Verwaltungsrecht

Abschiebungsverbot für eine alleinstehende Frau mit zwei minderjährigen Kindern nach Bulgarien

Aktenzeichen  W 2 K 18.30210

Datum:
18.3.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 5827
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Es bestehen keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Aufnahmebedingungen in Bulgarien für anerkannte Flüchtlinge so defizitär sind, dass es für nicht vulnerable Personen, wie alleinstehende junge gesunde Männer, typischerweise zu einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK kommt. Dies gilt nicht für eine alleinstehende Frau mit kleinen Kindern, die als Familieneinheit betrachtet vulnerabel sind.  (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 16. Januar 2018 (Az. 7260710-475) verpflichtet, festzustellen, dass bei den Klägern ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt.
II. Die Beklagte hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Gemäß § 101 Abs. 2 VwGO kann das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Entsprechende Einverständniserklärungen liegen mit dem Schreiben des Klägervertreters vom 25. Juli 2018 und der allgemeinen Prozesserklärung des Bundesamts vom 27. Juni 2017 vor.
Die Klage ist zum gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Entscheidung zulässig und begründet.
Der Bescheid ist im streitgegenständlichen Umfang rechtwidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten. Die Kläger haben einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK bezüglich Bulgarien, § 113 Abs. 1 und 5 VwGO.
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
Als Mitgliedstaat der Europäischen Union unterliegt Bulgarien deren Recht und ist den Grundsätzen einer gemeinsamen Asylpolitik sowie den Mindeststandards eines gemeinsamen Asylverfahrens verpflichtet, so dass im Sinne des Prinzips des gegenseitigen Vertrauens, grundsätzlich davon ausgegangen werden kann, dass die Aufnahmebedingungen für anerkannte Flüchtlinge den Erfordernissen der EU-Grundrechtscharta und der EMRK entsprechen. Den Wertungen des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO folgend ist diese Vermutung jedoch dann erschüttert und eine Abschiebung rechtlich unmöglich, wenn wesentliche Gründe für die Annahme bestehen, dass die Aufnahmebedingungen für anerkannte Schutzberechtigte in Bulgarien so ausgestaltet sind, dass sie typischerweise zu einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EU Grundrechtscharta bzw. Art. 3 EMRK führen.
Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Daraus folgen neben Unterlassungsauch staatliche Schutzpflichten. Eine Verletzung von Schutzpflichten kommt jedoch nur in Betracht, wenn sich die staatlich verantworteten Lebensverhältnisse von international Schutzberechtigten in Bulgarien als unmenschlich oder erniedrigend darstellen (vgl. OVG NW, U.v. 19.5.2016 – 13 A 1490/13.A – juris). Eine staatliche Verantwortlichkeit aus Art. 3 EMRK kann ausnahmsweise dann begründet sein, wenn der Betroffene vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig ist und mit einer behördlichen Gleichgültigkeit konfrontiert ist, obwohl er sich in so ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befindet, dass dies mit der Menschenwürde unvereinbar ist (vgl. EGMR, U.v. 4.11.2014 – 29217/12 – NVwZ 2015, 127). Demgegenüber ist Art. 3 EMRK nicht dahingehend auszulegen, dass diese Vorschrift die Vertragsparteien verpflichtet, jedermann in ihrem Hoheitsgebiet mit einer Wohnung zu versorgen. Auch begründet Art. 3 EMRK keine allgemeine Verpflichtung, Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren oder ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen (vgl. EGMR, U.v. 30.6.2015 – 39350/13 – juris; U.v. 21.1.2011 – 30696/09 – juris). Sofern keine außergewöhnlich zwingenden humanitären Gründe bestehen, die gegen eine Überstellung sprechen, ist allein die Tatsache, dass sich die wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse nach einer Überstellung erheblich verschlechtern würden, unzureichend, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen (EGMR, B.v. 2.4.2013 – 27725/10 – ZAR 2013, 336). So sieht auch das Unionsrecht für die Ausgestaltung des rechtlichen Status von anerkannten Flüchtlingen lediglich eine Inländergleichbehandlung vor (vgl. Art. 26 ff. RL 2011/95/EU).
Unter Berücksichtigung dieser strengen Maßstäbe bestehen zur Überzeugung des Gerichts zwar keine Anhaltspunkte dafür, dass die Aufnahmebedingungen für anerkannte Flüchtlinge in Bulgarien so defizitär sind, dass es für nicht vulnerable Personen, wie beispielsweise alleinstehende, junge gesunde Männer typischerweise zu einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EU Grundrechtscharta bzw. Art. 3 EMRK kommt. Dies gilt jedoch nicht für Personen wie die Kläger, eine alleinstehende Frau mit kleinen Kindern, die als Familieneinheit betrachtet vulnerabel sind. Selbst bei unterstellter uneingeschränkter Arbeits- und Leistungsfähigkeit der Klägerin zu 1) wäre sie zur Überzeugung des Gerichts nicht in der Lage, für sich und die beiden minderjährigen Kinder – auch unter Berücksichtigung von Unterstützungsleistungen durch Hilfsorganisationen und der Zivilgesellschaft – Obdach und ein Auskommen auch nur am Rande des Existenzminimums zu sichern.
Die vorwiegend in Erkenntnisquellen aus dem Jahr 2015 geschilderten Missstände bei den Aufnahmebedingungen für anerkannte Schutzberechtigte (vgl. insbesondere Auskunft des AA v. 23.7.2015 und Dr. phil. Ilareva, Gutachten v. 27.8.2015) bestehen zur Überzeugung des Gerichts – trotz einiger Verbesserungen – größtenteils immer noch fort. So kritisiert der UNHCR laut österreichischem Bundesamt (Staatendokumentation Bulgarien, Stand: 27.11.2017) auch nach Erlass der im Juli 2017 neu beschlossenen Integrationsbestimmungen, dass die Probleme bezüglich Unterbringung für Schutzberechtigte dabei nicht thematisiert worden seien und dass die Flüchtlingsintegration weiterhin auf einem Integrationsvertrag des Flüchtlings mit seiner Wohnsitzgemeinde basiere. Schon unter dem in der zweiten Jahreshälfte 2016 beschlossenen National Programm for Integration of Refugees (NPRI) habe keine der 265 Gemeinden Geldmittel für den Integrationsprozess Schutzberechtigter beantragt. Auch die neuen Bestimmungen gewährten den Schutzberechtigten keinen Zugang zu Sozialwohnungen und Familienwohlfahrtsleistungen. Der UNHCR sehe dadurch ein Obdachlosigkeitsrisiko unter Schutzberechtigten. Bulgarien verfügt über kein ausdifferenziertes Sozialsystem, sondern ist durch eigenverantwortliches Handeln des Einzelnen geprägt. Daher muss der jeweilige Schutzberechtigte grundsätzlich befähigt sein, sich den schwierigen Bedingungen zu stellen und durch eine hohe Eigeninitiative selbst für seine Unterbringung und seinen Lebensunterhalt zu sorgen (VG Düsseldorf, U.v. 14.11.2016 – 12 K 5984/16.A – juris; U.v. 6.4.2016 – 13 K 4468/15.A – juris; VG Magdeburg, U.v. 2.9.2015 – 9 A 399/14 – juris). International Schutzberechtigte sind im Rahmen der Durchsetzung der nach bulgarischem Recht bestehenden Ansprüche auf Unterstützungsleistungen mit erheblichen Hürden konfrontiert (hierzu umfassend OVG Saarl., U.v. 16.11.2016 – 2 A 89/16 – juris). Per Gesetz haben international Schutzberechtigte zwar das Anrecht auf Sozialhilfe unter denselben Bedingungen und nach demselben Verfahren wie bulgarische Staatsbürger. So haben Schutzberechtigte laut österreichischem Bundesamt (a.a.O.) die Möglichkeit, sich betreffend des Zugangs zu sozialer Unterstützung an das zuständige Social Assistance Directorate der Social Assistance Agency am Ort ihrer Wohnsitzgemeinde zu wenden. Hierfür ist jedoch nach wie vor der Eintrag ins Melderegister notwendig, der vom Bürgermeister der Wohnsitzgemeinde erst nach Vorlage eines schriftlichen Einverständnisses des Vermieters vorgenommen wird. Anerkannte Schutzberechtigte sind also immer noch auf eine Meldeadresse angewiesen (zu den Probleme bei der Beschaffung einer Meldeadresse vgl. Dr. phil. Ilareva, a.a.O.). Zugang zu Gemeindewohnungen besteht nur, wenn mindestens ein Familienmitglied bulgarischer Staatsbürger ist, weshalb Schutzberechtigte üblicherweise keinen Zugang zu diesen Wohnungen haben. Die Unterkunftssuche bleibt für anerkannte Flüchtlinge deshalb äußerst problembehaftet. Unterstützung bei der Wohnungssuche erhält nur ein verschwindend geringer Teil der anerkannten Schutzberechtigten (Auswärtiges AA, a.a.O.; Dr. phil. Ilareva, a.a.O.). Zwar besteht eine temporäre Unterbringungsmöglichkeit in Erstunterkünften. Diese ist jedoch auf maximal drei Monate begrenzt. Auch die in Sofia betriebenen kommunalen „Krisenzentren“, die während der Wintermonate 170 temporäre Unterbringungsplätze für Bedürftige anbieten und damit u.a. auch Schutzberechtigten offenstehen, können das beachtliche Risiko nicht abfangen, dass vulnerable Personen wie die Kläger in absehbarer Zeit obdachlos bzw. unter Umständen untergebracht werden, die gerade für Kinder zu nachhaltigen Entwicklungsstörungen führen können und damit erniedrigend im Sinne von Art. 3 EMRK wären.
Auch das Engagement von zivilgesellschaftlichen Hilfsorganisationen kann vulnerablen Personen, wie es Familien mit kleinen Kindern typischerweise sind, keinen effektiven Schutz vor einer existenziellen Notlage bieten. So unterstützt zwar das Rote Kreuz Personen mit einem Schutzstatus in Bulgarien in Form von Begleitung, Beratung und Übersetzung beim Besuch von Ämtern, Krankenhäusern, bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, durch Rechts- und Sozialberatung, Sprachkurse sowie finanzieller Hilfe oder durch die Abgabe von Kleidung, Nahrung und Medikamenten (vgl. http://en.redcross.bg/ activities/activities8/rms1.html – Abruf v. 18.3.2019). Auch der Leiter des Caritas Integrationszentrums in Sofia geht dabei von einer meist prekären Lage anerkannter Schutzberechtigter in Bulgarien aus, weist jedoch darauf hin, dass sich die Lage in Bulgarien aufgrund der gesunkenen Flüchtlingszahlen normalisiert habe. Die Caritas werde von Seiten des Staates unterstützt und als positives Beispiel anerkannt. Die Caritas könne jedoch nur einen kleinen Teil dessen abdecken, was wirklich gebraucht werde (vgl. Caritas Steiermark, Flüchtlinge in Bulgarien: „Die Lebensbedingungen sind prekär“ – Interview mit Ivan Cheressharov/Leiter des St. Anna-Integrationszentrums in Sofia, 22.3.2017). Jedoch ist es zur Überzeugung des Gerichts für vulnerable Personen, wie es alleinstehende Frauen mit kleinen Kindern sind, nicht zumutbar, zur Durchsetzung ihrer Rechte auf die nur punktuell vorhandene Unterstützung von Flüchtlingsorganisationen oder eines kostenpflichtigen Rechtsbeistands verwiesen zu werden.
Zusätzliche Schwierigkeiten bereitet die fehlende Unterstützung des bulgarischen Staates beim Erwerb der bulgarischen Sprache (Dr. phil. Ilareva, a.a.O.). Auch unter dem neuen Integrationsplan sieht der UNHCR Defizite beim Sprachtraining (vgl. österr. Bundesamt, a.a.O.), so dass der rechtlich unbeschränkte Zugang zum Arbeitsmarkt für anerkannte Schutzberechtigte in der Praxis nur bedingt geeignet ist, das Risiko vor existenzieller Verelendung zu verringern. Mangels Sprachkenntnissen und unter Berücksichtigung der sozio-ökonomischen Lage Bulgariens ist zudem nicht davon auszugehen, dass berufliche Vorqualifikationen die Chancen der Klägerin zu 1) auf dem Arbeitsmarkt steigern würden. Sie wäre damit auf den Niedriglohnsektor für nicht qualifizierte Arbeitskräfte beschränkt, abgesehen davon, dass sie als alleinstehende Mutter ohne Betreuungsmöglichkeit für die beiden noch nicht schulpflichtigen Töchter de facto kaum wird arbeiten können. Da eine Arbeitsvermittlung und Qualifizierung über die bulgarischen Arbeitsämter wiederum eine eingetragene Meldeadresse voraussetzt, ist deshalb nicht davon auszugehen, dass sich die Familie aus eigener Kraft die wirtschaftlichen Mittel zur Sicherung einer Existenz auch nur am Rande des Minimums wird erwirtschaften können. Es besteht mithin für die Kläger als vulnerable Personen ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheides vom 16. Januar 2018 ist mithin materiell rechtswidrig. Diese Rechtswidrigkeit erstreckt sich auf die daran anknüpfende Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung sowie die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots.
Die Beklagte war mithin unter entsprechender Aufhebung des Bescheides zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG zu verpflichten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Gerichtsverfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11 und 711 ZPO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben