungleiche Berücksichtigung ist Ausfluss des vom Gesetzgeber vorgenommenen Ausgleichs zwischen Bestandskraft und materieller Gerechtigkeit. Der Gesetzgeber hat bei der Abwägung dieser beiden Prinzipien dem Prinzip der materiellen Gerechtigkeit in den Fällen des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO den Vorzug gegeben. Es ist nicht Aufgabe der Gerichte, diese verfassungsrechtlich unbedenkliche Abwägung des Gesetzgebers zu korrigieren (BFH-Urteil vom 14. November 2012 I R 53/11, BFH/NV 2013, 690).
2.2.4. Der Einkommensteueränderungsbescheid vom 8. Oktober 2018, zuletzt geändert am 10. Juni 2021, ist selbst bei Angabe einer fehlerhaften Änderungsgrundlage (hier: § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. AO) rechtmäßig, falls er durch den Tatbestand einer anderen Änderungsvorschrift gedeckt ist (vgl. BFH-Beschluss vom 12. August 2013 X B 196/12, BFH/NV 2013, 1761). In der Einspruchsentscheidung hat das Finanzamt auf die Änderungsvorschrift des § 174 Abs. 4 AO verwiesen.
3. Da die Voraussetzungen des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO vorlagen, durfte das Finanzamt durch Erlass des Änderungsbescheids für das Streitjahr 2010 die zutreffenden steuerlichen Konsequenzen ziehen. Die vom Kläger im Feststellungsbescheid 2006 gebildete Rücklage war nach Ablauf des Vierjahreszeitraums gemäß § 6b Abs. 3 Satz 5 EStG vom Finanzamt zu Recht i.H.v. 1. 006.814,34 € im Streitjahr 2010 gewinnerhöhend aufzulösen und ein Zuschlag i.H.v. 241.635,44 € gemäß § 6b Abs. 7 EStG anzusetzen. Anhaltspunkte für Reinvestitionsmaßnahmen, die zu einer Übertragung der Rücklage nach § 6b Abs. 1 EStG berechtigt oder einer Auflösung im Streitjahr 2010 entgegengestanden hätten, sind weder vorgetragen noch aus den Akten ersichtlich.
3.1. Nach § 6b Abs. 1 EStG können Gewinne aus der Veräußerung von Grund und Boden u.a. von den Anschaffungskosten des Grund und Bodens, die im Wirtschaftsjahr der Veräußerung oder im vorangegangenen Wirtschaftsjahr entstanden sind, abgezogen werden. Soweit ein Abzug nicht vorgenommen wird, kann nach § 6b Abs. 3 EStG im Wirtschaftsjahr der Veräußerung eine den steuerlichen Gewinn mindernde Rücklage gebildet werden. Bis zur Höhe der Rücklage können sodann die Anschaffungs- oder Herstellungskosten nach § 6b EStG begünstigter Wirtschaftsgüter, die in den folgenden vier Wirtschaftsjahren angeschafft oder hergestellt werden, im Wirtschaftsjahr ihrer Anschaffung oder Herstellung gekürzt werden. In Höhe des Kürzungsbetrags ist die Rücklage aufzulösen. Ist eine Rücklage am Schluss des vierten auf ihre Bildung folgenden Wirtschaftsjahrs noch vorhanden, ist sie nach § 6b Abs. 3 Satz 5 EStG zu diesem Zeitpunkt mit einem Gewinnzuschlag nach § 6b Abs. 7 EStG von 6% für jedes volle Wirtschaftsjahr, in dem die Rücklage bestanden hat, gewinnerhöhend aufzulösen.
Die Auflösung einer bei Veräußerung oder Aufgabe des ganzen Gewerbebetriebs gebildeten Rücklage führt zu einkommensteuerpflichtigen nachträglichen gewerblichen Einkünften gemäß § 24 Nr. 2 EStG (BFH-Urteil vom 4. Februar 1982 IV R 150/78, BStBl II 1982, 348).
3.2. Im Rahmen der Veräußerung seines Gesellschaftsanteils an der A-KG hat der Kläger für den Veräußerungsgewinn eine Rücklage gemäß § 6b EStG gebildet. Diese Rücklage hat das Finanzamt … schließlich im Feststellungsbescheid 2006 der A-KG vom 24. November 2017 einheitlich und gesondert festgestellt. Dieser Feststellungsbescheid 2006 war Grundlagenbescheid für die Einkommensbesteuerung der Kläger im Jahr 2006.
3.2.1. Eine Rücklage nach § 6b Abs. 3 EStG kann auch mit dem Ziel gebildet werden, den beim Ausscheiden eines Gesellschafters (Mitunternehmer) aus einer Personengesellschaft anfallenden Veräußerungsgewinn zu vermeiden. Darüber entscheidet das für die Feststellung des Gewinns der Gesellschaft zuständige Finanzamt, aus der der Gesellschafter ausgeschieden ist (BFH-Urteil vom 25. Juli 1979 I R 175/76, BStBl II 1980, 43).
Rücklagen i.S. des § 6b Abs. 3 EStG sind in der für die Mitunternehmerschaft aufzustellenden Bilanz zu bilden. Das gilt auch für ausgeschiedene Gesellschafter (BFH-Urteil vom 25. Januar 2006 IV R 14/04, BStBl II 2006, 418). Der Ansicht der Finanzverwaltung Schleswig-Holstein, dass bereits die Bildung der § 6b-Rücklage bei Veräußerung eines gesamten Mitunternehmeranteils auf der Ebene des veräußernden Gesellschafters durch Abgabe entsprechender Bilanzen im Rahmen seiner Einkommensteuererklärung auszuüben ist, kann nicht gefolgt werden (FinMin Schleswig-Holstein vom 2. September 2014 VI 306-S. 2139-134, DStR 2014, 2180).
Die Bildung einer Rücklage ist auch möglich, wenn wegen der Aufgabe des Betriebs eine Reinvestition nicht mehr in Betracht kommt. Nach der Rechtsprechung des BFH ist bei einer Betriebsveräußerung oder Betriebsaufgabe eine Reinvestitionsabsicht nicht erforderlich. Es genügt, dass die spätere Übertragung der Rücklage auf ein begünstigtes Reinvestitionsobjekt am Bilanzstichtag objektiv möglich ist (BFH-Urteil vom 12. Dezember 2000 VIII R 10/99, BStBl II 2001, 282). Der Steuerpflichtige hat ein Wahlrecht, den Gewinn aus der Veräußerung eines Mitunternehmeranteils entweder im Zeitpunkt der Realisierung tarifbegünstigt zu versteuern oder nach Maßgabe des § 6b EStG unabhängig von einer konkreten Reinvestitionsabsicht durch Rücklagenbildung die Versteuerung zeitlich hinauszuschieben. Allerdings unterliegen im letztgenannten Fall die Einkünfte aus der Auflösung der im Zuge der Veräußerung des Mitunternehmeranteils gebildeten Rücklage nicht mehr der gerade aus dieser Veräußerung abgeleiteten Tarifvergünstigung. Aus der Verzichtbarkeit einer konkreten Reinvestitionsabsicht folgt zugleich, dass es auf die Gewinnerzielungsabsicht des Betriebes, auf dessen Wirtschaftsgüter die stillen Reserven nach Auskunft des Steuerpflichtigen übertragen werden sollen, nicht ankommt (BFH-Urteil vom 7. März 1996 IV R 34/95, BStBl II 1996, 568).
3.2.2. Das Finanzamt durfte im Einkommensteuerbescheid 2010 vom 8. Oktober 2018 die Einkünfte des Klägers aus Gewerbebetrieb um 1.248.450 € erhöhen.
3.2.2.1. Maßgeblich für die Bildung und Auflösung der § 6b EStG-Rücklage ist dabei grundsätzlich die Steuer- bzw. Sonderbilanz des „veräußernden“ Betriebs. Denn in diesem Betrieb ist der Veräußerungsgewinn angefallen, der durch die Bildung der Rücklage neutralisiert werden soll. Da die § 6b-Rücklage aber, wie dargelegt, ausschließlich der Neutralisation des Veräußerungsgewinns im Veräußerungsbetrieb dient, kann über das weitere Schicksal der Rücklage während des Reinvestitionszeitraums auch nur durch die Ausübung des Bilanzierungswahlrechts in diesem Betrieb entschieden werden. Für diese Beurteilung spricht auch die Regelung in § 6b Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 EStG. Danach muss die Bildung und Auflösung der Rücklage nach § 6b Abs. 3 EStG in der Buchführung verfolgt werden können. Da die Verfolgbarkeit in der Buchführung an die Buchführung im nämlichen Betrieb anknüpft, kommt insoweit nur die Behandlung der Rücklage und damit auch die Ausübung des Wahlrechts zur Auflösung im veräußernden Betrieb in Betracht (BFH-Urteil vom 19. Dezember 2012 IV R 41/09, BStBl II 2013, 313).
3.2.2.2. Im Streitfall durfte das Wohnsitzfinanzamt im Einkommensteuerbescheid 2010 vom 8. Oktober 2018 aber die durch die zwangsläufige Auflösung der § 6b-Rücklage entstandenen Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.H.v. 1.248.450 € berücksichtigen, da der Kläger seit dem 30. Juni 2006 aus der Mitunternehmerschaft ausgeschieden ist und für die Gesellschaft am 15. September 2009 das Insolvenzverfahren eröffnet wurde.
Im Streitfall hat das Finanzamt … die Rücklage nach § 6b EStG für einen reinvestitionsfähigen, im Veräußerungsgewinn für den Mitunternehmeranteil enthaltenen Gewinn erstmals im Feststellungsbescheid 2006 vom 24. November 2017 gebildet. Die spätere gewinnerhöhende Auflösung der Rücklage führt zu nachträglichen, nicht i.S.d. §§ 16, 34 EStG begünstigten Einkünften (vgl. BFH-Urteil vom 4. Februar 1982 IV R 150/78, BStBl II 1982, 348). Diese nachträglichen Einkünfte sind im Streitfall, anders als für nachträgliche Sondervergütungen ausdrücklich in § 15 Abs. 1 Satz 2 EStG geregelt, nicht mehr Gegenstand des Feststellungsverfahren.
Zwar wird die Ansicht vertreten, dass auch nach dem Ausscheiden aus einer Mitunternehmerschaft die § 6b-Rücklage im Rahmen der Gewinnermittlung der Personengesellschaft fortzuführen ist (Schießl in Blümich, EStG, § 6b EStG Rn. 291; Bolk in DStR 2015, 1355). Im Falle der Veräußerung des ganzen Mitunternehmeranteils ist aber die Auflösung der Rücklage durch das Finanzamt des Gesellschafters zulässig (Loschelder in Schmidt, EStG, § 6b EStG Rn. 58; Carle/Strahl in Korn § 6b EStG Rn. 30.2; Neu/Hamacher GmbHR 2016, 1). Denn die nachträglichen Einkünfte nach § 24 Nr. 2 EStG aus der Auflösung der § 6b Rücklage sind nicht mehr einheitlich und gesondert festzustellen. Da der Kläger nicht mehr an der A-KG beteiligt ist, konnte das Finanzamt … nicht im Rahmen des Feststellungsverfahren durch Feststellungsbescheid über die Fortführung bzw. Auflösung der § 6b-Rücklage des Klägers entscheiden. Zwar ist nach der Rechtsprechung des BFH das Bilanzierungswahlrecht durch entsprechenden Bilanzansatz im „veräußernden“ Betrieb auszuüben, so dass für das Schicksal der Rücklage maßgeblich auf die Bilanz des veräußernden Betriebs abzustellen ist. Da die Verfolgbarkeit in der Buchführung an die Buchführung des nämlichen Betriebs anknüpft, kommt insoweit nur die Behandlung der Rücklage und damit auch die Ausübung des Wahlrechts zur Auflösung im veräußernden Betrieb in Betracht (BFH-Urteil vom 19. Dezember 2012 IV R 41/09 BStBl II 2013, 313). Im Fall des BFH ist aber anders als im Streitfall der Steuerpflichtige weiterhin an der Mitunternehmerschaft beteiligt und übt dadurch sein Bilanzierungswahlrecht in der beim Finanzamt eingereichten Bilanz aus. Im Streitfall dagegen ist der Kläger nach dem Ausscheiden zum 30. Juni 2006 nicht mehr Gesellschafter der A-KG. An den Feststellungsverfahren der Folgejahre war der Kläger nicht mehr als Gesellschafter beteiligt. Außerdem wurde im Streitfall bereits am 15. September 2009 das Insolvenzverfahren über das Vermögen der A-KG eröffnet, die gebildete § 6b-Rücklage aber erst mit Bescheid vom 24. November 2017 einheitlich und gesondert festgestellt. Für die Auflösung durch den Beklagten spricht auch, dass der Kläger im Streitfall gerade nicht sein Wahlrecht zur Übertragung oder Auflösung der Rücklage gegenüber dem Finanzamt … ausgeübt hat, sondern das Wohnsitzfinanzamt die Rücklage zwangsläufig wegen Fristablaufs auflöste. So ist auch nach Ansicht der Finanzverwaltung bei der Bildung einer Rücklage nach § 6b EStG i.R. der Veräußerung eines ganzen Mitunternehmeranteils das Bilanzierungswahlrecht für die Fortführung und Auflösung der § 6b Rücklage auf der Ebene des veräußernden Mitunternehmers im Rahmen seiner Einkommensteuererklärung auszuüben. Ist die Reinvestitionsfrist abgelaufen und ist keine entsprechende Übertragung oder freiwillige Auflösung erfolgt, muss das Wohnsitzfinanzamt die Rücklage unter Beachtung der Verzinsungsregelung des § 6b Abs. 7 EStG erfolgswirksam auflösen (vgl. Bl. 3 ff. Rechtsbehelfsakte).
3.3. Hinsichtlich der Zinshöhe schließt sich der Senat bei der Berechnung der Jahre bis 2010 der Rechtsauffassung des BFH (BFH-Urteil vom 29. April 2020 XI R 39/18, BFH/NV 2020, 1149) an. Dem Rechtsschutzbedürfnis der Kläger ist durch den geänderten Einkommensteuerbescheid 2010 vom 10. Juni 2021 durch den Vorläufigkeitsvermerk bezüglich des Zuschlagsbetrags gemäß § 6b Abs. 7 EStG ausreichend Rechnung getragen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Revision war nach § 115 Abs. 2 FGO im Hinblick auf das beim BFH anhängige Verfahren IV R 7/19 zuzulassen.


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