Verwaltungsrecht

Abgelehnte Berufungszulassung – Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsbürgers

Aktenzeichen  10 ZB 19.2235

Datum:
23.1.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 1236
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 86 Abs. 1, § 124 Abs. 2 Nr. 3, Nr. 5
AufenthG § 53 Abs. 3
EMRK Art. 8
GG Art. 6 Abs. 1
StGB § 57

 

Leitsatz

1. Die Beziehungen eines erwachsenen Ausländers zu anderen Familienmitgliedern außerhalb der Kernfamilie (Ehepartner und Kinder) genießen geringeren Schutz und deshalb werden diese familiären Beziehungen im Rahmen einer Ausweisungsentscheidung weniger stark gewichtet als die Beziehungen zum Ehepartner und zu Kindern (Anschluss an BVerfG NVwZ 2004, 852), außer wenn der Betreffende auf familiäre Beistandsleistungen angewiesen ist (Anschluss an VGH Mannheim BeckRS 2019, 5311). (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht bzw. eine Verletzung des Rechts aus Art. 103 GG kommt nur in Betracht, wenn das Gericht einer Beweisanregung nicht gefolgt ist, obwohl sich eine weitere Sachaufklärung hätte aufdrängen müssen (st. Rspr. BVerwG BeckRS 2017, 139229). (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Frage der Wiederholungsgefahr nach strafrechtlichen Verurteilungen kann grundsätzlich von den Gerichten ohne Zuziehung eines Sachverständigen beurteilt werden (Bestätigung von VHG München BeckRS 2019, 15920). Nur ausnahmsweise bedarf es der Zuziehung eines Sachverständigen, wenn die Prognose aufgrund besonderer Umstände nicht ohne spezielle fachliche Kenntnisse erstellt werden kann (Anschluss an BVerwG NVwZ-RR 2009, 977). (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 6 K 18.1199 2019-09-04 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.
IV. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren wird abgelehnt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage gegen den Bescheid des Beklagten vom 27. Juni 2018 weiter, mit dem er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen wurde, die Wirkungen der Ausweisung und einer Abschiebung auf zunächst fünf Jahre nach seiner Abschiebung bzw. Ausreise befristet und Regelungen zur Abschiebung getroffen wurden.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergibt sich weder die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, noch liegt ein Verfahrensfehler im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO vor.
Die Berufung ist nicht wegen rechtsgrundsätzlicher Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.
Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung ist, deren noch ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. Dementsprechend verlangt die Darlegung (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung, dass eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) ist; ferner muss dargelegt werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (vgl. BayVGH, B.v. 8.2.2019 – 10 ZB 18.1768 – Rn. 11; B.v. 14.2.2019 – 10 ZB 18.1967 – juris Rn. 10; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 72).
Klärungsbedürftig sind solche Rechts- oder Tatsachenfragen, deren Beantwortung zweifelhaft ist oder zu denen unterschiedliche Auffassungen vertreten werden und die noch nicht oder nicht hinreichend ober- und höchstrichterlich geklärt sind (vgl. BVerfG, B.v. 28.4.2011 – 1 BvR 3007/07 – juris Rn. 21; Roth in Posser/Wolff BeckOK, VwGO, Stand: 1.10.2019, § 124 Rn. 55 m.w.N; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124 Rn. 38). Ein derartiger Klärungsbedarf besteht nicht, wenn die Rechtsfrage bereits geklärt ist oder auf der Grundlage der bestehenden Rechtsprechung mit Hilfe der anerkannten Auslegungsregelungen auch ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantwortet werden kann (stRspr, BVerwG, B.v. 9.4.2014 – 2 B 107.13 – juris Rn. 9 m.w.N.; BVerfG, B.v. 29.7.2010 – 1 BvR 1634/04 – juris Rn. 64). So verhält es sich hier.
Der Kläger formuliert als klärungsbedürftige Rechtsfrage, “ob (vor der Ausweisung stehende) Ausländer sich auch im Erwachsenenalter im Hinblick auf ihre Eltern grundsätzlich auf den besonderen Schutz der Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK – und damit ein gesteigertes Bleibeinteresse – berufen können”.
In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass die Beziehungen eines erwachsenen Ausländers zu anderen Familienmitgliedern außerhalb der Kernfamilie (Ehepartner und Kinder) geringeren Schutz genießen und deshalb diese familiären Beziehungen im Rahmen einer Ausweisungsentscheidung weniger stark gewichtet werden als die Beziehungen zum Ehepartner und zu Kindern (BVerfG, B.v. 1.3.2004 – 2 BvR 1570/03 – juris Rn. 9, vgl. auch BayVGH, B.v. 27.9.2019 – 10 ZB 1781 – juris Rn. 12; B.v. 6.2.2018 – 10 ZB 17.2578 – juris Rn. 16; B.v. 13.10.2017 – 10 ZB 17.1469 – juris Rn. 13). Etwas anderes würde nur dann gelten, wenn der Betreffende auf familiäre Beistandsleistungen angewiesen ist (VGH BW, B.v. 28.3.2019 – 11 S 623/19 – juris Rn. 14). In der Rechtsprechung werden insoweit auch keine unterschiedlichen Auffassungen vertreten. Im Übrigen ist die vom Kläger gestellte Frage einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich, weil es eine Frage des Einzelfalls ist, mit welchem Gewicht familiäre Beziehungen des Ausländers in die Abwägungsentscheidung bei einer Ausweisung einzubeziehen sind.
Der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO liegt ebenfalls nicht vor. Das Verwaltungsgericht hat seine Amtsaufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO nicht verletzt. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat schriftsätzlich den Antrag gestellt, ein Sachverständigengutachten zum Beweis dafür einzuholen, dass vom Kläger keine Wiederholungsgefahr mehr ausgehe, und in der mündlichen Verhandlung vom 4. September 2019 angeregt, ein im Strafvollzugsverfahren noch zu erstellendes Gutachten über die Gefährlichkeit des Klägers beizuziehen. Ein schriftsätzlich gestellter Beweisantrag ist als bloße Anregung zu verstehen, im Rahmen der gerichtlichen Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) entsprechend zu ermitteln (BayVGH, B.v. 31.1.2018 – 10 ZB 17.2550 – juris Rn. 2 m.w.N.). Eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht bzw. eine Verletzung des Rechts aus Art. 103 GG kommt nur in Betracht, wenn das Gericht der Beweisanregung nicht gefolgt ist, obwohl sich eine weitere Sachaufklärung hätte aufdrängen müssen (BVerwG, U.v. 21.12.2017 – 4 BN 16.17 – juris Rn. 7 m.w.N.). Dies ist jedoch vorliegend nicht der Fall. Für die Beurteilung, ob das persönliche Verhalten des Klägers gegenwärtig noch eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, kommt es auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts an und nicht auf das Ergebnis eines noch zu erstellenden Sachverständigengutachtens im Strafvollstreckungsverfahren. Die angeregte Beiziehung des noch zu erstellenden Gutachtens war daher im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht entscheidungserheblich. Im Übrigen käme selbst einem Beschluss der Strafvollstreckungskammer, wegen fehlender Wiederholungsgefahr die Reststrafe des Klägers nach § 57 StGB zur Bewährung auszusetzen, nur Indizwirkung zu (stRspr BayVGH, B.v. 27.9.2019 – 10 ZB 19.1781 – juris Rn. 11 m.w.N.). Daher musste sich dem Verwaltungsgericht allein aufgrund des Beschlusses der Strafvollstreckungskammer vom 4. Juli 2019, ein Sachverständigengutachten zur Frage einzuholen, ob beim Kläger keine Gefahr mehr bestehe, dass dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbestehe und ob nach der Entlassung eine günstige Sozialprognose vorliege, die Einholung eines eigenen Sachverständigengutachtens zur Gefahrenprognose nicht aufdrängen. Zudem bewegt sich das Gericht bei der Prognoseentscheidung zur Wiederholungsgefahr regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen, die Gerichten allgemein zugänglich sind. Die Frage der Wiederholungsgefahr nach strafrechtlichen Verurteilungen kann daher grundsätzlich von den Gerichten ohne Zuziehung eines Sachverständigen beurteilt werden (stRspr des Senats, vgl. BayVGH, B.v. 16.7.2019 – 10 ZB 19.1208 – juris Rn. 7 m.w.N.). Nur ausnahmsweise bedarf es der Zuziehung eines Sachverständigen, wenn die Prognose aufgrund besonderer Umstände nicht ohne spezielle fachliche Kenntnisse erstellt werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 5). Im Übrigen kann auch ein Sachverständigengutachten die Prognoseentscheidung des Tatrichters nicht ersetzen, sondern nur eine Hilfestellung bieten (BVerwG, U.v. 13.3.2009 – 1 B 20.08 – juris Rn. 5). Anhaltspunkte dafür, dass im Fall des Klägers die Prognoseentscheidung nicht ohne Sachverständigengutachten hätte getroffen werden können, sind nicht ersichtlich. Der Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 4. Juli 2019 ist aus den genannten Gründen jedenfalls kein solches Indiz.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestünden nur dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (vgl. BVerfG, B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – juris Rn. 17; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist hier nicht der Fall. Die Beziehungen des Klägers zu seiner Familie hat das Verwaltungsgericht entsprechend den oben dargestellten Grundsätzen gewichtet. Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts unzutreffend ist, hat der Kläger im Zulassungsverfahren nicht aufgezeigt.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren ist abzulehnen, weil der Antrag auf Zulassung der Berufung aus den genannten Gründen keine hinreichenden Erfolgsaussichten bietet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Die Kostenentscheidung für das Zulassungsverfahren folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Einer Kostenentscheidung für den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe bedarf es nicht, weil Kosten nicht erstattet werden (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO).
Die Streitwertfestsetzung für das Zulassungsverfahren beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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