Steuerrecht

Rechtmäßigkeit von Vollstreckungsmaßnahmen

Aktenzeichen  10 K 712/17

Datum:
18.12.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
EFG – 2018, 521
Gerichtsart:
FG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Finanzgerichtsbarkeit
Normen:
AO § 287 Abs. 4, § 346 Abs. 1

 

Leitsatz

Wird eine den vollstreckbaren Anspruch nach Grund und unter Angabe der jeweiligen Vollstreckungsersuchen mit Datum und Geschäftszeichen bezeichnende, jedoch die Höhe des vollstreckbaren Anspruchs nicht benennende Durchsuchungsanordnung nach der Durchführung von Pfändungsmaßnahmen durch das ordentliche Gericht aufgehoben, werden die während des Bestehens der Durchsuchungsanordnung durchgeführten Pfändungsmaßnahmen nicht rückwirkend rechtswidrig.

Tenor

1. Es wird festgestellt, dass die Sachpfändung vom 11. April 2016 rechtswidrig war, soweit für Vollstreckungsersuchen vom 3. Februar 2016 des Bayerischen Polizeiverwaltungsamtes – Zentrale Bußgeldstelle (…) sowie vom 14. März 2016 des Landratsamtes X (…) in Höhe von 596,50 € gepfändet wurde, für die kein richterlicher Durchsuchungsbeschluss vorlag. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Gründe

II.
Die Klage ist nur teilweise begründet.
1. Die auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Vollstreckungsmaßnahmen vom 28. Januar und vom 11. April 2016 gerichtete Fortsetzungsfeststellungsklage ist zulässig.
a) Der Kläger hat eine Fortsetzungsfeststellungsklage gemäß § 100 Abs. 1 Satz 4 Finanzgerichtsordnung (FGO) erhoben. Nach dieser Vorschrift spricht das Gericht, wenn sich der Verwaltungsakt durch Zurücknahme oder anders erledigt hat, auf Antrag durch Urteil aus, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.
Die Statthaftigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage setzt nicht voraus, dass von einer zunächst erhobenen Anfechtungsklage wegen Erledigung des Verwaltungsakts zu ihr „übergegangen“ wird. Sie ist auch dann zulässig, wenn die Erledigung schon vor Einlegung des außergerichtlichen Rechtsbehelfs und vor Klageerhebung eingetreten ist (vgl. Bundesfinanzhof -BFH-Urteile vom 5. April 1984 IV R 244/83, BFHE 140, 518, BStBl II 1984, 790; vom 19. Dezember 1989 VII R 30/89, BFH/NV 1990, 710).
Die Fortsetzungsfeststellungsklage i.S. des § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO ist ein Unterfall der Anfechtungsklage (§ 40 Abs. 1 1. Alt. FGO); deshalb müssen alle für die Anfechtungsklage in der FGO vorgeschriebenen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sein, mithin auch die Durchführung eines außergerichtlichen Vorverfahrens (vgl. § 44 FGO) bis zum Eintritt des die Hauptsache erledigenden Ereignisses (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 30. August 1994 IX R 65/91, BFH/NV 1995, 517).
b) Im Streitfall ist die Fortsetzungsfeststellungsklage statthaft und zulässig.
Unschädlich ist, dass das erledigende Ereignis (hier: die Aufhebung der Pfändungen durch das FA mit Bescheid vom 12. Mai 2016) schon vor Erhebung der Klage eingetreten ist (vgl. auch Steinhauff in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Stand September 2012, § 41 FGO Rz. 99 m.w.N.).
Das erforderliche Vorverfahren ist auch durchgeführt. Der Kläger hat mit Einspruchsschreiben vom 12. April 2016, beim FA eingegangen am 26. April 2016, Einsprüche eingelegt. Ein Einspruch ist gegen den Verwaltungsakt der Sachpfändung (in „anderer Weise“ gemäß § 119 Abs. 1 Satz 1 AO, vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 26. April 1983 VII S 2/83, juris) und gegen den Verwaltungsakt der Abholung gepfändeter Sachen und gegen die Anschlusspfändung als Pfändung (vgl. Fischer in Leopold/Madle/Rader, Abgabenordnung, Stand Oktober 2012, Vorbem. Zu §§ 249 ff, Rz. 35) auch das statthafte Rechtsmittel. Das Einspruchsverfahren ist mit Einspruchsentscheidung vom 10. Februar 2017 abgeschlossen worden.
Auch das erforderliche Feststellungsinteresse liegt nach Auffassung des Gerichts vor. Denn zum einen trägt der Kläger substantiiert vor, dass ein Schadensersatzprozess alsbald angestrengt werden wird. Den für den Kläger entstandenen Schaden hat dieser mit Nutzungsausfallentschädigungen (6.004 € für Pkw und 3.420 € für Motorrad jedenfalls vom 28. Januar 2016 bis 12. April 2016) sowie einem Schaden an fünf Türen in Höhe von 2.700 € beziffert. Zudem ist für das abgetrennte Klagebegehren „Herausgabe des Pkw beim Verwahrer“ die Frage der Rechtswidrigkeit der Pfändungsmaßnahme hinsichtlich des Pkw von Bedeutung.
c) Das Rechtsschutzbedürfnis entfällt auch nicht wegen entgegenstehender Rechtskraft.
Zwar ist im Streitfall mit Urteil aufgrund der mündlichen Verhandlungen vom 20. Januar und 24. Februar 2017 bereits eine Klage abgewiesen worden, bei der der Kläger beantragt hatte, „festzustellen, dass die vom Finanzamt am 28.01.2016 und 11.04.2016 durchgeführten Vollstreckungsmaßnahmen rechtswidrig und unverhältnismäßig gewesen sind“ (Az. …). Diese Klage ist jedoch hinsichtlich dieses Feststellungsbegehrens unzulässig gewesen (…).
Bei einem Prozessurteil, also bei Abweisung der Klage als unzulässig, erwächst jedoch nur die Entscheidung, dass der materiellen Prüfung des Streitgegenstands ein (bestimmtes) prozessuales Hindernis entgegensteht, in Rechtskraft (Bundesverwaltungsgericht – BverwGUrteil vom 10. April 1968 IV C 160.65, NJW 1968, 1795). Wird dieses – wie im Streitfall wegen Durchführung des Vorverfahrens – beseitigt, ist eine erneute Klage zulässig.
d) Das Gericht legt die Anträge des Klägers so aus, dass er die Rechtswidrigkeit der Sachpfändungen vom 28. Januar und 11. April 2016 festgestellt haben will. Seine wörtlichen Anträge legt das Gericht als Begründungen des Antrags auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Sachpfändungen vom 28. Januar und 11. April 2016 aus.
2. Die auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Vollstreckungsmaßnahmen vom 28. Januar und vom 11. April 2016 gerichtete Fortsetzungsfeststellungsklage ist nur teilweise begründet.
Denn die vom FA durchgeführten Pfändungsmaßnahmen vom 28. Januar 2016 waren rechtmäßig. Die vom FA durchgeführten Pfändungsmaßnahmen vom 11. April 2016 waren nicht rechtmäßig, soweit für Vollstreckungsersuchen in Höhe von 596,50 € gepfändet wurde, für die kein richterlicher Durchsuchungsbeschluss vorlag (Vollstreckungsersuchen vom 3. Februar 2016 des Bayerischen Polizeiverwaltungsamtes – Zentrale Bußgeldstelle … sowie vom 14. März 2016 des Landratsamtes X Mahnungsnummer: …).
a) Die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen (§§ 249, 254 AO) lagen vor. Insbesondere war der Kläger erfolglos aufgefordert worden, die Rückstände in Höhe von 1.664,22 € zu begleichen. Das Vorbringen des Klägers, ihm sei das Bestehen der Forderungen nicht einmal mitgeteilt worden, ist angesichts der von Beamten des FA in den Briefkasten des Klägers eingelegten Aufforderungen zur Zahlung, zuletzt vom 12. November 2015 über 1.718,54 € (Vollstreckungsersuchen über 1.664,22 € und Vollstreckungskosten über 54,32 €) nicht glaubhaft.
Dass der Kläger auch die durch den Vollziehungsbeamten des FA eingeworfenen Schreiben nicht erhalten hat, hält das Gericht ebenfalls nicht für glaubhaft, da an seinem Grundstück ein Briefkasten mit … beschriftet ist und der andere, am Grundstück angebrachte Briefkasten ein anderes Vornamenkürzel aufführt. Dass ein Vollziehungsbeamter Schreiben an den Kläger in den falschen Briefkasten einwerfen soll, erscheint dem Gericht höchst unwahrscheinlich.
Bei der Anschlusspfändung vom 11. April 2016 über weitere, zwischenzeitlich eingegangene Vollstreckungsersuchen genügt die Mitteilung an den Kläger (§ 307 Abs. 1 Satz 2 AO).
Soweit der Kläger Einwendungen gegen die Vollstreckungsersuchen vorbringt, derentwegen vollstreckt wird, sind diese außerhalb des Vollstreckungsverfahrens mit den hierfür zugelassenen Rechtsbehelfen zu verfolgen (§ 256 AO).
Sollte der Kläger mit diesem Einwand darauf verweisen wollen, dass die zu vollstreckenden Forderungen tatsächlich nicht existierten, so durfte sich das FA auf die Erklärung der um Vollstreckung ersuchenden Behörden verlassen, wonach deren Forderungen jeweils fällig und vollstreckbar seien (…).
Sollte der Kläger mit diesem Einwand darauf verweisen wollen, dass ihm die Bescheide mit den Festsetzungen der Forderungen jeweils nicht wirksam bekannt gegeben worden wären, so kann dieser pauschale und unsubstantiierte Einwand bei zehn zu vollstreckenden Bescheiden von vier verschiedenen Gläubigern nicht überzeugen. Zum einen ist schon unglaubhaft, dass zehn Bescheide sowie weitere zehn Mahnungen von vier verschiedenen Gläubigern nicht zugegangen sein sollen. Zum anderen spricht das Verhalten des Klägers dagegen, der bei Hinterlegung der Auflistung der Rückstände durch den Vollziehungsbeamten nicht die Rücksprache mit dem FA gesucht hat.
b) Die vom FA durchgeführten Sachpfändungen (vom 28. Januar und 11. April 2016) begegnen im Hinblick auf die vom Kläger beanstandete Überpfändung keinen rechtlichen Bedenken.
aa) Nach § 281 Abs. 2 AO darf die Pfändung nicht weiter ausgedehnt werden, als es zur Deckung der beizutreibenden Geldbeträge und der Kosten der Vollstreckung erforderlich ist.
Um eine Überpfändung zu verhindern, ist der Vollziehungsbeamte angewiesen, die von ihm geschätzten Werte der gepfändeten Gegenstände laufend zusammenzurechnen und mit dem beizutreibenden Betrag zu vergleichen (Abschn. 48 Abs. 1 Nr. 4 Allgemeine Verwaltungsvorschrift für Vollziehungsbeamte der Finanzverwaltung / Vollziehungsanweisung – VollzA – i.V.m. Abschn. 41 Abs. 1 VollzA). Bei der Schätzung ist nach wirtschaftlicher Betrachtungsweise auf die vermutlichen Verwertungserlöse – das sind nach § 295 Satz 1 AO i.V.m. § 813 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) die gewöhnlichen Verkaufswerte – abzustellen. Erforderlichenfalls ist für die Schätzung, vor allem bei Kostbarkeiten, ein Sachverständiger heranzuziehen oder zu befragen (vgl. zum Ganzen Müller-Eiselt in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, AO, Stand Juni 2014, § 281 Rz. 24 m.w.N.). Eine Überpfändung liegt allerdings nicht schon dann vor, wenn der von einem Sachverständigen ermittelte Schätzwert des Pfandgegenstands den Gläubigeranspruch samt Vollstreckungskosten übersteigt (Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen Urteil vom 11. März 1986 1 BA 95/85, NvwZ 1986, 762). Wird im Einspruchsverfahren Überpfändung geltend gemacht, so hat der Vollstreckungsschuldner unter Darlegung des Werts des gepfändeten Gegenstands die Überpfändung substantiiert darzulegen (BFH-Urteil vom 13. Januar 1987 VII R 80/84, BStBl II 1987, 251). Der Vollstreckungsgläubiger seinerseits hat seine Schätzung offen zu legen. Sie unterliegt der vollen gerichtlichen Kontrolle. Nur bei offensichtlichen und erheblichen Verstößen sollte die Pfändung aufgehoben werden (vgl. Müller-Eiselt in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, AO, Stand Juni 2014, § 281 Rz. 24 m.w.N.)
Nach Abschn. 41 Abs. 2 VollzA darf der Vollziehungsbeamte die Pfändung über die im Absatz 1 bezeichnete Grenze hinaus erstrecken, wenn der Vollstreckungsschuldner oder ein Dritter Einwendungen gegen die Pfändung bestimmter Sachen erhebt oder ankündigt und der Vollziehungsbeamte im Zweifel darüber ist, welche Pfandstücke zur Deckung der beizutreibenden Geldbeträge verwendbar bleiben werden.
Für eine Anschlusspfändung (§ 307 AO) gilt das Verbot der Überpfändung in noch geringerem Maße, weil diese Pfändung ohnehin nachrangig ist und erst mit Wegfall des vorrangigen Pfandrechts dessen Stelle einnehmen soll. (vgl. zum Ganzen Müller-Eiselt in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, Stand Juni 2014, § 281 Rz. 25 m.w.N.).
bb) Im Streitfall liegt die vom Kläger beanstandete Überpfändung nicht vor.
Insbesondere führt die Tatsache, dass in der Niederschrift über die Pfändung vom 11. April 2016 der geschätzte Wert der gepfändeten Fahrzeuge nicht angegeben ist, allein nicht zur Rechtswidrigkeit der Pfändung (Oberverwaltungsgericht des Saarlandes Beschluss vom 14. Juli 2006 3 W 4/06, NvwZ-RR 2006, 756).
Eine Überpfändung liegt auch nicht vor. Denn das FA hat den Wert des Pkw auf 4.000 bis 5.000 € eingeschätzt und den Wert des Motorrades mit höchstens 2.000 €. Es hat dabei – eine wirtschaftliche Betrachtungsweise zu Grunde legend (Bundesgerichtshof -BFH-Urteil vom 13. Oktober 1982 VIII ZR 260/81, DB 1982, 2684) – berücksichtigt, dass der Pkw 13 Jahre alt war und unklar war, ob es überhaupt fahrbereit war oder in einem nennenswerten Umfang Reparaturen erforderlich waren; diese Bedenken waren auch naheliegend, da der Pkw im Zeitpunkt der Abholung laut Schreiben der Versicherung bereits zwangsabgemeldet war. Auch die in der Niederschrift über die Pfändung auf der Rückseite dokumentierten Schäden belegten einen eher schlechten Zustand des Fahrzeugs. Das FA bzw. die Vollziehungsbeamtin durfte bei der Einschätzung auf seine/ihre Erfahrungen bei der Verwertung von Sachen und die Unwägbarkeiten bei einer Versteigerung abstellen und dabei insbesondere noch die Kosten für Abholung, Gutachter und Versteigerung einbeziehen. In Anbetracht dieser Unwägbarkeiten – nämlich einer möglichen Wertlosigkeit des Pkw – stellte auch die Pfändung des Motorrades keine rechtswidrige Überpfändung dar. Auch auf die Pfändung und Mitnahme des Motorrades allein – wie es sich der Kläger anscheinend wünschte – musste sich das FA nicht einlassen; denn eine Einschätzung eines Wertes von höchstens 2.000 € bedeutet auch das Risiko, bei einer eventuellen Versteigerung deutlich weniger – und damit möglicherweise nicht die zu vollstreckenden Rückstände samt Vollstreckungs-, Gutachter- und Versteigerungskosten – zu erzielen.
Die dagegen vom Kläger vorgebrachten Einwendungen – nämlich ein von ihm benannter Wert des Pkw von 10.000 € – sind dagegen zu unsubstantiiert, um von einer Überpfändung ausgehen zu können.
Im Übrigen hat der Kläger Einwendungen gegen die Pfändung insbesondere des Pkw erhoben bzw. angekündigt, so dass für die Vollziehungsbeamtin Zweifel blieben durften, welche Pfandstücke zur Deckung der beizutreibenden Geldbeträge verwendbar bleiben würden.
Auch die glaubwürdige Zeugin, die ohne Belastungseifer ausgesagt hat, hat bestätigt, dass bei der Pfändung am 28. Januar 2016 beide Fahrzeuge gepfändet wurden, weil bei großen Pkws oft nicht klar sei, ob es ein Leasingfahrzeug sei, während das bei Motorrädern seltener der Fall sei. Soweit die Zeugin weiter ausgesagt hat, am 11. April 2016 sei nur der Pkw mitgenommen worden, weil beide Fahrzeuge den Wert der Vollstreckungsersuchen „wohl“ überschritten hätten, versteht dies das Gericht dahin, dass die Zeugin nicht hinreichend sicher war, dass der Verwertungserlös des Pkw ausgereicht hätte und deshalb jedenfalls von der Pfändung auch des Motorrades nicht absehen wollte, sich zunächst aber als geringeren Eingriff für die Mitnahme nur des Pkw entschieden hat. Dementsprechend hat die Zeugin in der Niederschrift über die Anschlusspfändung vom 11. April 2016 auf Seite 5 oben auch nur notiert „laut VS liegt eine Überpfändung vor“. Das Gericht hält die Aussagen der Zeugin auch für glaubhaft; soweit sie sich nicht mehr erinnert hat, hat sie dies klar erklärt; soweit sie sich erinnert hat, stimmt dies mit den Angaben auf den Niederschriften über die Pfändung überein.
c) Die vom Finanzamt durchgeführten Sachpfändungen (vom 28. Januar und 11. April 2016) verstoßen auch nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
aa) Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit haben Maßnahmen zu unterbleiben, deren Wirkungen über das öffentliche Interesse an der Vollstreckung erheblich hinausgehen. Jeder Vollstreckungseingriff muss geeignet und erforderlich sein, seinen Zweck zu erreichen; er darf den Betroffenen aber nicht übermäßig belasten, muss diesem also zumutbar sein (vgl. zum Ganzen Kruse in Tipke/Kruse, AO, Stand Oktober 2014, § 249 Rz. 14 m.w.N.).
bb) Im Streitfall liegt kein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vor. Insbesondere verstieß auch das Öffnen von sechs mit Sicherheitsschlössern versehenen Türen, um den gepfändeten Pkw abschleppen zu können, nicht gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
Das Gesetz regelt bereits, dass verschlossene Türen geöffnet werden dürfen, § 287 Abs. 2 AO. Danach darf der Vollziehungsbeamte verschlossene Türen und Behältnisse öffnen lassen. Zudem hat der Kläger selbst in seinem Haus neben der Haustür fünf weitere Türen mit Sicherheitsschlössern gesichert. Wenn aber der Kläger – offensichtlich in Erwartung von Vollstreckungsmaßnahmen – der Vollstreckung derartigen Widerstand entgegensetzt, verstößt es jedenfalls im Streitfall nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn das FA zur Beseitigung dieses erhöhten Widerstands weitere kostenpflichtige Maßnahmen veranlasst. Dies gilt umso mehr, als ohnehin – nach fruchtlosen Vollziehungsversuchen vor Ort und fruchtlosen Pfändungen von Forderungen – nur in bewegliche Sachen vollstreckt worden ist (vgl. auch § 322 Abs. 3 AO als geringere Maßnahme vor Zwangsversteigerung und Zwangsverwaltung).
Zudem standen dem FA keine weniger belastenden Maßnahmen zur Verfügung. Die einzige Alternativmaßnahme hätte im Abbruch der Vollstreckungsmaßnahme bestanden. Dies widerspräche dem Prinzip der Gleichmäßigkeit der Besteuerung und führte zur Verhinderung eines wirkungsvollen Vollstreckungsverfahrens, zumal vorherige Vollstreckungsmaßnahmen erfolglos geblieben waren.
Insbesondere hätte eine weniger belastende Vollstreckungsmaßnahme nicht darin bestanden, lediglich das Motorrad aus der Garage zu schieben und mitzunehmen. Zum einen musste sich das FA nicht auf die Mitnahme eines möglicherweise für die zu vollstreckenden Forderungen samt Vollstreckungskosten nicht ausreichenden Pfandgegenstandes einlassen. Zum anderen hätte das Motorrad auch nicht aus der Garage geschoben werden können, weil es hinter dem quer eingeparkten Pkw stand, der ohne Auffinden des Autoschlüssels nicht rangiert werden konnte. Da das Auto nicht ohne Auffinden des Autoschlüssels rangiert und abgeschleppt werden konnte, musste der Autoschlüssel im Haus unter Öffnung von sechs mit Sicherheitsschlössern verschlossenen Türen gesucht werden. Der Autoschlüssel wiederum musste gesucht werden, weil der Kläger sich erst nach Öffnen von sechs Türen zeigte und auch danach behauptete, Autoschlüssel und Fahrzeugpapiere befänden sich nicht im Haus. Die Öffnung der Türen war zudem den von der Polizei vorgenommenen Sicherungsmaßnahmen in Anbetracht des Waffenbesitzes des Klägers geschuldet.
Der vorgenannte Sachverhalt ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts aus der glaubhaften Aussage der ohne Belastungseifer aussagenden, glaubwürdigen Zeugin. Diese hat geschildert, dass Pkw und Motorrad am 28. Januar 2016 gerade in der Garage standen, am 11. April 2016 jedoch der Pkw schräg und mit eingeschlagenen Rädern eingeparkt war und das Motorrad dahinter abgestellt war. Sie hat das anhand einer Skizze schemenhaft dargestellt. Das Gericht hält die Aussage auch deshalb für glaubhaft, weil dies mit der Darstellung der A. GmbH in Auftrag und Rechnung vom 11. April 2016 (…) zusammenpasst, wonach die Öffnung des Kfz mit „Goso“ nicht möglich war, mithin ohne Rangieren des Pkw in der Garage ein Abschleppvorgang nicht vorgenommen werden konnte und der Autoschlüssel nach 1,5 Stunden Warten im Keller gefunden worden ist.
d) Die Aufhebung des Durchsuchungsbeschlusses des Amtsgerichts X vom 8. Dezember 2015 durch den Beschluss des Landgericht Y vom 6. Juni 2016 macht die Pfändungen (vom 28. Januar und 11. April 2016) nach Auffassung des Senats ebenfalls nicht rückwirkend rechtswidrig, soweit aufgrund von Vollstreckungsersuchen gepfändet wurde, die im Durchsuchungsbeschluss aufgelistet waren. Jedoch ist die Pfändung vom 11. April 2016 insoweit rechtswidrig, als aufgrund von Vollstreckungsersuchen gepfändet wurde, die im Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts X vom 8. Dezember 2015 (in Höhe von 596,50 €) nicht aufgeführt waren (Vollstreckungsersuchen vom 3. Februar 2016 des Bayerischen Polizeiverwaltungsamtes – Zentrale Bußgeldstelle … sowie vom 14. März 2016 des Landratsamtes X Mahnungsnummer: …).
aa) Die Wohn- und Geschäftsräume des Vollstreckungsschuldners dürfen ohne dessen Einwilligung nur auf Grund einer richterlichen Anordnung durchsucht werden (§ 287 Abs. 4 Satz 1 AO). Dies gilt nicht, wenn die Einholung der Anordnung den Erfolg der Durchsuchung gefährden würde (§ 287 Abs. 4 Satz 2 AO).
bb) Der Senat ist der Auffassung, dass sich das FA darauf berufen kann, dass im Zeitpunkt der Durchsuchung (vom 28. Januar und 11. April 2016) und bis zum Beschluss des Landgerichts Y vom 6. Juni 2016 eine richterliche Durchsuchungsanordnung für Vollstreckungsersuchen über Rückstände in Höhe von insgesamt 1.664,22 € bestand.
Die wegen der Nichtbezeichnung der beizutreibenden Beträge formfehlerhafte Durchsuchungsanordnung des Amtsgerichts X steht einer Pfändung ohne richterliche Durchsuchungsanordnung nicht gleich (so auch FG Baden-Württemberg vom 28. August 1987 IX K 38/86 EFG 1988, 102; a.A. FG Berlin-Brandenburg vom 15. Dezember 2011 7 K 7007/08, EFG 2012, 1008; Müller-Eiselt in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 287 Rz 62; Kruse in Tipke/Kruse, AO, § 287 Tz 36).
Denn ein geringer Formfehler einer richterlichen Durchsuchungsanordnung ist mit einem Grundrechtseingriff ohne jegliche richterliche Durchsuchungsanordnung nicht vergleichbar. Dies gilt nach Auffassung des Senats jedenfalls im Streitfall, in dem der vollstreckbare Anspruch nach Grund und unter Angabe der jeweiligen Vollstreckungsersuchen mit Datum und Geschäftszeichen bezeichnet worden ist, jedoch der vollstreckbare Anspruch nicht der Höhe nach benannt worden ist. Das Erfordernis, den vollstreckbaren Anspruch in der Durchsuchungsanordnung auch der Höhe nach zu bezeichnen, soll dem Schutz des Schuldners vor einer Fortsetzung der Durchsuchung zur Durchsetzung anderer Ansprüche dienen, nachdem der Schuldner bereits Leistungen auf die zu vollstreckende Forderung erbracht hat (vgl. Oberlandesgericht Köln Beschluss vom 5. Juni 1992 2 W 37/92, DB 1992, 2341). Im Streitfall war dieses Risiko durch die Bezeichnung der Vollstreckungsersuchen nach Datum und Geschäftszeichen – die die Ansprüche der Höhe nach nicht austauschbar benannten – ausgeschlossen.
Der Senat legt dieser Würdigung die Wertung des Gesetzgebers, die in § 346 Abs. 1 AO zum Ausdruck gekommen ist, zu Grunde. Nach § 346 Abs. 1 AO sind Kosten, die bei richtiger Behandlung der Sache entstanden wären, nicht zu erheben. Dabei hält der Senat eine Sachbehandlung, die erfolgt, solange eine richterliche Durchsuchungsanordnung vorliegt und ein etwaiger Formfehler nicht offensichtlich ist, für richtig.
Der Vollstreckungsgläubiger steht in diesem Fall auch nicht zu Unrecht besser da als bei einer Durchsuchung, die er ohne die erforderliche richterliche Anordnung oder ohne Vorliegen von Gefahr im Verzug durchgeführt hat. In diesen Fällen ist anerkannt, dass die Durchsuchungshandlungen zwar nicht unwirksam oder nichtig, aber anfechtbar sind. Denn ein rechtswidriger Grundrechtseingriff ist bei einer Durchsuchung ohne richterliche Anordnung und ohne Gefahr im Verzug ohne weiteres erkennbar. Dagegen ist ein solcher nicht erkennbar, wenn – wie im Streitfall – keine offensichtlichen Formfehler vorliegen. Im Streitfall war der Formfehler sogar so geringfügig, dass das Amtsgericht X ihn nicht erkannt hat.
Zudem hätte der Formfehler, wäre er vorher bekannt geworden, ohne weiteres durch Erlass einer formfehlerfreien Durchsuchungsanordnung beseitigt werden können, weil die weiteren, an den Erlass einer Durchsuchungsanordnung zu stellenden Anforderungen ausweislich der Prüfung des Amtsgerichts X vorlagen. So liegt der Fall bei einer Durchsuchung ohne Durchsuchungsanordnung nicht; hier müssten erst sämtliche Voraussetzungen für den Grundrechtseingriff – mit dem Risiko, dass ein solcher nicht zulässig ist – geprüft werden.
cc) Jedoch bestand für die Sachpfändung vom 11. April 2016 keine Durchsuchungsanordnung, soweit Vollstreckungsersuchen über Rückstände in Höhe von weiteren 596,50 € (Vollstreckungsersuchen vom 3. Februar 2016 des Bayerischen Polizeiverwaltungsamtes – Zentrale Bußgeldstelle VE Nr. …sowie vom 14. März 2016 des Landratsamtes X Mahnungsnummer: …) im Wege einer Anschlusspfändung vollstreckt wurden und dabei Wohnräume des Klägers durchsucht wurden; es ist auch nicht ersichtlich, dass Gefahr im Verzug vorgelegen hätte (§ 287 Abs. 4 Sätze 1 und 2 AO; vgl. auch Seibel in Zöller, Zivilprozessordnung, Stand 2017, § 758a Rz. 28).
e) Die vom Kläger gegen die Höhe der Auslagen (Kosten Türöffnung, Kosten Abschleppen Pkw) vorgebrachten Einwände begründen nicht deren Rechtswidrigkeit.
aa) Im Vollstreckungsverfahren werden Kosten (Gebühren und Auslagen) erhoben, Schuldner dieser Kosten ist der Vollstreckungsschuldner (§ 337 Abs. 1 AO).
Nach § 344 Abs. 1 Nr. 5 AO werden als Auslagen erhoben: an die zum Öffnen von Türen und Behältnissen sowie an die zur Durchsuchung von Vollstreckungsschuldnern zugezogenen Personen zu zahlende Beträge; nach § 344 Abs. 1 Nr. 6 werden als Auslagen erhoben u.a. Kosten für die Beförderung, Verwahrung und Beaufsichtigung gepfändeter Sachen.
Zieht der Vollziehungsbeamte bei der Ausführung der Vollstreckung eine andere Hilfsperson, zum Beispiel einen Handwerker, Hüter oder Fuhrunternehmer, hinzu, so soll er mit der Hilfsperson, sofern sie ihre Dienste nicht unentgeltlich zur Verfügung stellt, bei Vertragsschluss eine Vergütung vereinbaren (Abschn. 18 Abs. 2 VollzA). In allen Fällen, in denen eine Vergütung vereinbart oder bestimmt wird, sind die Preise zu Grunde zu legen, die für derartige Leistungen ortsüblich sind (Abschn. 18 Abs. 4 Satz 1 VollzA).
bb) Die mit Schreiben vom 20. April 2016 benannten Kosten für Wohnungsöffnung in Höhe von 405,05 € und für Abschleppdienste in Höhe von 1.041,25 € sind nicht zu beanstanden.
Denn die Türöffnung am 28. Januar 2016 in Höhe von 90 € (inkl. Umsatzsteuer) entsprach laut Rechnung dem Notdiensttarif 1. Die Türöffnungen am 11. April 2016 entsprachen hinsichtlich der ersten Tür wiederum laut Rechnung dem Notdienst Tarif 1; die fünf weiteren zu öffnenden Türen wurden mit 37,82 € pro Tür berechnet; dies erscheint dem Senat in Anbetracht der zu überwindenden Sicherheitsschlösser nicht überhöht. Im Übrigen wurden die Türöffnungskosten der Höhe nach vom Kläger auch nicht substantiiert beanstandet.
Die Kosten für das Abschleppen des Pkw bewegten sich innerhalb eines angemessenen und ortsüblichen Rahmens. So wurden für den um 10.30 Uhr beginnenden Einsatz 190 € / Stunde als Einsatzkosten für einen Lkw für Fahrzeugbeförderung (…) und 105 € /Stunde für das Zusatzpersonal (Fachkraft SKP = Fachkraft zur Behebung technischer Störungen von Kraftfahrzeugen an Ort und Stelle) vereinbart. Diese Preise entsprechen in etwa den im Internet abrufbaren Preisen für Kranwagen (vgl. z.B. Preis- und Strukturumfrage im Bergungs- und Abschleppgewerbe: http://www.vba-ev.de/PUS/2016/ Allgemein/PuS-Ergebnisse2016.pdf für 2016; vgl. hierzu auch Urteil des Amtsgerichts Neuss vom 12. September 2012 85 C 3163/12, juris). Sie sind auch ortsüblich. Laut Urteil des Amtsgerichts München vom 2. Mai 2016 (122 C 31597/15, juris) sind 187 € ortsüblich. Der Kläger selbst hat in der Sitzung angegeben, ein Telefonat mit der Fa. … habe ergeben, dass diese Firma 180 € „pro Abschleppvorgang“ (ohne Wartezeit) berechne; selbst wenn man dies als wahr unterstellt, ist ein Stundensatz von 190 € für ein Unternehmen, das dem FA unabhängig von Anfahrts Weg und Anfahrtszeit zur Verfügung steht, noch als ortsüblich anzusehen.
Die Dauer des Einsatzes von ca. 3,50 Stunden, die den Gesamtpreis auf 1.041,25 € erhöhte, war der Tatsache geschuldet, dass nach Ankunft um 11 Uhr eine Wartezeit bis ca. 12. 30 oder 13 Uhr anfiel, weil der Pkw in der Garage so quer eingeparkt war, dass ein reguläres Entfernen durch den Abschleppdienst ohne Schäden für den Pkw nicht möglich war und der Schlüsseldienst eine Haustür und fünf weitere Türen auf der Suche nach dem Autoschlüssel öffnen musste. Mit An- und Abfahrt sowie Abladen scheint eine Einsatzdauer von 3,50 Stunden möglich.
Dass der Pkw quer eingeparkt war und damit ein Abschleppen verhindert werden sollte, ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts aus der glaubhaften Aussage der glaubwürdigen Zeugin. Diese hat geschildert, dass Pkw und Motorrad am 28. Januar 2016 gerade in der Garage standen, am 11. April 2016 jedoch der Pkw schräg und mit eingeschlagenen Rädern eingeparkt war und das Motorrad dahinter abgestellt war. Sie hat das anhand einer Skizze schemenhaft dargestellt. Das Gericht hält die Aussage auch deshalb für glaubhaft, weil dies mit der Darstellung der A. GmbH in Auftrag und Rechnung vom 11. April 2016 (…) zusammenpasst, wonach die Öffnung des Kfz mit „Goso“ nicht möglich war, mithin ohne Rangieren des Pkw in der Garage ein Abschleppvorgang nicht vorgenommen werden konnte.
cc) Die dem Anfall der Auslagen zu Grunde liegende Vollstreckungsmaßnahme erfolgte zwar teilweise ohne Vorliegen einer Durchsuchungsanordnung. Da jedoch die Auslagen in derselben Höhe zu Recht auch (nur) für die Maßnahmen angefallen wären, die auf die Vollstreckung der Vollstreckungsersuchen entfielen, für die eine Durchsuchungsanordnung vorlag, ergibt sich hieraus keine Rechtswidrigkeit.
Vor allem liegt hinsichtlich der Auslagen – jedenfalls solange die Durchsuchungsanordnung nicht aufgehoben war – ohnehin schon nach § 346 Abs. 1 AO keine unrichtige Sachbehandlung vor (vgl. BFH-Urteil vom 27. Oktober 2004 VII R 65/03, BStBl II 2005, 198).


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