Verwaltungsrecht

Abschiebungsverbot bei einer Familie mit kleinem Kind wegen Heuschreckenplage und Corona-Pandemie – Äthiopien

Aktenzeichen  AN 9 K 17.34998

Datum:
4.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 38186
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1. Aufgrund des seit April 2018 vorherrschenden grundlegenden Wandels der politischen Verhältnisse in Äthiopien und der daraus folgenden Situation für Oppositionelle droht keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung (mehr). (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Rückkehr einer Familie mit kleinem Kind nach Äthiopien stellt aufgrund der Corona-Pandemie i. V. m. der Heuschreckenplage derzeit und in überschaubarer Zukunft einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK dar. (Rn. 58) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Verfahren AN 9 K 17.34998 und AN 9 K 17.34999 werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
2. Die Bescheide des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 31.07.2017 sowie 28.07.2017 werden in Ziffern 4, 5, soweit die Abschiebung nach Äthiopien angedroht wird, und 6 aufgehoben und die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Äthiopiens vorliegen. Im Übrigen werden die Klagen abgewiesen.
3. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens zu 1/4 und die Kläger zu 3/4.
4. Das Urteil ist in Ziffer 3 vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vor Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässigen Klagen der Kläger zu 1) bis 3) sind teilweise begründet. Über die Klagen konnte mit Einverständnis der Beteiligten gem. § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden.
Die streitgegenständlichen Bescheide vom 28.07. bzw. 31.7.2017 sind in Ziffer 4, 5, soweit die Abschiebung nach Äthiopien angedroht wird, und 6 rechtswidrig und verletzen die Kläger zu 1) bis 3) entsprechend in ihren Rechten.
Den Klägern zu 1) bis 3) steht zwar weder ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte noch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG, noch auf Zuerkennung des subsidiären Flüchtlingsschutzes nach § 4 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu. Jedoch haben die Kläger zu 1) bis 3) einen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG entsprechend dem Hilfsantrag. Deshalb werden die Kläger zu 1) bis 3) auch durch die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung, soweit die Abschiebung nach Äthiopien angedroht wird, sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot in ihren Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird hinsichtlich der Kläger zu 1) bis 3) im Hinblick auf die Begründung für die Ziffern 1 bis 3 auf den angefochtenen Bundesamtsbescheid Bezug genommen, § 77 Abs. 2 AsylG. Ergänzend ist Folgendes auszuführen.
a) Vorliegend ist kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 Abs. 4, Abs. 1 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG gegeben.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, sofern nicht die in dieser Bestimmung angeführten – hier nicht einschlägigen – besonderen Voraussetzungen nach § 60 Abs. 8 AufenthG erfüllt sind. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling i.S.d. Abkommens über die Rechtstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
Ergänzend hierzu bestimmt § 3a AsylG die Verfolgungshandlungen, § 3b AsylG die Verfolgungsgründe, § 3c AsylG die Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, § 3d AsylG die Akteure, die Schutz bieten können und § 3e AsylG den internen Schutz.
§ 3a Abs. 3 AsylG regelt ausdrücklich, dass zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. den in § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und Abs. 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen muss.
Ausschlussgründe, wonach ein Ausländer nicht Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, sind in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG geregelt.
Die Furcht vor Verfolgung ist nach § 3 Abs. 1 AsylG dann begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, das heißt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Für die Verfolgungsprognose gilt ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, auch wenn der Antragsteller Vorverfolgung erlitten hat. Dieser im Tatbestandsmerkmal „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ des Art. 2 Buchst. d RL 2011/95/EU enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 14).
Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erfordert die Prüfung, ob bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Asylsuchenden Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann, weil nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 14; B.v. 7.2.2008 – 10 C 33.07 – juris Rn. 37).
Vorverfolgte bzw. geschädigte Asylantragsteller werden durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU privilegiert. Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 15; EuGH, U.v. 2.3.2010 – C-175/08 – juris Rn. 94). Diese Vermutung kann widerlegt werden, wenn stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgungshandlungen entkräften (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – juris Rn. 23).
Nach diesen Maßstäben ist den Klägern zu 1) bis 3) die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen.
Aufgrund des seit April 2018 vorherrschenden grundlegenden Wandels der politischen Verhältnisse in Äthiopien und der daraus folgenden Situation für Oppositionelle ist mit der aktuellen Rechtsprechung des 8. Senats des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes München (vgl. U.v. 12.3.2019 – 8 B 18.30252; U.v. 12.3.2019 – 8 B 18.30274; U.v. 13.2.2019 – 8 B 18.30261; U.v. 13.2.2019 – 8 B 18.30257; U.v. 13.2.2019 – 8 B 18.31645 – alle juris) davon auszugehen, dass entsprechend der aktuellen Erkenntnisquellen, die in das Klageverfahren einbezogen wurden, von einer grundlegenden Veränderung der politischen Verhältnisse seit April 2018 im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ausgegangen werden kann mit der Folge, dass den Klägern weder aufgrund der behaupteten früheren Ereignisse in Äthiopien (sog „Vorfluchtgründe“) noch infolge einer exilpolitischen Tätigkeit in Deutschland (sog. „Nachfluchtgründe“) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an § 3 Abs. 1 AsylG ausgerichtete, flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung droht.
Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die Kläger Äthiopien bereits vorverfolgt verlassen hat und deshalb Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU mit der darin enthaltenen Vermutung zu ihren Gunsten anzuwenden wäre. Denn selbst wenn man dies zu ihren Gunsten annimmt, sprechen infolge der Änderung der politischen Verhältnisse in Äthiopien seit April 2018 triftige Gründe gegen die Wiederholung einer solchen Verfolgung.
Die politische Lage in Äthiopien hat sich sowohl für Regierungsgegner und Oppositionelle seit Anfang 2018 deutlich entspannt. Am 15. Februar 2018 gab der damalige Premierminister Heilemariam Desalegn bekannt, sein Amt als Regierungschef und Parteivorsitzender der EPRDF (Ethiopian People‘s Revolutionary Demokratic Front) niederzulegen (BayVGH, U.v. 13.2.2019 – 8B 18. 31645 – Rn. 19 juris). Die äthiopische Regierung verhängte am 16. Februar 2018 einen sechsmonatigen Ausnahmezustand mit der Begründung, Proteste und Unruhen verhindern zu wollen. Nachdem der Rat der EPRDF, die sich aus den vier regionalen Parteien TPLF (Tigray People’s Liberation Front), ANDM (Amhara National Democratic Movement), OPDO (Oromo People’s Democratic Organisation) und SEPDM (Southern Ethiopian Peoples’ Democratic Movement) zusammensetzt, Abiy Ahmed zum Premierminister gewählt hatte, wurde dieser am 2. April 2018 als neuer Premierminister vereidigt (BayVGH, U.v. 13.2.2019 – 8 B 18.31645 – Rn. 19 juris). Abiy Ahmed gehört in Äthiopien der Ethnie der Oromo an (vgl. Amnesty International, Stellungnahme vom 11.7.2018 zum Beweisbeschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 26.3.2018 S. 1), der größten ethnischen Gruppe Äthiopiens, die sich jahrzehntelang gegen wirtschaftliche, kulturelle und politische Marginalisierung wehrte (vgl. Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe-Länderanalyse vom 26.9.2018 zum Beweisbeschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 26.3.2018).
Seit seinem Amtsantritt wurde eine Vielzahl tiefgreifender Reformen in Äthiopien umgesetzt. Mitte Mai 2018 wurden das Kabinett umgebildet und altgediente EPRDF-Funktionsträger abgesetzt; die Mehrheit des Kabinetts besteht nun aus Oromo. Der bisherige Nachrichten- und Sicherheitsdienstchef und der Generalstabschef wurden ausgewechselt (vgl. Auswärtiges Amt, Stellungnahme an den Verwaltungsgerichtshof vom 14.6.2018 S. 1). Am 5. Juni 2018 wurde der sechsmonatige Ausnahmezustand vorzeitig beendet. Mit dem benachbarten Eritrea wurde ein Friedensabkommen geschlossen und Oppositionsparteien eingeladen, aus dem Exil zurückzukehren (vgl. Schweizerische Staatssekretariat für Migration Fokus Äthiopien Der politische Umbruch 2018 vom 16. Januar 2019).
Für Oppositionelle hat sich die Situation deutlich verbessert. Bereits unmittelbar nach dem Amtsantritt von Premierminister Abiy Ahmed im April 2018 wurde das „…-Gefängnis“ in … … geschlossen, in dem offenbar insbesondere auch aus politischen Gründen verhaftete Gefangene verhört worden waren (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 24; Auswärtiges Amt, Ad-hoc-Bericht S. 17) und im August 2018 das „Jail Ogaden“ in der Region Somali geschlossen (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 24 f.). In der ersten Jahreshälfte 2018 sind ca. 25.000 teilweise aus politischen Gründen inhaftierte Personen vorzeitig entlassen worden. Seit Anfang des Jahres sind über 7.000 politische Gefangene freigelassen worden, darunter unter anderem führende Oppositionspolitiker (Auswärtiges Amt, Ad-hoc-Bericht S. 9 f.).
Am 20. Juli 2018 wurde ein allgemeines Amnestiegesetz erlassen, nach welchem Personen, die bis zum 7. Juni 2018 wegen Verstoßes gegen bestimmte Artikel des äthiopischen Strafgesetzbuches sowie weiterer Gesetze, insbesondere wegen begangener politischer Vergehen, strafrechtlich verfolgt wurden, innerhalb von sechs Monaten einen Antrag auf Amnestie stellen konnten (vgl. Auswärtiges Amt, Stellungnahme an den Verwaltungsgerichtshof vom 7.2.2019; Auswärtiges Amt, Ad-hoc-Bericht S. 11).
Am 5. Juli 2018 wurde als wesentliche und asylrechtlich relevante Veränderung in Äthiopien die Einstufung der Untergrund- und Auslands-Oppositionsgruppierungen Ginbot7 (auch Patriotic Ginbot7 oder PG7), OLF und ONLF (Ogaden National Liberation Front) als terroristische Organisationen durch das Parlament von der Terrorliste gestrichen und die Oppositionsgruppen wurden eingeladen, nach Äthiopien zurückzukehren, um am politischen Diskurs teilzunehmen (vgl. Auswärtiges Amt, Stellungnahme vom 7.2.2019; VG Bayreuth, U.v. 31.10.2018 – B 7 K 17.32826 – juris Rn. 44). Weiterhin als terroristisch gelten nur noch zwei Organisationen, nämlich die international aktive Al-Qaida sowie die somalische Al Shabaab (vgl. schweizerische Eidgenossenschaft, Fokus Äthiopien Der politische Umbruch 2018 vom 16. Januar 2019). Am 7. August 2018 unterzeichneten Vertreter der äthiopischen Regierung und der OLF in Eritrea ein Versöhnungsabkommen. In den vergangenen sechs Monaten sind verschiedene herausgehobene äthiopische Exilpolitiker nach Äthiopien zurückgekehrt, die nunmehr teilweise aktive Rollen im politischen Geschehen haben (vgl. Auswärtiges Amt, Stellungahme vom 7.2.2019; BFA Länderinformationsblatt S. 23).
Unter Zugrundelegung dieser positiven politischen Entwicklungen ist nicht anzunehmen, dass bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aufgrund der von ihnen angegebenen früheren oppositionellen Tätigkeit und Flucht noch Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass die Kläger aufgrund der geschilderten oppositionellen Tätigkeit in Äthiopien verfolgt werden könnten. Gerade politische Gefangene und Regimegegner wurden in den vergangenen Monaten freigelassen und zum Gespräch eingeladen. Dies spricht dafür, dass die Kläger trotz einer eventuellen früheren Verfolgung im Falle ihrer Rückkehr keiner der in § 3a AsylG aufgeführten Verfolgungshandlungen (mehr) ausgesetzt sein werden.
Hierbei übersieht das Gericht nicht, dass die politischen Verhältnisse teilweise unübersichtlich und instabil sind und nicht nur positive Reformbestrebungen in Äthiopien zu verzeichnen sind.
Hierzu führt der BayVGH in seinem Urteil vom 13.2.2019 – 8 B 18.31645 – aus:
„So ist es in Äthiopien in den vergangenen Monaten mehrfach zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen der Regierung und der Bevölkerung gekommen. Auch leidet das Land mehr denn je unter ethnischen Konflikten (vgl. The Danish Immigration Service S. 11). Am 15. September 2018 kam es nach Rückkehr der Führung der OLF zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten verschiedener Lager sowie zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften, die zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert haben. Zu weiteren Todesopfern kam es, als tausende Menschen gegen diese Gewaltwelle protestierten (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 8, 19; Schweizerische Flüchtlingshilfe S. 7). Bei einer Demonstration gegen die Untätigkeit der Regierung bezüglich der ethnisch motivierten Zusammenstöße im ganzen Land vertrieb die Polizei die Demonstranten gewaltsam und erschoss dabei 5 Personen. Insgesamt 28 Menschen fanden bei den Zusammenstößen angeblich den Tod. Kurz darauf wurden mehr als 3.000 junge Personen festgenommen, davon 1.200 wegen ihrer Teilnahme an der Demonstration gegen ethnische Gewalt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe S. 7), die laut Angaben der Polizei nach „Resozialisierungstrainings“ allerdings wieder entlassen wurden (vgl. AA, Ad-hoc-Bericht S. 11). Auch soll die äthiopische Luftwaffe bei Angriffen im Regionalstaat Oromia am 12./13. Januar 2019 sieben Zivilisten getötet haben. Die Regierung räumte hierzu ein, Soldaten in die Region verlegt zu haben, warf der OLF aber kriminelle Handlungen vor. Mit einer Militäroffensive sollte die Lage wieder stabilisiert werden (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 21. Januar 2019 – Äthiopien).
Auch in den Regionen sind Gewaltkonflikte nach wie vor nicht unter Kontrolle (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 6 f.). In den Regionen Oromia, SNNPR, Somali, Benishangul Gumuz, Amhara und Tigray werden immer mehr Menschen durch Gewalt vertrieben.
Aufgrund der Ende September 2018 in der Region Benishangul Gumuz einsetzenden Gewalt wurden schätzungsweise 240.000 Menschen vertrieben (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 8 f.). Rund um den Grenzübergang Moyale kam es mehrfach, zuletzt Mitte Dezember 2018, zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den Volksgruppen der Somali- und Oromia-Region sowie den Sicherheitskräften, bei denen zahlreiche Todesopfer zu beklagen waren. Über 200.000 Menschen sind seit Juli 2018 vor ethnischen Konflikten in der Somali-Region geflohen (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 9 f.). Auch in der Region Benishangul Gumuz sind bewaffnete Oppositionsgruppen und Banden aktiv und es bestehen Konflikte zwischen verfeindeten Ethnien, welche regelmäßig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. Trotz des Einsatzes von Sicherheitskräften des Bundes zur Unterdrückung der Gewalt dauern die Konflikte weiterhin an. Ebenso gibt es an der Grenze zwischen der Region Oromia und der SNNPR bewaffnete Auseinandersetzungen. Insgesamt erhöhte sich die Zahl an Binnenflüchtlingen in Äthiopien deswegen allein in der ersten Jahreshälfte 2018 auf etwa 1,4 Millionen Menschen (vgl. Neue Züricher Zeitung vom 27.12.2018, „Äthiopiens schmaler Grat zwischen Demokratie und Chaos“).
Bei diesen Ereignissen handelt es sich nach Überzeugung des Senats auf der Grundlage der angeführten Erkenntnismittel aber nicht um gezielte staatliche Verfolgungsmaßnahmen gegen Oppositionelle wegen ihrer politischen Überzeugung, sondern um Vorfälle in der Umbruchsphase des Landes bzw. um Geschehnisse, die sich nicht als Ausdruck willentlicher und zielgerichteter staatlicher Rechtsverletzungen, sondern als Maßnahmen zur Ahndung kriminellen Unrechts oder als Abwehr allgemeiner Gefahrensituationen darstellen. Dies zeigt etwa auch die Tatsache, dass das äthiopische Parlament am 24. Dezember 2018 ein Gesetz zur Einrichtung einer Versöhnungskommission verabschiedet hat, deren Hauptaufgabe es ist, der innergemeinschaftlichen Gewalt ein Ende zu setzen und Menschenrechtsverletzungen im Land zu dokumentieren (vgl. BFA Länderinformationsblatt S. 20).“
Dennoch ist für das Vorliegen „stichhaltiger Gründe“ im Sinn des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU, durch die die Vermutung der Wiederholung einer Vorverfolgung widerlegt wird, es nicht erforderlich, dass die Gründe, die die Wiederholungsträchtigkeit einer Vorverfolgung entkräften, dauerhaft beseitigt sind (BayVGH U.v. 13.02.2019 – 8 B 17.31645 – juris).
Die Kläger können sich auch nicht auf die Geltendmachung von sog. Nachfluchtgründen im Sinne des § 28 Abs. 1a AsylG berufen. Insoweit gelten die obigen Ausführungen entsprechend.
Aufgrund der neuen gesetzlichen Regelungen, insbesondere der Streichung der OLF von der Terrorliste und der Rückkehr namhafter Exilpolitiker der OLF, kann nicht (mehr) angenommen werden, dass äthiopische Staatsangehörige aufgrund ihrer exilpolitischen Tätigkeit, etwa weil sie einfaches Mitglied der TBOJ/UOSG sind oder waren oder weil sie diese Organisation durch die Teilnahme an einer oder an mehreren Demonstrationen oder Versammlungen unterstützt haben, im Fall ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsmaßnahmen bedroht sind (vgl. VG Bayreuth, U.v. 31.10.2018 – B 7 K 17.32826 – juris Rn. 48; VG Regensburg, U.v. 13.11.2018 – RO 2 K 17.32132 – juris Leitsatz und Rn. 34). Diese Auffassung wird auch durch die Einschätzung des Auswärtigen Amts bestätigt, wonach aktuell nicht davon auszugehen ist, dass eine (einfache) Mitgliedschaft in einer in Deutschland exilpolitisch tätigen Organisation, die in Äthiopien nicht (mehr) als Terrororganisation eingestuft ist, bzw. in einer ihr nahestehenden Organisation bei Rückkehr nach Äthiopien negative Auswirkungen nach sich zieht (vgl. AA, Stellungnahme vom 7.2.2019, S. 2).
Auch der Klägerin zu 3) steht kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG zu, auch nicht wegen der vom Klägervertreter behaupteten Gefahr der zwangsweisen Beschneidung. Die Kläger haben insoweit nicht glaubhaft gemacht, dass der Klägerin zu 3) im Heimatland die zwangsweise Beschneidung, die im Übrigen einen asylrelevanten Verfolgungsgrund darstellen würde, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Zwar hat der Vater der Klägerin bei der Anhörung zu seinem Asylantrag vorgetragen, er befürchte, dass seine Tochter beschnitten werden müsste, die Mutter der Klägerin hat dies aber bei ihrer Anhörung beim Bundesamt nicht bestätigt, sondern angegeben, sie selbst sei nicht beschnitten. Die Klägervertreter haben in der Klagebegründung dargetan, der Klägerin zu 3) drohe die Zwangsbeschneidung deshalb, weil auch die Klägerin zu 2) zwangsweise beschnitten worden sei und sie deshalb dies bei ihrer Tochter auch nicht verhindern könnte. Nachdem aber die Klägerin zu 2) selbst angegeben hat, gerade nicht zwangsweise beschnitten worden zu sein, entfällt für diese Argumentation die Grundlage. Die Klägervertreter haben auch trotz Kenntnis der Angaben der Kläger nicht die widersprüchlichen Angaben etwa dadurch ausgeräumt, dass ein ärztliches Attest über die Unversehrtheit bzw. die Beschneidung der Mutter vorgelegt worden wäre. Da nach der Rechtsprechung der Kammer und des Einzelrichters die beachtliche Wahrscheinlichkeit für die Gefahr einer Zwangsbeschneidung nicht generell für alle Mädchen in Äthiopien besteht, sondern nur in den Fällen, in denen die Eltern substantiiert darlegen und glaubhaft machen können, dass sie sich gegen einen entsprechenden gesellschaftlichen Druck nicht werden zur Wehr setzen können, scheidet im vorliegenden Verfahren eine Zuerkennung von Flüchtlingsschutz für die Klägerin zu 3) aus.
Nach dem Vorstehenden waren auch die Voraussetzungen für eine Asylanerkennung der Kläger zu 1) bis 3) nicht gegeben.
Die Verpflichtungsklage war demnach im Hauptantrag abzuweisen.
b) Mangels Erfüllung der Voraussetzungen des § 4 AsylG steht den Klägern zu 1) bis 3) auch kein Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes zu.
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär schutzberechtigt, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gelten nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall der Kläger nicht erfüllt.
Dass den Klägern bei ihrer Rückkehr die Verhängung oder die Vollstreckung der Todesstrafe droht (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG), machen sie selbst nicht geltend. Ebenso wenig kann angesichts der oben genannten grundlegenden Änderung der politischen Verhältnisse in Äthiopien angenommen werden, dass den Klägern in Äthiopien Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG drohen. Unter dem Gesichtspunkt der schlechten humanitären Bedingungen in Äthiopien scheidet die Gewährung subsidiären Schutzes schon deswegen aus, weil die Gefahr eines ernsthaften Schadens insoweit nicht von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, also vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor einem ernsthaften Schaden beziehungsweise der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens zu bieten, § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3c AsylG (hierzu VGH BW, U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17 – juris Rn. 54 ff.).
Schließlich steht den Klägern auch kein Anspruch auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG zu.
Nach dieser Vorschrift gilt als ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Ein innerstaatlich bewaffneter Konflikt liegt vor, wenn die Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist. Maßgeblicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird (vgl. VGH BW, U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17 – juris Rn. 82 ff.)
Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG bei den Klägern, die keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände aufweisen, nicht vor. Zwar werden, wie vorstehend ausgeführt, in Äthiopien zunehmend ethnische Konflikte mit Waffengewalt ausgetragen, die erhebliche Binnenvertreibungen zur Folge haben. Es gibt nach aktueller Erkenntnislage aber in keiner Region Äthiopiens bürgerkriegsähnliche Zustände.
Die Konflikte zwischen Ethnien oder die Auseinandersetzungen der Regierung mit bewaffneten Oppositionsbewegungen haben trotz begrenzten Einflusses und Kontrolle der Zentralregierung in der Somali-Region keine derartige Intensität (vgl. BayVGH, U.v. 13.2.2019 – 8 B 31645 – juris).
c) Die Verpflichtungsklage erweist sich hingegen bezüglich der Kläger zu 1) bis 3) hinsichtlich der begehrten Feststellung auf Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG als erfolgreich.
Den Klägern zu 1) bis 3) steht ein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl. 1952 II, S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Davon ist dann auszugehen, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Falle der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden, d.h. unmenschlichen Behandlung ausgesetzt zu sein.
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können ausnahmsweise eine solch Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung darstellen.
Nach der Rechtsprechung (vgl. z.B. BVerwG v. 13.6.2013, 10 C 13.12 – juris; BayVGH v. 8.11.2018, 13 a B 17.31918 – juris) können in außergewöhnlichen Ausnahmefällen auch „nicht staatliche“ Gefahren aufgrund prekärer Lebensbedingungen im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK in Betracht kommen.
D. h., im Bereich des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK sind neben von Staat oder staatsähnlichen Organisationen ausgehenden Gefahren für Leib und Leben auch „nicht staatliche“ Gefahren wegen prekärer Lebensbedingungen zu berücksichtigen, jedoch kommt dies nur in ganz außergewöhnlichen Fällen in Betracht (vgl. z.B. EGMR v. 27.5.2008, 26565.05, NVwZ 2008, 1334; v. 28.6.2011, 8319.07, NVwZ 2012, 681).
Zu berücksichtigen sind bei dieser Beurteilung eine Reihe relevanter Faktoren, z.B. die Zugangsmöglichkeiten zu Arbeit, Grundversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden und über finanzielle Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse verfügen zu können (vgl. BayVGH v. 23.3.2017, 13 a B 17.30030 – juris; v. 20.11.2018, 8 ZB 18.32888 – juris). Aus der oben genannten Rechtsprechung geht deutlich hervor, dass insoweit hohe Anforderungen zu stellen sind, da nur bei Vorliegen „zwingender Gründe“ i.S.d. Art. 3 EMRK ein nach der Rechtsprechung erforderlicher außergewöhnlicher Fall vorliegt, der zur Bejahung des Vorliegens der Voraussetzungen des Art. 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK führen kann (vgl. z.B. BayVGH v. 21.11.2014, 13 a B 14.30284 – juris).
Darauf hinzuweisen ist an dieser Stelle jedoch, dass dabei nicht der Maßstab für das Vorliegen einer Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 5 AufenthG heranzuziehen ist (BayVGH v. 21.11.2014, a.a.O.).
Auch im Rahmen des Art. 3 EMRK ist eine tatsächliche Gefahr („real risk“) nötig, d.h. es muss eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen ohne Vorhandensein einer hinreichenden Tatsachengrundlage basierende Gefahr vorhanden sein. Diese Gefahr darf nicht nur hypothetisch sein, sondern muss sich aufgrund aller fallrelevant zu berücksichtigenden Umstände als hinreichend sicher im Hinblick auf eine Art. 3 EMRK zuwiderlaufende Behandlung erweisen.
Einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit der Verletzung von durch Art. 3 EMRK geschützter Rechte bedarf es nicht, vielmehr genügt insoweit das Bestehen einer tatsächlichen Gefahr, entsprechend dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. EGMR v. 28.2.2008, 37201.06, NVwZ 2008, 1330; BVerwG v. 27.4.2010, 10 C 5.09, NVwZ 11, 51). Bei der Frage des Vorliegens solch einer Gefahr bei Rückkehr geht es demgemäß nicht um einen fernab jedweden Zweifels liegenden Beweis, sondern dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK ist nach der Rechtsprechung ein gewisser Grad an Mutmaßung immanent (vgl. BVerwG v. 13.2.2019, 1 B 2.19 unter Verweis auf EGMR v. 9.1.2018, 36417.16, X./Schweden).
Aufgrund der sich derzeit durch die Corona-Pandemie im Zusammenspiel mit der in Äthiopien herrschenden Heuschreckenplage ergebenden landesweiten Verhältnissen in Äthiopien ist das Gericht in Ansehung der in Äthiopien „pandemieunabhängig“ gegebenen Situation unter Zugrundelegung der verfahrensgegenständlichen Erkenntnisquellen der Auffassung, dass im konkreten Falle der Kläger zu 1) bis 3) vorliegend derzeit die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK erfüllt sind.
Unter Berücksichtigung dieser Gesamtsituation, wie sie sich dem Gericht insbesondere nach Auswertung der verfahrensgegenständlichen Erkenntnisquellen und in Ansehung der konkreten Besonderheiten des Einzelfalles, hier eine Familie mit einem kleinen Kind, das aufgrund seines Alters im großen Umfang auf Betreuung angewiesen sind, darstellt, steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass eine Rückkehr der Kläger zu 1) bis 3) wegen der jetzigen aufgrund der Corona-Pandemie i.V.m. der Heuschreckenplage bestehenden Lebenssituation, auch in Ansehung der unabhängig von Pandemie und Heuschreckenplage für Rückkehrer bestehenden Situation in Äthiopien, derzeit und in überschaubarer Zukunft einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellen würde.
Die im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zu berücksichtigenden prekären Lebensbedingungen sind, z.Zt. im Hinblick auf die der herrschenden Pandemie immanenten Beschränkungen und die daraus folgenden Probleme der Erlangung eines Zugangs zu Arbeit und adäquater Unterkunft, zu Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung und zur Erlangung der für die Befriedigung elementarer Bedürfnisse nötigen finanziellen Mittel sowie der durch die Heuschreckenplage zusätzlich zur Pandemie verursachten schwierigen wirtschaftliche Situation nach Auffassung des Gerichts gegeben.
Insbesondere infolge der durch die bestehende Pandemie veranlassten Beschränkungen wird die Wohnungs- und Arbeitssuche für Rückkehrer zur Überzeugung des Gerichts in einem Maße erschwert, wenn nicht zeitweise weitgehend unmöglich gemacht, dass unter Zugrundelegung der oben dargestellten rechtlichen Anforderungen an das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK im Einzelfall nicht mehr im erforderlichen Umfang von der Sicherung des Existenzminimums ausgegangen werden kann.
Nach alldem liegt im konkreten Einzelfall zur Überzeugung des Gerichts hinsichtlich Äthiopien ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vor.
Damit war wegen des insoweit einheitlichen Streitgegenstandes nicht mehr über das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 sowie analog § 60 Abs. 7 Satz 1 i.V.m. § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu entscheiden.
c) Des Weiteren waren bezüglich der Kläger zu 1) bis 3) im Hinblick auf das Bestehen eines Anspruchs auf Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG die dem entgegenstehenden Regelungen in Ziff. 4 bis 6 des streitgegenständlichen Bundesamtsbescheids aufzuheben, für die in Ziff. 5 enthaltene Abschiebungsandrohung bedeutet dies die Aufhebung, soweit darin gerade die Abschiebung nach Äthiopien angedroht ist (vgl. §§ 59 Abs. 3, 75 Nr. 12 AufenthG, 34 Abs. 1 Satz 3 AsylG).
3. Nach alldem war den jeweiligen Klagen im Umfange des Urteilstenors stattzugeben, im Übrigen waren die Klagen der Kläger zu 1) bis 3) abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154, 155 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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