Strafrecht

Aussetzung des Strafrestes zur Vollstreckung nach § 36 BtMG

Aktenzeichen  204 VAs 298/20

Datum:
26.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 35103
Gerichtsart:
BayObLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
BtMG § 35, § 36 Abs. 1 S. 2, 3 Alt. 2, Abs. 2
StGB § 56a, § 56g, § 67 Abs. 5
EGGVG § 23 f., § 24 Abs. 1, Abs. 2

 

Leitsatz

1. Die Aussetzung des Strafrestes zur Vollstreckung gemäß § 36 Abs. 1 Satz 3 Alt. 2 und Abs. 2 BtMG setzt nicht voraus, dass die Hälfte der Strafe verbüßt ist oder durch Anrechnung gemäß § 36 Abs. 1 Satz 2 BtMG als erledigt gilt. (Rn. 21, 27 – 28 und 32 – 33)
2. Eine der Aussetzung entgegenstehende Mindestverbüßungsdauer in Anlehnung an § 67 Abs. 5 StGB lässt sich auch aus der Entstehungsgeschichte der genannten Vorschriften nicht herleiten. (Rn. 34 – 46)
3. Eine rechtliche zeitliche Obergrenze für die Summe der jeweils zurückstellungsfähigen Freiheitsstrafen existiert nicht. (Rn. 49 – 55)

Tenor

1. Auf den Antrag des Verurteilten P. B. wird die Verfügung der Staatsanwaltschaft Kempten vom 17. März 2020 in der Gestalt des Bescheides der Generalstaatsanwaltschaft München vom 15. Juni 2020 aufgehoben.
2. Die Staatsanwaltschaft wird verpflichtet, den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu verbescheiden.
3. Das Verfahren ist kostenfrei. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers sind aus der Staatskasse zu erstatten.
4. Der Geschäftswert wird auf 5.000,00 € festgesetzt.
5. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

Gründe

I.
Das Amtsgericht – Schöffengericht – Kempten hat den Antragsteller mit dem auf einer Verfahrensabsprache beruhenden Urteil vom 24.7.2019 (Az.: 31 Ls 320 Js 14754/18), rechtskräftig seit 8.8.2019, wegen des vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in vier Fällen in Tatmehrheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in Tatmehrheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in Tatmehrheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln unter Einbeziehung der Strafe aus der Verurteilung des Amtsgerichts Ravensburg vom 20.2.2018 (Az. 11 Ds 24 Js 17626/17) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren sowie zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Im Urteil wurde festgestellt, dass die Taten aufgrund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen wurden.
Der Antragsteller verbüßte seit 8.8.2019 bis 11.9.2019 und verbüßt wieder seit 23.4.2020 die erste der beiden Gesamtfreiheitsstrafen von zwei Jahren, auf die 113 Tage Untersuchungshaft angerechnet wurden, in der Justizvollzugsanstalt Rothenfeld. Deren Vollstreckung war durch Verfügung der Staatsanwaltschaft Kempten vom 4.10.2019 gemäß § 454b Abs. 3 StPO für einen Zwischenvollzug des Restes der verfahrensfremden Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr vier Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts Kempten (Allgäu) vom 3.5.2017 (Az. 11 Ds 320 Js 17375/16) vom 12.9.2019 bis 22.4.2020 unterbrochen worden. Der Halbstrafentermin ist für den 25.11.2020 vorgemerkt. Ab 26.11.2020 soll die zweite Gesamtfreiheitsstrafe vollstreckt werden. Der gemeinsame Halbstrafenprüfungstermin ist für den 25.11.2021 vorgemerkt.
Mit Schreiben vom 18.8.2019 stellte der Verurteilte eine Voranfrage an die Staatsanwaltschaft Kempten hinsichtlich einer grundsätzlichen Rückstellungsfähigkeit der Strafen aus dem Verfahren 31 Ls 320 Js 14754/18, da er sich entschlossen habe, eine stationäre Therapie anzutreten.
Auf Anfrage der Staatsanwaltschaft Kempten teilte das Amtsgericht Kempten mit Schreiben vom 24.9.2019 mit, dass sich die Feststellung bezüglich § 35 BtMG im Urteil vom 24.7.2019 auf alle Taten beziehe.
Am 17.10.2019 teilte die Staatsanwaltschaft dem Verurteilten mit, dass vorbehaltlich einer eingehenden Prüfung nach Antragstellung eine generelle Rückstellungsfähigkeit bestehe.
Mit Schreiben vom 12.12.2019 beantragte der Verurteilte die Zurückstellung der Strafvollstreckung. Er könne am 22.4.2020 in der Therapieeinrichtung „Kompass Kontakt“ aufgenommen werden. Die Kosten übernehme die Deutsche Rentenversicherung. Er legte eine schriftliche Kostenzusage und eine Aufnahmebestätigung bei. Die Therapie dauere voraussichtlich 17 Wochen. Er sei therapiemotiviert.
Die Justizvollzugsanstalt Landsberg am Lech befürwortete mit Schreiben vom 20.1.2020 eine Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG und legte eine ärztliche Stellungnahme der Anstaltsärztin vom 15.1.2020 bei.
Die Staatsanwaltschaft Kempten lehnte mit Verfügung vom 17.3.2020 die Zurückstellung der weiteren Vollstreckung der beiden Gesamtfreiheitsstrafen von zwei Jahren gemäß § 35 BtMG ab, da die Strafreste mehr als zwei Jahre betragen. Zwar könnten grundsätzlich auch mehrere Freiheitsstrafen zurückgestellt werden, die nicht gesamtstrafenfähig seien und deren Summe zwei Jahre übersteige. Allerdings könne die Anrechnung einer erfolgreich absolvierten Therapie nur einmal erfolgen. Mit einem Therapiebeginn am 22.4.2020 und einem erfolgreichen Therapieverlauf der angedachten 17 Wochen (entsprechend 119 Tagen) könnte dann die Anrechnung bis zwei Drittel der ersten Gesamtfreiheitsstrafe (Teil A der Strafe) erfolgen (entsprechend 339 Tagen). Damit wäre die volle Therapie angerechnet und kein Raum mehr für eine erneute Anrechnung auf den Teil B der Strafe, welcher noch gar nicht anvollstreckt wurde. Diese wäre zumindest bis zu einem Prüfungszeitraum (gemeint: Halbstrafe) zu verbüßen, was dem Gedanken der Therapie und Entlassung in die Freiheit widerspreche. Demgemäß werde vorgeschlagen, Teil A vom 23.4.2020 bis zum Zweidritteltermin am 27.3.2021 zu verbüßen und im Anschluss Teil B anzuvollstrecken. Mit erneuter Antragstellung könnte ein möglicher Therapiebeginn um den 28.9.2021 sein. Hierbei läge dann auch keine grobe Ungleichbehandlung gegenüber nicht betäubungsmittelabhängigen Strafgefangenen mehr vor (unter Hinweis auf Weber, BtMG § 36 Rn. 68). Ansonsten würde eine Prüfung gemäß § 57 StGB zum 25.11.2021 erfolgen (gemeinsamer Halbstrafenprüfungstermin).
Mit Schreiben vom 22.3.2020 legte der Verurteilte hiergegen Beschwerde ein.
Den Einwendungen des Verurteilten half die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 26.3.2020 nicht ab.
Der Verteidiger des Verurteilten legte mit Schreiben vom 9.4.2020 gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft vom 17.3.2020 ebenfalls Beschwerde ein, da die Voraussetzungen für eine Zurückstellung nach § 35 BtMG vorlägen. Er wendet sich gegen die Annahme der Staatsanwaltschaft, dass die (zweite) Gesamtfreiheitsstrafe ohne Anrechnung oder Anvollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt werden könne. Für die Frage der Aussetzungsentscheidung sei § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG heranzuziehen, wonach sich die Aussetzungsfähigkeit der Strafe nach erfolgter Therapie gemäß § 35 BtMG nach Erreichen des Zweidrittelzeitpunkts der Strafe oder auch früher, wenn eine weitere Behandlung in der Therapieeinrichtung bereits zu diesem Zeitpunkt nicht mehr erforderlich sei, bestimme. Anders als § 57 StGB sehe § 35 BtMG keine Mindestverbüßungsdauer – insbesondere nicht bis zum Halb- oder Zweidrittelzeitpunkt – vor. Ziel dieser Regelung sei es gerade zu vermeiden, dass ein Verurteilter nach erfolgreichem Abschluss der Therapie nochmals einen Teil der Strafe verbüßen müsse, damit eine Reststrafenaussetzung erfolgen könne. Es bedürfe daher weder einer Vollstreckung bis zum Zweidrittel- noch bis zum Halbstrafenzeitpunkt und noch nicht einmal einer Anvollstreckung. Eine solche könnte aber erreicht werden, wenn ein Teil der Therapie auf die eine und ein Teil auf die andere Gesamtfreiheitsstrafe angerechnet werde oder die Untersuchungshaft geteilt angerechnet werde. Die Bevorzugung betäubungsmittelabhängiger Straftäter gegenüber anderen Straftätern sei dem Gesetz an mehreren Stellen immanent und ihrer besonderen persönlichen Situation sowie den Ursachen von deren Delinquenz geschuldet.
Den Einwendungen des Verteidigers des Verurteilten half die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 14.5.2020 nicht ab.
In der Vorlageverfügung wies die Staatsanwaltschaft darauf hin, dass sie der Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts München (MDR 1984, 513; s.a. MüKoStGB/Kornprobst, 3. Aufl., § 36 BtMG) folge, wonach die Reststrafenaussetzung nicht vor dem Halbstrafenzeitpunkt erfolgen könne.
Mit Bescheid vom 15.6.2020, der dem Verteidiger des Verurteilten am 24.6.2020 zugestellt wurde, wies die Generalstaatsanwaltschaft München die Beschwerde des Verurteilten gegen die Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 17.3.2020 zurück und trat den Ausführungen der Staatsanwaltschaft bei.
Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 14.7.2020, eingegangen am 15.7.2020, stellte der Verurteilte Antrag auf gerichtliche Entscheidung und beantragt, die Verfügung der Staatsanwaltschaft Kempten vom 17.3.2020 in Form des Bescheides der Generalstaatsanwaltschaft München vom 15.6.2020 aufzuheben und die Staatsanwaltschaft Kempten dazu zu verpflichten, den Antrag auf Zurückstellung der Strafvollstreckung gemäß § 35 BtMG erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats zu bescheiden. Zur Begründung führte er im Kern aus, es entspreche der mittlerweile herrschenden Auffassung, dass eine bewährungsweise Aussetzung gemäß § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG keine Mindestverbüßungsdauer erfordere.
Die Staatsanwaltschaft teilte mit Verfügung vom 26.7.2020 mit, dass auch unter Berücksichtigung des Vorbringens des Antragstellers vom 14.7.2020 derzeit keine Zurückstellung der Strafvollstreckung zu gewähren sei.
Die Generalstaatsanwaltschaft München beantragt mit Schreiben vom 5.8.2020, den Antrag des Verurteilten auf gerichtliche Entscheidung kostenfällig als unbegründet zu verwerfen.
Hierauf erwiderte der Antragsteller mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 17.8.2020.
Der Senat nimmt im Übrigen auf die genannten Entscheidungen, Verfügungen und Schreiben vollumfänglich Bezug.
II.
Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist nach § 23 EGGVG statthaft, wurde gemäß § 26 Abs. 1 EGGVG i.V.m. § 43 Abs. 2 StPO form- und fristgerecht eingelegt und ist auch nach § 24 Abs. 1 und 2 EGGVG zulässig, da das erforderliche Vorschaltverfahren (§ 21 StVollstrO) durchgeführt worden ist.
Der Antrag hat auch Erfolg. Die Verfügung der Staatsanwaltschaft Kempten vom 22.3.2020 in der Gestalt des Bescheids der Generalstaatsanwaltschaft München vom 15.6.2020 ist aufzuheben, da die Staatsanwaltschaft bei ihrer Entscheidung gemäß § 35 BtMG von einem nicht bestehenden rechtlichen Hindernis ausgegangen und der Antragsteller deshalb in seinen Rechten verletzt ist (§ 28 Abs. 1 Satz 1 EGGVG). Die Vorschrift des § 36 Abs. 1 Satz 3, Alt. 2 BtMG, wonach eine Aussetzung des Strafrestes zur Vollstreckung bereits dann in Betracht kommt, wenn eine Behandlung in der Einrichtung zu einem früheren Zeitpunkt als dem Zweidrittelzeitpunkt nicht mehr erforderlich ist, setzt entgegen der Ansicht der Vollstreckungsbehörde nicht voraus, dass zum Zeitpunkt der Aussetzung die Hälfte der Strafe verbüßt ist oder durch Anrechnung gemäß § 36 Abs. 1 Satz 2 BtMG als erledigt gilt.
1. Der Vollstreckungsbehörde steht bei ihrer Entscheidung über die Zurückstellung der Strafvollstreckung zur Durchführung einer Drogentherapie gemäß § 35 BtMG ein Ermessen und hinsichtlich der dabei zu prüfenden Tatbestandsvoraussetzungen, nämlich der Feststellung einer Betäubungsmittelabhängigkeit, deren Kausalität für die Tat, der Therapiebereitschaft und der Therapiebedürftigkeit des Antragstellers ein Beurteilungsspielraum zu (OLG Karlsruhe NStZ-RR 2005, 57, juris Rn. 4; NStZ-RR 2009, 122, juris Rn. 6; OLG Nürnberg, StV 2017, 307, juris Rn. 19; Weber, BtMG, 5. Aufl., § 35 Rn. 141, 144 ff.; Fabricius, in Körner/Patzak/Volkmer, BtMG, 9. Aufl., § 35 Rn. 320). Außerdem muss ein Therapieplatz zur Verfügung stehen und es dürfen keine Zurückstellungshindernisse bestehen (vgl. OLG Karlsruhe NStZ-RR 2009, 122, juris Rn. 8).
Gemäß § 28 Abs. 3 EGGVG hat der Senat die Entschließung der Vollstreckungsbehörde auf Rechtsfehler bei der Anwendung gesetzlicher Bestimmungen, auf Ermessensfehler, ob also die gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten oder diese überschritten wurden und ob von dem Ermessen in einer dem Zwecke der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist, und darauf zu überprüfen, ob ihr ein zutreffend und vollständig ermittelter Sachverhalt unter Einhaltung der Grenzen des Beurteilungsspielraums zugrunde gelegt ist (vgl. nur OLG Karlsruhe, NStZ-RR 2009, 122, juris Rn. 6; OLG Koblenz, Beschluss vom 20.7.2017 – 2 VAs 15/17, juris Rn. 8; StV 2006, 588, juris Rn. 19; OLG Saarbrücken, Beschluss vom 8.12.2016 – VAs 29/16, juris Rn. 7; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 18.12.2018 – 1 VAs 8/18, juris Rn. 12; Fabricius, in: Körner/Patzak/Volkmer, a.a.O., § 35 Rn. 398; Weber, a.a.O., § 35 Rn. 205).
2. Unter Zugrundelegung dieses Prüfungsmaßstabs hält die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde rechtlicher Überprüfung nicht Stand.
a) Die Vollstreckungsbehörde geht zunächst zutreffend davon aus, dass § 35 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 BtMG einer Zurückstellung der Vollstreckung mehrerer nicht gesamtstrafenfähiger Freiheitsstrafen, aus denen insgesamt noch mehr als zwei Jahre zu vollstrecken sind, nicht entgegen steht (vgl. BGHSt 33, 94, juris Rn. 7 f.). Die Voraussetzungen für eine Zurückstellung sind hierbei für jede der zu vollstreckenden Freiheitsstrafen gesondert zu prüfen (Weber, a.a.O., § 35 Rn. 20). Wenn auch nur eine der beiden Strafen zu vollstrecken ist, also eine Aussetzung der zweiten Strafe nach erfolgreichem Therapieverlauf unter keinen Umständen in Betracht käme, stünde dies einer Zurückstellung insgesamt entgegen (vgl. § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG). Ob eine solche Aussetzung in Betracht kommt, richtet sich nach § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG.
b) § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG ermöglicht nach erfolgreichem Abschluss der Therapie eine Strafrestaussetzung schon vor Ablauf von zwei Dritteln der Strafzeit (vgl. nur MüKoStGB/Kornprobst, 3. Aufl., § 36 BtMG Rn. 42). Dadurch soll vermieden werden, dass der Erfolg einer Therapie durch den anschließenden Vollzug der Strafe bis zum Zwei-Drittel-Zeitpunkt wieder gefährdet wird (vgl. nur MüKoStGB/Kornprobst, a.a.O., § 36 BtMG Rn. 42; Weber, a.a.O., § 36 Rn. 71).
c) Entgegen der Ansicht der Vollstreckungsbehörde setzt nach heute herrschender Meinung in Rechtsprechung und Literatur eine Aussetzung des Strafrestes gemäß § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG auch unterhalb der Zweidrittelgrenze keine Mindestverbüßungszeit voraus (OLG Dresden, NStZ 2006, 458, juris Rn. 11; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 7.11.2002 – 1 Ws 323/02, juris Rn. 11). Ist die therapeutische Behandlung nach Zurückstellung der Strafvollstreckung ordnungsgemäß und erfolgreich abgeschlossen und eine weitere Behandlung nicht mehr erforderlich, kann die Reststrafe demgemäß bereits vor Erreichen des Halbstrafenzeitpunkts zur Bewährung ausgesetzt werden (OLG Braunschweig, Beschluss vom 11.2.2016 – 1 Ws 21/16, juris Rn. 18; OLG Celle, StV 1986, 113; OLG Düsseldorf, StV 1990, 214, juris Rn. 6 ff.; OLG Stuttgart, NStZ 1986, 187 f. m. ablehnender Anm. Katholnigg, NStZ 1986, 188; OLG Stuttgart NStE Nr. 6 zu § 35 BtMG; OLG Frankfurt, Beschluss vom 8.1.1985 – 3 Ws 1019/84, zitiert bei Kreuzer, SuchtG 1986, 118 und bei OLG Celle a.a.O. und OLG Stuttgart, a.a.O.; LG Berlin, StV 1190, 462 f.; LG Bremen, StV 1992, 184, 185; LG Bückeburg, StV 2004, 386; LG Darmstadt, StV 1985, 117; LG Landau, StV 1988, 214; MüKoStGB/Kornprobst, a.a.O., § 36 BtMG Rn. 42 f.; Weber, a.a.O., § 36 Rn. 72 f.; BeckOK-BtMG/Bohnen, 7. Ed. 15.6.2020, § 36 Rn. 54; BeckOK-StPO/Ganter, 37. Ed. 1.7.2020, § 36 BtMG Rn. 6; Fabricius, in: Körner/Patzak/Volkmer, a.a.O., § 36 Rn. 66, 67 m.w.N. zur landgerichtlichen Rechtsprechung; dem „neuen Trend“ zustimmend nunmehr auch Katholnigg, NJW 1987, 1456, 1459; and. Ans. OLG Zweibrücken, Beschluss vom 11.9.1987 – 1 Ws 462/87 – zitiert bei LG Landau, StV 1988, 214 -, das sogar eine Mindestverbüßungsdauer von Zweidritteln der Strafe für erforderlich hält; Katholnigg, NStZ 1981, 417, 420).
Dies wird zutreffend damit begründet, dass eine Mindestverbüßungsdauer bereits im Wortlaut der Sonderbestimmung des § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG keine Stütze findet, dass diese Vorschrift unabhängig von den allgemeinen Regeln des Strafrechts einen besonderen Aussetzungstatbestand enthält und demgemäß als Sonderregelung dem § 57 StGB vorgeht (so OLG Celle a.a.O.; OLG Düsseldorf, StV 1990, 214, juris Rn. 6 f.; OLG Stuttgart, a.a.O.) und dass § 36 Abs. 4 BtMG lediglich auf die allgemeinen Vorschriften der §§ 56a-56g StGB, nicht jedoch auf § 57 StGB verweist (so OLG Celle a.a.O.; OLG Stuttgart, a.a.O.; so auch BeckOK BtMG/Bohnen, a.a.O., § 36 Rn. 54; MüKoStGB/Kornprobst, a.a.O., § 36 BtMG Rn. 43; kritisch zu diesem Argument Katholnigg, JR 1990, 350 f.: § 57 StGB werde ja gerade durch § 36 BtMG verdrängt, so dass eine Verweisung nicht in Betracht komme; auf eine Parallele zu § 57 StGB komme es daher nicht an, wohl aber auf die Parallele zu § 67 Abs. 5 Satz 1 StGB). Weiterhin spricht hierfür auch die Formulierung in § 36 Abs. 2 BtMG, wonach unter den dort genannten Voraussetzungen sogar eine Aussetzung einer gesamten Freiheitsstrafe ohne eine Anrechnung und ohne zeitliche Schranke zulässig ist (so OLG Celle a.a.O.; Fabricius, in: Körner/Patzak/Volkmer, a.a.O., § 36 Rn. 67).
d) Nach der Gegenauffassung sei kein Grund ersichtlich, warum in Fällen dieser Art nicht die im Strafgesetzbuch aufgestellten allgemeinen Grundsätze über die Aussetzung des Strafrestes – § 57 StGB – gelten sollen (vgl. Landgericht Nürnberg-Fürth, NStZ 1984, 175). Hierbei wird insbesondere unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten eine Halbstrafenverbüßung entsprechend § 57 Abs. 2 bzw. § 67 Abs. 5 StGB als unerlässlich angesehen, weil ansonsten betäubungsmittelabhängige Straftäter nach Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 Abs. 1 Satz 1 BtMG gegenüber anderen Straftätern ohne sachliche Rechtfertigung privilegiert würden (vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 28.4.1983 – Ws 377/83, MDR 1984, 513 = OLGSt Nr. 3 zu § 35 BtMG; so früher auch Körner, BtMG, 1. Aufl., § 36 Anm. 3) und auch gegenüber betäubungsmittelabhängigen Straftätern, die sich im Maßregelvollzug befinden, zu Unrecht bevorzugt würden (vgl. Katholnigg, NStZ 1986, 188).
Soweit sich die Staatsanwaltschaft auf eine in MDR 1984, 513 abgedruckte Entscheidung des Oberlandesgerichts München stützt, die auch in der Kommentarliteratur zitiert wird, wurde dort der Gerichtsort falsch bezeichnet. Es handelt sich tatsächlich um den oben zitierten Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg, wie sich aus dem Aktenzeichen und der redaktionellen Anmerkung zu dem in NStZ 1984, 175 veröffentlichten Beschluss des Landgerichts Nürnberg-Fürth ergibt, wonach das Oberlandesgericht Nürnberg die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde durch Beschluss vom 28.4.1983 (Ws 377/83) verworfen hat. Bei der teilweise in Kommentaren zitierten Entscheidung des Oberlandesgerichts Nürnberg in MDR 1984, 413 handelt es sich um denselben Beschluss mit Angabe einer falschen Seitenzahl.
e) Die Gegenauffassung übersieht, dass der Gesetzgeber mit dem durch das Gesetz zur Neuordnung des Betäubungsmittelrechts vom 28.7.1981 (BGBl. I, S. 681, 1187) eingeführten § 36 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 BtMG eine Sonderbestimmung für Straftäter geschaffen hat, bei denen die Ursache der Straffälligkeit in der Drogenabhängigkeit liegt (so zutreffend OLG Braunschweig, Beschluss vom 11.2.2016 – 1 Ws 21/16, juris Rn. 18).
Die Privilegierung betäubungsmittelabhängiger Straftäter gegenüber anderen Straftätern ist gesetzlich gewollt. Nach der Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Betäubungsmittelrechts vom 27.11.1980 sollen die Vorschriften des Siebenten Abschnitts des Betäubungsmittelgesetzes der Rehabilitation des Personenkreises, der auf Grund der eigenen Drogenabhängigkeit straffällig geworden ist, dienen. Sie sehen unter anderem vor, auf eine Strafvollstreckung gegenüber kleinen bis mittleren betäubungsmittelabhängigen Straftätern zu verzichten, wenn diese sich einer Behandlung ihrer Abhängigkeit unterzogen haben. Der Gesetzgeber hielt eine Sonderregelung für Drogenabhängige vor allem deshalb für berechtigt, weil diese zumeist schon in jugendlichem Alter, d. h. zu einer Zeit in die Abhängigkeit geraten, zu der sie die Tragweite ihres Tuns noch nicht zu übersehen und dem Einfluss Dritter nur schwer zu widerstehen vermögen und sich in einer besonderen Situation befinden, weil sie regelmäßig mit der Befriedigung ihrer Sucht gegen Strafvorschriften verstoßen und auf Dauer die vergleichsweise teuren Drogen nur erwerben können, wenn sie sich diese oder die finanziellen Mittel zu ihrem Ankauf auf illegalem Wege verschaffen. Die Rauschmittelabhängigkeit treibe so den Betroffenen zunehmend in eine Kriminalität, die gleichzeitig für die Allgemeinheit mit erheblichen Gefahren verbunden ist. Dies gelte nicht zuletzt dann, wenn der Abhängige den Erwerb der dem Eigenbedarf dienenden Betäubungsmittel durch einen illegalen Drogenhandel finanziert. Die Rehabilitation Drogenabhängiger erleichtere deshalb den Organen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ihre Arbeit und liege im Interesse des Schutzes der Allgemeinheit (vgl. BT-Drucks. 9/27, Seite 26 f.).
In Fällen, in denen eine Restfreiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren zur Vollstreckung ansteht, hat der Gesetzgeber den erfolgreichen Therapiebemühungen eines Verurteilten somit einen klaren Vorrang vor dem Vollzug der Freiheitsstrafe eingeräumt. Eine Strafaussetzung soll vielmehr schon dann möglich sein, wenn die Behandlung in der Therapieeinrichtung nicht mehr erforderlich ist. Ob zu jenem Zeitpunkt schon ein Teil der verwirkten Freiheitsstrafe verbüßt ist, ist nicht relevant (OLG Braunschweig, Beschluss vom 11.2.2016 – 1 Ws 21/16, juris Rn. 18; BeckOK BtMG/Bohnen, a.a.O., § 36 Rn. 54). Demgemäß erklärt sich die mit der Befreiung von einer Mindestverbüßungszeit verbundene Privilegierung drogenabhängiger Straftäter daraus, dass die Regelungen der §§ 35 ff. BtMG im Interesse der zur Wiedereingliederung Betäubungsmittelabhängiger erforderlichen therapeutischen Behandlung andere Strafzwecke in den Hintergrund treten lassen. Die Strafvollstreckung bis zum Halbstrafenzeitpunkt im Anschluss an eine abgeschlossene Therapie würde den therapeutischen Erfolg in erheblichem Maße gefährden und damit dem Zweck der §§ 35, 36 BtMG zuwiderlaufen (vgl. OLG Stuttgart, NStZ 1986, 187, 188; MüKoStGB/Kornprobst, a.a.O., BtMG § 36 Rn. 43).
f) Auch in der Entstehungsgeschichte finden sich keine belastbaren Hinweise darauf, dass der Gesetzgeber die Aussetzung gemäß § 36 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 BtMG von einer Mindestverbüßungsdauer abhängig machen wollte.
aa) Die Materialien zum Gesetzentwurf vom 27.11.1980 enthalten keine Einzelbegründung zu § 36 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 BtMG (im Entwurf noch als § 34 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 bezeichnet) und auch im Übrigen keine Hinweise, die Rückschlüsse zur Frage einer Mindestverbüßungsdauer zuließen.
bb) Dieser Gesetzentwurf war jedoch inhaltsgleich zu dem vom Deutschen Bundestag in der (vorangegangenen) achten Wahlperiode am 26.6.1980 verabschiedeten Gesetz zur Neuordnung des Betäubungsmittelrechts, das nach Anrufung des Vermittlungsausschusses durch den Bundesrat wegen des Ablaufs der Wahlperiode dort nicht mehr beraten werden konnte [vgl. Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit (13. Ausschuss), BT-Drucks 9/500 (neu), Seite 1]. Dieses nicht in Kraft getretene Gesetz beruhte auf der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit (13. Ausschuss) vom 19.6.1980, die (erstmals) in § 31b Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 eine dem späteren § 36 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 BtMG inhaltlich entsprechende Regelung enthielt (s. BT-Drucks 8/4267, Seite 33). Im Bericht des 13. Ausschusses vom 24.6.1980 wird insoweit (lediglich) ausgeführt (vgl. BT-Drucks 8/4283, Seite 8):
„Im übrigen sieht der Vorschlag in § 31 b Abs. 1 Satz 3 und § 31 b Abs. 2 in Anlehnung an § 67 Abs. 5 StGB die Möglichkeit für eine Aussetzung des Strafrestes zu einem Zeitpunkt vor, zu dem noch nicht zwei Drittel der Strafe verbüßt sind.“
Da die in § 31 b Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 vorgesehenen Regelungen inhaltlich unverändert in § 36 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 BtMG übernommen wurden, kann diese vom 13. Ausschuss erstellte Einzelbegründung zur Auslegung dieser Vorschrift herangezogen werden.
cc) Auch § 67 Abs. 5 StGB, an den sich § 36 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 BtMG anlehnt, enthielt ursprünglich keine Regelung über eine Mindestverbüßungsdauer.
(1) § 67 Abs. 5 StGB wurde durch das zweite Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 4.7.1969 (BGBl. I, 717) eingeführt, das auf dem Entwurf des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform beruht. Der insoweit einschlägige Satz 1 der Vorschrift in dieser Fassung (im folgenden: a.F.) lautete wie folgt:
„(5) Wird die Maßregel vor der Strafe vollzogen, so kann das Vollstreckungsgericht die Vollstreckung des Strafrestes auch dann nach § 57 Abs. 1 zur Bewährung aussetzen, wenn noch nicht zwei Drittel der verhängten Strafe durch die Anrechnung erledigt sind.“
Der Zweite Schriftliche Bericht des Sonderausschusses vom 23.4.1969 (BT-Drucks. V/4095, Seite 32) enthält hierzu folgende Begründung:
„An der in Absatz 4 des § 87 E 62 getroffenen Regelung für die Strafaussetzung zur Bewährung konnte nicht mehr festgehalten werden; denn für diese ist nur dann Raum, wenn beim Vorwegvollzug der Maßregel deren Vollzugszeit im Einzelfall nicht auf die Strafe angerechnet wird. Da nach dem neuen Absatz 4 stets die Anrechnung erfolgt, kommt nur noch eine Aussetzung des Strafrestes in Betracht. Für diesen Fall läßt Absatz 5 Satz 1 in der vom Ausschuß vorgeschlagenen Fassung eine frühere Aussetzung des Strafrestes zu, als es an sich nach § 57 Abs. 1 StGB (2. StrRG) zulässig wäre. Das Vollstreckungsgericht kann die Vollstreckung des Strafrestes schon dann aussetzen, wenn durch die Anrechnung der Vollzugszeit auch noch nicht zwei Drittel der verhängten Strafe erledigt sind. Nach Ansicht des Ausschusses ist nicht einzusehen, warum der Verurteilte, obwohl der Maßregelzweck erreicht ist, in solchen Fällen anschließend noch stets im Vollzug zurückbehalten werden soll, bis zwei Drittel der Strafe verbüßt sind.“
(2) Aus den zitierten Gesetzesmaterialien zu § 67 Abs. 5 a.F. StGB lässt sich somit eine erforderliche Mindestverbüßungszeit nicht ableiten. Demgemäß bestand auch hier Streit darüber, ob nach § 67 Abs. 5 StGB a.F. beim Zusammentreffen von Freiheitsstrafe und Maßregel der Besserung und Sicherung die Restfreiheitsstrafe bereits dann zur Bewährung ausgesetzt werden kann, wenn noch nicht die Hälfte der Strafe verbüßt ist oder als erledigt gilt. Während die herrschende Meinung in der Literatur dies bejahte (vgl. die Nachweise bei Kreuzer/Oberheim, NStZ 1984, 557, 558), kam für die obergerichtliche Rechtsprechung und Teile der Literatur eine Aussetzung frühestens zum Halbstrafenzeitpunkt in Betracht (vgl. hierzu etwa OLG Stuttgart, NStZ 1984, 77, 78 m.w.N.).
dd) Ausgehend von der obergerichtlichen Rechtsprechung zu § 67 Abs. 5 StGB vertrat Katholnigg (NStZ 1981, 417, 419; 1986, 188) die Auffassung, dass wegen der bestehenden Parallele zu dieser Vorschrift eine Aussetzung der Freiheitsstrafe gemäß § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG ebenfalls erst in Betracht komme, wenn die Hälfte der Strafe erledigt ist. Dem wurde zutreffend entgegengehalten, dass der Gesetzgeber bei Einführung des § 36 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 BtMG die Streitfrage zu § 67 Abs. 5 StGB über das Erfordernis einer Mindestzeit der Erledigung der Strafe durch Anrechnung der Dauer des Maßregelvollzuges kannte und es somit nahegelegen hätte, bei der Neuregelung des Betäubungsmittelrechts eine Mindestzeit der Erledigung in den Gesetzestext aufzunehmen, wenn dies gewollt gewesen wäre (vgl. OLG Celle, StV 1986, 113; OLG Stuttgart, NStZ 1986, 187, 188 unter Hinweis auf OLG Frankfurt, a.a.O., und Kreuzer/Oberheim, NStZ 1984, 557, 558). Dies ist aber gerade nicht geschehen.
ee) Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber den Meinungsstreit über die Beachtlichkeit des Halbstrafenzeitpunkts zwar zum Anlass genommen hat, § 67 Abs. 5 StGB dahin zu ändern, dass die Aussetzung (erst) erfolgen könne, wenn die Hälfte der Strafe erledigt ist (vgl. Art. 1 Nr. 15 c des 23. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 13.4.1986, BGBl. I, Seite 393). Eine entsprechende Änderung des § 36 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 BtMG ist aber unterblieben, obwohl der Gesetzgeber im Zuge desselben Gesetzgebungsvorhabens auch Anpassungen des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs an das Betäubungsmittelgesetz vorgenommen hat.
(1) In der Begründung zur Änderung des § 67 Abs. 5 StGB wird folgendes ausgeführt (BT-Drucks 10/2720, Seite 13 zu Nummer 12, c):
„§ 67 Abs. 5 Satz 1 StGB-Entw. klärt die Streitfrage, ob eine Aussetzung des Strafrestes auch dann zulässig ist, wenn noch nicht die Hälfte der Strafe durch Anrechnung erledigt ist (vgl. Stree in Schönke-Schröder, StGB, 21. Aufl., § 67 Rdn. 4). Die vom Entwurf vorgeschlagene Lösung beruht auf der Erwägung, daß die breite Palette der Strafzwecke auch in dem hier in Frage stehenden Bereich nicht völlig zugunsten des Rehabilitationsgedankens aufgegeben werden darf. Ebenso dürfte der Gleichbehandlungsgrundsatz eine noch weitergehende Privilegierung des Untergebrachten verbieten.“
(2) Der Gesetzgeber hat gleichwohl keinen Anlass gesehen, bei § 36 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 BtMG eine entsprechende Änderung vorzunehmen, obwohl er im Rahmen dieses Gesetzgebungsverfahrens auch die Regelung des § 67 Abs. 4 StGB über die Anrechnungsmöglichkeit der Zeit der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt auf die Strafe an § 36 Abs. 1 Satz 1 BtMG angepasst hat, da für die Neufassung des § 67 Abs. 4 StGB die gleichen Gesichtspunkte maßgebend seien, die der Regelung des § 36 Abs. 1 Satz 1 BtMG zugrunde liegen, und hierzu auf die dortige Entwurfsbegründung (BT-Drucks. 8/4283, S. 6, rechte Spalte) Bezug genommen hat. Er führt weiter aus (vgl. BT-Drucks 10/2720, Seite 13, zu Nummer 12, b):
„Dabei nimmt der Entwurf – ebenso wie § 36 Abs. 1 Satz 1 BtMG – lediglich ein Drittel der Strafe von der Anrechnungsmöglichkeit des § 67 Abs. 4 StGB aus, d. h. den Zeitraum, der bei einer guten Sozialprognose des Verurteilten in jedem Falle aussetzungsfähig ist. Mit Rücksicht auf § 67 Abs. 5 StGB-Entw. eine von § 36 Abs. 1 Satz 1 BtMG abweichende Lösung vorzusehen und die Hälfte der Strafzeit der Anrechnungsmöglichkeit zu entziehen, erschien nicht sachgerecht. Einerseits stellt § 67 Abs. 5 StGB-Entw. lediglich eine Kann-Regelung dar, die im Einzelfall durchaus auch den Weg für eine spätere Aussetzung des Strafrestes eröffnet. Zum anderen wird die Dauer des Maßregelvollzugs nicht selten die Dauer der Strafe übersteigen; in diesen Fällen ist kein Grund ersichtlich, weshalb die Anrechnung nicht – entsprechend der Regelung im Betäubungsmittelgesetz – bis zum Zwei-Drittel-Zeitpunkt zugelassen werden sollte. Der zur Erhaltung der Therapiebereitschaft erforderliche Druck dürfte bei einer Anrechnung bis zum Zwei-Drittel-Zeitpunkt in gleicher Weise erhalten bleiben. (…) .“
(3) Aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber die Streitfrage zu § 67 Abs. 5 StGB durch Einführung einer Halbzeitsperre gelöst hat, während § 36 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 BtMG unverändert blieb, kann somit geschlossen werden, dass der Gesetzgeber bei der Aussetzung nach Zurückstellung gemäß § 35 BtMG und erfolgreich verlaufener Therapie eine Mindestverbüßungsdauer nicht einführen wollte (so auch OLG Düsseldorf, StV 1990, 214, juris Rn. 7).
Hierin liegt wiederum kein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung gegenüber betäubungsmittelabhängigen Maßregelvollzugspatienten (so aber Katholnigg, NStZ 1986, 188), da unter anderem im Unterschied zu diesen der hierdurch privilegierte Verurteilte die Therapie nach § 35 Abs. 1 Satz 1 BtMG freiwillig antritt (vgl. OLG Düsseldorf, StV 1990, 214, juris Rn. 9).
g) Da die Vollstreckungsbehörde ihre ablehnende Entscheidung auf die rechtlich nicht tragfähige Begründung einer Mindestverbüßungsdauer gestützt hat, ist die Entscheidung aufzuheben und die Vollstreckungsbehörde anzuweisen, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut über den Antrag des Verurteilten auf Zurückstellung der Vollstreckung der beiden Gesamtfreiheitsstrafen zu entscheiden.
h) Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass eine rechtliche Obergrenze für die Summe der zurückstellungsfähigen Freiheitsstrafen nicht existiert.
aa) Vom Fehlen der Notwendigkeit einer Mindestverbüßungszeit profitieren vor allem die Verurteilten, die – wie hier – weitere, grundsätzlich zurückstellungsfähige Strafen verbüßen müssen. Auf diese Strafen können keine Therapiezeiten mehr angerechnet werden. Müssten diese Strafen nunmehr verbüßt werden, besteht die Gefahr, dass der Therapieerfolg wieder zunichte gemacht werden würde (vgl. OLG Düsseldorf, StV 1990, 214, juris Rn. 8 m. abl. Anm. Katholnigg JR 1990, 349, 350 f.). Sie können daher ebenfalls sofort ausgesetzt werden (BeckOK BtMG/Bohnen, a.a.O. § 36 Rn. 55).
Hiergegen wird allerdings eingewandt, dass das Betäubungsmittelgesetz das Zusammentreffen mehrerer Freiheitsstrafen außer in § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG nicht geregelt habe und auch nach der o.g. Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs (BGHSt 33, 94) das Problem bestehe, dass es keine Obergrenze für die Summe der zurückstellungsfähigen Freiheitsstrafen gebe (vgl. Katholnigg, JR 1990, 350, 351). Dies trifft zwar zu. Der Gesetzgeber hat aber in Kenntnis dieses Problems bislang keine Neuregelung erlassen. Insoweit hatte die Bundesregierung bereits in einer Stellungnahme zu einem vom Bundesrat am 11.5.1990 eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes ausgeführt, dass insbesondere das Zusammentreffen mehrerer an sich zurückstellungsfähiger Einzelstrafen geregelt und dabei eine Obergrenze für die Gesamthöhe festgelegt werden müsste, bis zu der die Vollstreckung der Einzelstrafen zurückgestellt werden kann. Eine derartige Regelung bedürfe aber sorgfältiger Abklärung, die im laufenden Gesetzgebungsverfahren nicht mehr möglich sei (vgl. BT-Drucks. 11/7585, Seite 8 f.).
Da eine solche Obergrenze bislang gesetzlich nicht festgesetzt wurde, existiert auch kein rechtliches Hindernis für die Zurückstellungsfähigkeit der beiden zweijährigen Gesamtfreiheitsstrafen aufgrund deren Höhe.
bb) Ob die Höhe der jeweils zu vollstreckenden Gesamtfreiheitsstrafen bei der von der Vollstreckungsbehörde neu zu treffenden Ermessensentscheidung – etwa bei der Frage des Zeitpunkts der Zurückstellung – eine Rolle spielen kann, hat der Senat im Rahmen des vorliegenden Verfahrens nicht zu entscheiden.
Insoweit hat das Oberlandesgericht Hamm die Auffassung vertreten, dass die Vollstreckungsbehörde bei Prüfung der sachlichen Tatbestandsvoraussetzungen nicht gehindert sei, Zahl und Höhe der noch offenen Strafreste in die Ermessensausübung einzubeziehen und Zweifel angedeutet, die in erster Linie auf kleine bis mittlere betäubungsmittelabhängige Täter zugeschnittene Zurückstellung einem mehrmals zu mehrjährigen Freiheitsstrafen Verurteilten zu gewähren (Beschluss vom 7.1.1986 – 1 VAs 19/84, zitiert bei Katholnigg, NJW 1987, 1456, 1457, unter 2a). Das Oberlandesgericht Karlsruhe geht davon aus, dass bei den für jede Verurteilung (dort: Jugendstrafe von zwei Jahren und Freiheitsstrafe von einem Jahr drei Monaten) getrennt zu prüfenden sachlichen Voraussetzungen der §§ 35 ff. BtMG die Frage, ob die Höhe der jeweils „weiteren“ Strafe bei der Entscheidung von Bedeutung sei, im Einzelfall beurteilt werden müsse (NStZ 1982, 484, 485). Teilweise geht die Literatur davon aus, dass Zurückstellungen nicht erfolgen, wenn die Summe dieser Freiheitsstrafen sehr hoch sei (so Katholnigg, JR 1990, 350, 351), oder dass die Vollstreckungsbehörde zur Vermeidung einer allzu groben Ungleichbehandlung gegenüber nicht betäubungsmittelabhängigen Straftätern die Strafvollstreckung erst zu einem Zeitpunkt zurückstellen könne, in dem das voraussichtliche Ende einer erfolgreichen Behandlung und die Erledigung der Hälfte der Strafe zusammenfallen (vgl. Katholnigg NStZ 1986, 188; Weber, a.a.O. § 36 Rn. 74). Werde die Therapie allerdings doch bereits vorher abgeschlossen, so sollte die Fortführung der begonnenen Entwicklung Vorrang genießen und bei positiver Prognose der Strafrest auch dann zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn noch nicht die Hälfte der Strafe erledigt ist (Katholnigg NStZ 1986, 188).
Ob ein derartiges Hinausschieben der Zurückstellung rechtlich zulässig ist, erscheint jedoch zweifelhaft, da hierdurch die Entscheidung des Gesetzgebers, die Aussetzung der Strafreste nicht von einer Mindestverbüßungsdauer abhängig zu machen, faktisch umgangen werden könnte.
III.
Eine Kostengrundentscheidung nach § 1 Abs. 2 Nr. 19, § 22 Abs. 1 GNotKG i.V.m. Nr. 15300 bzw. 15301 KV GNotKG war nicht veranlasst, da der Antrag weder zurückgenommen noch zurückgewiesen wurde und (gerichtliche) Auslagen im Sinne von Teil 3, Hauptabschnitt 1 des Kostenverzeichnisses zum GNotKG nicht angefallen sind.
Hinsichtlich der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers entsprach es billigem Ermessen, diese der Staatskasse aufzuerlegen (§ 30 Satz 1 EGGVG).
Die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus § 79 Abs. 1 Satz 1, § 36 Abs. 1 und 3 GNotKG.
IV.
Die Rechtsbeschwerde ist nicht zuzulassen (§ 29 Abs. 2 EGGVG), da die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat, noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert. Die Entscheidung des Senats entspricht der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur. Die entgegenstehende Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Nürnberg betraf eine Entscheidung über die sofortige Beschwerde gegen die versagte Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung, nicht jedoch die Frage der Zurückstellungsfähigkeit einer Freiheitsstrafe nach § 35 BtMG.


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