Verwaltungsrecht

Abschiebungsanordnung nach Italien – Familie mit Kleinkind

Aktenzeichen  M 12 S 16.50471

Datum:
27.7.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 5
AsylG AsylG § 27a, § 34a
VO (EU) 2013/604 Art. 3 As. 1, Art. 13 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Die Abschiebung einer Familie mit Kleinkindern nach Italien ist nicht zulässig, ohne vorher individuelle Garantien von den italienischen Behörden erhalten zu haben, dass die Kinder in Italien altersgemäß behandelt werden und die Familie zusammenbleiben darf. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die aufschiebende Wirkung der Klagen gegen die beiden Bescheide der Antragsgegnerin vom 21. Juni 2016 (Az. … und …) wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.

Gründe

I.
Die Antragsteller begehren vorläufigen Rechtsschutz gegen die ihnen drohende Überstellung nach Italien im Rahmen des so genannten „Dublin-Verfahrens“.
Der am … geborene Antragsteller zu 1) und seine Ehefrau, die am … geborene Antragstellerin zu 2), sind die Eltern des am … 2015 geborenen Antragstellers zu 3). Sie sind nigerianische Staatsangehörige und reisten eigenen Angaben zufolge erstmals am 24. Januar 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Hierbei wurde der Antragsteller zu 1) von der Polizei bei einer Grenzkontrolle zurückgewiesen, woraufhin er zunächst alleine nach Italien zurückkehrte. Am 1. Februar 2016 reiste der Antragsteller zu 1) erneut in das Bundesgebiet ein. Die Familie suchte hier am 13. Mai 2016 um Asyl nach.
Bei dem persönlichen Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates zur Durchführung des Asylverfahrens am 13. Mai 2016 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) gaben der Antragsteller zu 1) und die Antragstellerin zu 2) an, dass sie ihr Herkunftsland am 19. November 2014 in Richtung Libyen verlassen hätten. Im April 2015 seien sie weiter nach Italien gereist, wo sie um Asyl nachgesucht hätten. Ca. acht Monate hätten sie sich in einem Camp auf Sizilien aufgehalten. Anschließend seien sie über Österreich nach Deutschland gelangt.
Bei einem Abgleich ihrer Fingerabdrücke ergaben sich für den Antragsteller zu 1) (Nr. IT1…) und die Antragstellerin zu 2) (IT1…) EURODAC-Treffer für Italien. Auf das Übernahmeersuchen vom 29. Februar 2016 hin erklärten sich die italienischen Behörden mit Schreiben vom 14. März 2016 mit der Wiederaufnahme der Antragstellerin zu 2) und des Antragstellers zu 3) gemäß Art. 18 Abs. 1 d) Dublin III-VO einverstanden. Das hinsichtlich des Antragsteller zu 1) am 30. Mai 2016 an die italienischen Behörden gerichtete Übernahmeersuchen blieb hingegen unbeantwortet.
Laut einem Aktenvermerk vom 21. Juni 2016 (Blatt 59 bzw. Blatt 71 der Behördenakten) wurde der zuständigen Verbindungsbeamtin des Bundesamts auf ihre Anfrage vom 20. Juni 2016 bezüglich der Unterbringung der Antragsteller mitgeteilt, dass es eine konkrete Information, wo diese Familie unterkommen werde, nicht gäbe. Es gäbe aber eine allgemeine Zusage, dass die Familie in einer für Familien vorgesehenen SPRAR-Unterkunft unterkomme. Diese Plätze halte man für Familien, die im Rahmen des Dublin-Verfahrens rücküberstellt würden, frei. Sobald das Bundesamt die Transferdaten an Italien übersende, werde eine bestimmte Unterkunft festgelegt. Welche dies sein werde, werde sodann in der Zustimmung zum Transfer durch Italien mitgeteilt. Aus diesem Grund benötige Italien die Transferdaten zwei Wochen vor dem geplanten Termin.
In der Behördenakte befindet sich des Weiteren eine von den italienischen Behörden übersandte Übersicht zu den SPRAR Projekten, die für asylsuchende Familien bereitgestellt werden. Danach gibt es in Italien derzeit 23 SPRAR Unterkünfte, in denen insgesamt 85 Plätze für Asylsuchende mit Kindern zur Verfügung stehen. Der Zusage der italienischen Behörden vom 15. Februar 2016 zufolge wird ihren Rechten und ihren besonderen Bedürfnissen in diesen Unterkünften hinreichend Rechnung getragen.
Mit Bescheid vom 21. Juni 2016 (Az.: …) lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers zu 1) als unzulässig ab (Nr. 1 des Bescheides) und ordnete die Abschiebung nach Italien an (Nr. 2 des Bescheides). Des Weiteren wurden mit Bescheid vom selben Tag (Az.: …) die Asylanträge der Antragstellerin zu 2) und des Antragstellers zu 3) ebenfalls als unzulässig abgelehnt (Nr. 1 des Bescheides) und ihre Abschiebung nach Italien angeordnet (Nr. 2 des Bescheides). Beide Bescheide wurden ausweislich der vorgelegten Postzustellungsurkunden jeweils am 25. Juni 2016 zugestellt.
Zur Begründung wurde ausgeführt, die Asylanträge seien gemäß § 27a AsylG unzulässig, da Italien aufgrund der dort bereits gestellten Asylanträge gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. d) Dublin III-VO bzw. nach Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO für die Bearbeitung der Asylanträge zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich. Nach den dem Bundesamt vorliegenden Erkenntnissen lägen in Italien keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen im Sinne der Rechtsprechung des EGMR und EuGH vor. Entsprechend der Entscheidung der Großen Kammer des EGMR vom 4. November 2014 sei das Bundesamt seiner Prüfpflicht bezüglich der Zusicherung der italienischen Behörden im Hinblick auf die altersgerechte Unterbringung und der Wahrung der Familieneinheit nachgekommen. Dies sei durch die italienischen Behörden in Form einer allgemeinen Zusicherung bestätigt worden. Im Rahmen der Organisation der Überstellung werde eine weitere konkrete Zusicherung angefordert, die bis zum Tag der Überstellung vorliegen müsse. Die italienischen Behörden würden in diesem Zusammenhang die Einrichtung benennen und ggf. bei unbekannten Projekten die Unterbringungsmodalitäten darlegen. Daher würden die Asylanträge in der Bundesrepublik materiell nicht geprüft. Die Abschiebungsanordnung beruhe auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG.
Hiergegen haben die Antragsteller mit Telefax ihrer Bevollmächtigten vom … Juli 2016 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erhoben und beantragt, die beiden Bescheide vom 21. Juni 2016 aufzuheben (Verfahren M 12 K 16.50470). Gleichzeitig wurde beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klagen anzuordnen.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen geltend gemacht, dass dem Antragsteller zu 3) bei einer Rückkehr nach Italien Gefahr für Leib und Leben drohe. Sofern die Antragsgegnerin festgestellt habe, dass es eine allgemeine Zusage gäbe, wonach die Familie in einer für Familien vorgesehenen SPRAR-Unterkunft untergebracht werde, sei dies zu bezweifeln. Die Antragsteller seien aufgrund der unzumutbaren Verhältnisse in Italien und der damit verbundenen Gefahr für den Antragsteller zu 3), der sich im Säuglingsalter befunden habe, im Januar bzw. Februar 2016 in das Bundesgebiet eingereist. Die Familie sei in Italien nicht in einer für Familien geeigneten Unterkunft untergebracht gewesen und habe nicht ausreichend Nahrung für den Antragsteller zu 3) gehabt. Bereits unmittelbar vor der letzten Einreise seien die Antragsteller nach Deutschland eingereist, jedoch nach Italien zurückgeschoben worden. Sie seien von den dortigen Behörden nicht wiederaufgenommen worden, sondern hätten auf der Straße schlafen müssen. Darauf seien sie erneut in das Bundesgebiet eingereist.
Das Bundesamt legte mit Schreiben vom 29. Juni 2016 die Behördenakte vor. Ein Antrag wurde nicht gestellt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegte Behördenakte des Bundesamts Bezug genommen.
II.
Der zulässige, insbesondere fristgerecht gestellte Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klagen gegen die beiden Bescheide der Antragsgegnerin vom 21. Juni 2016 hat auch in der Sache Erfolg.
Entfaltet ein Rechtsbehelf wie hier von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 75 Abs. 1 AsylG), kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung, bei der es abzuwägen hat zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung und dem Interesse der Antragsteller an der aufschiebenden Wirkung ihres Rechtsbehelfs. Dabei sind insbesondere die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Eilverfahren gebotene summarische Prüfung, dass die Klage voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse der Antragsteller regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid bei kursorischer Prüfung als rechtswidrig, so besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung; nicht erforderlich sind insoweit erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides, denn die Regelung des § 36 Abs. 4 AsylG ist hier nicht (entsprechend) anwendbar (vgl. VG Göttingen, B. v. 9.12.2013 – 2 B 869/13 – juris Rn. 16). Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung.
Nach der hier gebotenen und ausreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage zum gegenwärtigen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) sind die Erfolgsaussichten der Klagen gegen die Abschiebungsanordnungen nach Italien vom 21. Juni 2016 als offen zu beurteilen (1.). Im Rahmen der sonach vom Gericht vorzunehmenden allgemeinen Interessenabwägung überwiegt das Aussetzungsinteresse der Antragsteller das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der streitgegenständlichen Bescheide vom 21. Juni 2016 (2.).
1. Rechtsgrundlage für die streitgegenständlichen Abschiebungsanordnungen ist § 34a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt in Fällen, in denen der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass diese durchgeführt werden kann. Nach § 27a AsylG ist ein Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrags für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
a) Im Fall der Antragsteller ist auf Grundlage von Rechtsvorschriften der Europäischen Union i. S. v. § 27a AsylG grundsätzlich von einer Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens auszugehen.
Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist vorliegend die am 19. Juli 2013 in Kraft getretene Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO). Diese findet gemäß Art. 49 Abs. 1 und 2 Dublin III-VO auf alle in der Bundesrepublik ab dem 1. Januar 2014 gestellten Anträge auf internationalen Schutz Anwendung, also auch auf die am 13. Mai 2016 gestellten Schutzgesuche der Antragsteller.
Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO sieht vor, dass der Asylantrag von dem Mitgliedstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO als zuständiger Staat bestimmt wird. Bei Anwendung dieser Kriterien ist vorliegend grundsätzlich Italien für die Prüfung der Asylanträge der Antragsteller gemäß Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO zuständig. Nach dieser Vorschrift ist derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig, über dessen Grenze der Asylbewerber aus einem Drittstaat illegal eingereist ist. Vorliegend ist davon auszugehen, dass die Antragsteller über Italien in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sind und dort bereits um Asyl nachgesucht haben. Dies ergibt sich aus dem bei einer EURODAC-Abfrage für die Antragsteller zu 1) und 2) erzielten Treffer mit der Kennzeichnung „IT1“ (vgl. Art. 24 Abs. 4 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 vom 26. Juni 2013 (EURODAC-VO)). Bezüglich der erhobenen und übermittelten EURODAC-Daten greift gemäß Art. 23 Abs. 1 lit. c) EURODAC-VO eine europarechtliche Richtigkeitsgewähr ein. Darüber hinaus haben die Antragsteller zu 1) und 2) bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt am 13. Mai 2016 bestätigt, dass sie sich vor ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland ca. acht Monate in Italien aufgehalten haben. Die Zuständigkeit Italiens ist auch nicht gemäß Art. 13 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO erloschen, da zum Zeitpunkt der erstmaligen Asylantragstellung der illegale Grenzübertritt noch nicht länger als zwölf Monate zurücklag (vgl. Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO). Damit ist Italien grundsätzlich dazu verpflichtet, die Antragsteller wiederaufzunehmen. Mit Schreiben vom 14. März 2016 haben sich die italienischen Behörden auch ausdrücklich mit der Wiederaufnahme der Antragstellerin zu 2) und des Antragstellers zu 3) einverstanden erklärt. In Bezug auf den Antragsteller zu 1) ist ebenfalls von einer Stattgabe des Wiederaufnahmeersuchens auszugehen, da die italienischen Behörden auf das Wiederaufnahmegesuch der Antragsgegnerin vom 30. Mai 2016 nicht innerhalb der nach Art. 25 Abs. 2 Dublin-III-VO maßgeblichen Zweiwochenfrist reagiert haben.
b) Es ist derzeit aber nicht mit hinreichender Sicherheit zu klären, ob im Sinne des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann.
Das Gericht geht zwar in Bezug auf Italien nach aktuellem Kenntnisstand davon aus, dass in Italien trotz verschiedener Schwierigkeiten bei der Bewältigung der sog. Flüchtlingskrise keine generellen systemischen Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen mit der Folge gegeben sind, dass Asylbewerber durchweg mit beachtlicher, d. h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt werden. Das Gericht schließt sich insoweit der Bewertung des umfangreichen aktuellen Erkenntnismaterials durch verschiedene Obergerichte und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte an (vgl. OVG NRW, U. v. 24.04.2015 – 14 A 2356/12.A – juris 20 ff. m. w. N.; OVG Lüneburg, U. v. 25.06.2015 – 11 LB 248/14 – juris Rn. 47 ff. m. w. N.; BayVGH, U. v. 28.2.2014 – 13a B 13.30295 – juris; VGH BW, U. v. 16.4.2014, a. a. O., Rn. 43 ff.; OVG NW, U. v. 7.3.2014, a. a. O.; OVG RhPf, U. v. 21.2.2014 – 10 A 10656/13 – juris Rn. 41 ff; OVG Nds., B. v. 30.1.2014 – 4 LA 167/13 – juris u. 18.3.2014 – 13 LA 75/13 – juris Rn. 15 ff.; OVG BB, B. v. 17.6.2013 – 7 S 33.13 – juris Rn. 13 ff. und B. v. 24.6.2013 – 7 S 58.13 – juris; EGMR, B. v. 2.4.2013 – Nr. 27725/10 – Rn. 78, ZAR 2013, 336/337 u. B. v. 10.9. 2013 – Nr. 2314/10 – Rn. 138 ff; B. v. 5.2.2015 – Nr. 51428/10 – A.M.E. ./. Niederlande, Rn. 36, veröffentlicht auf der Internetseite des EGMR). Es mag zwar immer wieder vorkommen, dass Asylsuchende während der Bearbeitung ihres Asylantrags in Italien auf sich alleine gestellt und zum Teil auch obdachlos sind. Dies und auch die zum Teil lange Dauer der Asylverfahren sind darauf zurückzuführen, dass das italienische Asylsystem aufgrund der momentan hohen Asylbewerberzahlen stark ausgelastet und an der Kapazitätsgrenze ist. Die im Bereich der Unterbringung und Versorgung der Asylbewerber weiterhin feststellbaren Mängel und Defizite sind aber weder für sich genommen noch insgesamt als so gravierend zu bewerten, dass ein grundlegendes systemisches Versagen des Mitgliedstaates vorläge, welches für einen Dublin-Rückkehrer nach dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit Rechtsverletzungen im Schutzbereich von Art. 4 EUGRCh bzw. Art. 3 EMRK mit dem dafür notwendigen Schweregrad impliziert (vgl. OVG NW, U. v. 7.3.2014, a.a.O., Rn. 132; OVG RhPf, U. v. 21.2.2014, a.a.O, Rn. 45 f.). Es ist im Grundsatz davon auszugehen, dass Italien über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes, richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, welches trotz einzelner Mängel nicht nur abstrakt, sondern gerade auch unter Würdigung der vor Ort tatsächlich anzutreffenden Rahmenbedingungen prinzipiell funktionsfähig ist und dabei insbesondere sicherstellt, dass der rücküberstellte Asylbewerber im Normalfall nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen rechnen muss (OVG NW, a. a. O., Rn. 131). In Italien bestehen ausdifferenzierte Strukturen zur Aufnahme von Asylbewerbern, auch speziell für Dublin-Rückkehrer. Diese befinden sich in staatlicher, in kommunaler, kirchlicher oder privater Trägerschaft und werden zum Teil zentral koordiniert (vgl. VG Ansbach, U. v. 11.12.2015 – AN 14 K 15.50316 – juris Rn. 24 m. w. N.). Das italienische Recht gewährt den Asylsuchenden zudem ab dem Zeitpunkt des Asylantrags Zugang zu diesen Unterbringungsmöglichkeiten. Damit wurde die damalige europäische Aufnahmerichtlinie umgesetzt. In der Praxis wird zwar der Zugang zu den Aufnahmezentren häufig erst von der formellen Registrierung des Asylantrags (verbalizzazione) abhängig gemacht, so dass hierdurch eine Zeitspanne ohne Unterbringung entstehen kann. Die Behörden sind jedoch darum bemüht, diese zu verringern (vgl. VG Ansbach, U. v. 11.12.2015 – AN 14 K 15.50316 – juris Rn. 24 m. w. N.). Auch Dublin-Rückkehrer haben bei ihrer Ankunft in Italien nach Kapazität sofort Zugang zu bestimmten Unterkünften und es ist gewährleistet, dass sie nach ihrer Rückkehr ihr ursprüngliches Asylverfahren weiterbetreiben können, bzw. einen Asylantrag stellen können, wenn sie das noch nicht getan haben (vgl. UNHCR, Empfehlungen zu wichtigen Aspekten des Flüchtlingsschutzes in Italien, Juli 2013, S. 6 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen, Aktuelle Situation von Asylsuchenden und Schutzberechtigten, insbesondere Dublin-Rückkehrenden, Bern, Oktober 2013, S. 7).
Auch die Lage der Personen, die in Italien einen internationalen Schutzstatus zuerkannt bekommen haben, begründet noch keine systemischen Mängel. Dies gilt auch in Ansehung des Umstands, dass Italien kein mit dem in der Bundesrepublik bestehenden Sozialleistungssystem vergleichbares landesweites Recht auf Fürsorgeleistungen kennt und hier nur im originären Kompetenzbereich der Regionen und Kommunen ein sehr unterschiedliches und in weiten Teilen von der jeweiligen Finanzkraft abhängiges Leistungsniveau besteht (VGH BW, U. v. 16.4.2014, a. a. O., juris).
Allerdings gehören die Antragsteller zu der besonders schutzwürdigen Personengruppe der Familien mit Neugeborenen und Kleinkindern. Für diese Personengruppe hat der EGMR in seiner Entscheidung vom 4. November 2014 im Verfahren Tarakhel ./. Schweiz (Az. 29217/12, NVwZ 2015, 127 ff.) entschieden, dass die Schweizer Behörden die Abschiebung einer Familie nach Italien nicht vornehmen dürfen, ohne vorher individuelle Garantien von den italienischen Behörden erhalten zu haben, dass die Antragsteller in Italien in einer dem Alter der Kinder adäquaten Art und Weise behandelt werden und die Familie zusammenbleiben darf. Das Urteil beinhaltet damit zwar keine Aussage zu eventuellen systemischen Mängeln in Italien, enthält aber eine Einschränkung für die Abschiebung von Familien nach Italien.
Auch das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Beschlüssen (vgl. BVerfG, B. v. 17.9.2014 – 2 BvR 1795/14 u. 2 BvR 732/14) darauf hingewiesen, dass die deutschen Behörden bei der Rückführung von Familien mit Kindern unter 3 Jahren nach Italien in Abstimmung mit den italienischen Behörden sicherstellen müssen, dass die Familie bei der Übergabe an italienische Behörden eine gesicherte Unterkunft erhalten, um eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefährdung für die im besonderen Maß auf ihre Eltern angewiesenen Kindern auszuschließen. Ein Abstimmungserfordernis besteht insbesondere deshalb, weil es bei der Aufnahme von schutzberechtigten Personen mit Kleinkindern zu Kapazitätsengpässen kommen kann (vgl. SFH, Italien: Aufnahmebedingungen, aktuelle Situation von Asylsuchenden und Schutzberechtigten, insbesondere Dublin-Rückkehrenden, Oktober 2013, S. 54 ff.).
Ob im Fall der Antragsteller eine ausreichende individuelle Garantie in Bezug auf ihre Unterbringung in Italien vorliegt, bedarf hier näherer Prüfung, die dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleibt:
Die in den Behördenakten auf Blatt 58 bzw. Blatt 70 enthaltene Zusage vom 15. Februar 2016, Familien mit Kleinkindern in den genannten Unterkünften adäquat unterzubringen, stellt eine allgemeine Absichtserklärung der italienischen Behörden dar. Diese wurde unabhängig vom konkreten Einzelfall für alle Asylsuchenden mit Kleinkindern abgegeben. Es handelt sich damit gerade um keine individuell auf den Fall der Antragsteller bezogene Zusicherung. In welcher Unterkunft die Antragsteller konkret untergebracht werden, konnte von den ständigen italienischen Behörden gemäß der Auskunft vom 21. Juni 2016 derzeit noch nicht mitgeteilt werden. Jedoch kann laut Auskunft vom 21. Juni 2016 eine solch konkrete Zusage spätestens zwei Wochen vor dem beabsichtigten Transfer nach Italien abgegeben werden. Ob die individuelle Zusicherung erst kurz vor dem Vollzug Abschiebung eingeholt werden darf oder bereits bei Erlass der Abschiebungsanordnung vorliegen muss, um eine diesbezügliche verwaltungsgerichtliche Kontrolle sicherstellen zu können, kann im Eilverfahren nicht abschließend gewürdigt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 17. April 2015 diese Rechtsfrage zunächst offengelassen und dem Bundesamt durch einstweilige Anordnung untersagt, einstweilen die Abschiebung einer Familie nach Italien zu vollziehen (vgl. BVerfG, B. v. 17.4.2015 – 2 BvR 602/15 – juris). Die Klärung dieser Frage bleibt daher einer eingehenden Prüfung im Hauptsacheverfahren vorbehalten.
2. Im Rahmen der sonach vorzunehmenden Interessenabwägung überwiegt hier das Aussetzungsinteresse der Antragsteller das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der streitgegenständlichen Bescheide vom 21. Juni 2016. Denn im Falle einer Abschiebung ist eine Gefährdung des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit des Antragstellers zu 3) nicht ausgeschlossen. Dahinter hat das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin bis zur Entscheidung in der Hauptsache zurückzutreten. Den Antragstellern ist es hingegen nicht zumutbar, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten.
Dem Eilantrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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