Verwaltungsrecht

Abschiebungsverbot hinsichtlich der Elfenbeinküste

Aktenzeichen  W 2 K 18.30954

Datum:
13.9.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 34066
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1 Der Schutzbereich des § 60 Abs. 5 AufenthG ist auch bei einer allgemeinen, auf eine Bevölkerungsgruppe bezogenen Gefahrenlage eröffnet (BayVGH BeckRS 2015, 42433 u. BeckRS 2015, 41010). (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2 Allgemeine Gefahren verdichten sich zu einem Abschiebungsverbot, wenn sie nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sind, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. Mai 2018 (Az. 7412086-231) verpflichtet, festzustellen, dass bei den Klägerinnen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich der Elfenbeinküste vorliegt.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Die zulässige Klage ist auch begründet.
Zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung haben die Klägerinnen einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Bescheid des Bundesamtes vom 8. Mai 2018 war insoweit aufzuheben, als er dieser Verpflichtung entgegensteht.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK – ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach der Rechtsprechung des Bayer. Verwaltungsgerichtshofs ist der Schutzbereich des § 60 Abs. 5 AufenthG auch bei einer allgemeinen, auf eine Bevölkerungsgruppe bezogenen Gefahrenlage eröffnet (BayVGH, Ue.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 – Asylmagazin 2015, 193; 13a B 14.30285 – AuAS 2015, 43 = InfAuslR 2015, 212). Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigen-der Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Eine schlechte humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen können eine auf eine Bevölkerungsgruppe bezogene Gefahrenlage darstellen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK führt (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 12; U.v. 13.6.2013 – 10 C 13.12 – BVerwGE 147, 8; EGMR, U.v. 28.6.2011 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681; U.v. 21.1.2011 – M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09 – NVwZ 2011, 413; U.v. 13.10.2011 – Husseini/Schweden, Nr. 10611/09 – NJOZ 2012, 952). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte liegt eine Verletzung des Art. 3 EMRK zum einen in ganz außergewöhnlichen Fällen vor, in denen humanitäre Gründe einer Ausweisung „zwingend“ entgegenstünden. Dieses Kriterium sei angemessen, wenn die schlechten Bedingungen überwiegend auf die Armut zurückzuführen seien oder auf die fehlenden staatlichen Mittel, um mit Naturereignissen umzugehen. Zum anderen könne – wenn Aktionen von Konfliktparteien zum Zusammenbruch der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Infrastruktur führten – eine Verletzung darin zu sehen sein, dass es dem Betroffenen nicht mehr gelinge, seine elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (EGMR, U.v. 28.6.2011 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 – NVwZ 2011, 413 Rn. 278, 282 f.). Das Bundesverwaltungsgericht hat im Anschluss an diese Rechtsprechung darauf abgestellt, ob es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung ausgesetzt zu werden (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 14). Demnach bedarf die Annahme einer unmenschlichen Behandlung basierend auf der humanitären Lage und der allgemeinen Lebensbedingungen eines sehr hohen Gefährdungsniveaus (BayVGH, Ue.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 – Asylmagazin 2015, 193; 13a B 14.30285 – AuAS 2015, 43 = InfAuslR 2015, 212; B.v. 30.9.2015 – 13a ZB 15.30063 – juris; B.v. 17.3.2015 – 13a ZB 14.30396 – juris). Wann allgemeine Gefahren sich zu einem solchen Gefährdungsniveau verdichten und somit zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt maßgeblich von den Umständen des Einzelfalls ab. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Die Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Zudem müssen sich die Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage auch dann, wenn der Schutzsuchende mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, U.v. 29.6.2010 – 10 C 10.09 – BVerwGE 137, 226).
Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs liegen in den Personen der Klägerinnen solche besonderen Umstände vor. Zwar kann unter Berücksichtigung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel zur Überzeugung des Gerichts bei einer Rückkehr in die Elfenbeinküste im Allgemeinen von der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ausgegangen werden. Dies gilt grundsätzlich auch für junge, gesunde, arbeitsfähige, alleinstehende Frauen, selbst wenn sie nicht auf die Unterstützung durch ein familiäres Netzwerk zurückgreifen können und über keine formale Schulausbildung oder Berufsausbildung verfügen. Auch die Unterhaltslast für ein Kleinkind führt nicht schon per se zu einem Abschiebungsverbot. Jedoch liegen in der Person der Klägerinnen besondere Umstände vor, die das allgemein bestehende Armutsrisiko so weit erhöhen, dass eine Verletzung von Art. 3 EMRK im oben beschriebenen Sinne droht. Entgegen der Begründung im verfahrensgegenständlichen Bescheid ist das Gericht aufgrund der glaubhaften Einlassungen der Klägerin zu 1) in der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin zu 1) für die Betreuung und den Unterhalt der Klägerin zu 2) wahrscheinlich nicht auf weitere familiäre Unterstützung zurückgreifen können wird – und zwar unabhängig davon, ob den Klägerinnen die seitens der Familie befürchtete Genitalverstümmelung tatsächlich droht bzw. ob sie für die Klägerinnen unter Zuhilfenahme von internem Schutz vermeidbar wäre. So hat die Klägerin zu 1) in der mündlichen Verhandlung einerseits glaubwürdig vorgetragen, dass sich ihr Lebensgefährte bzw. der Vater ihrer beiden älteren Töchter in Libyen von ihr abgewandt und sie „verstoßen“ habe, nachdem er Zeuge ihrer Gruppenvergewaltigung geworden war und die Vaterschaft der Klägerin zu 2) aufgrund des zeitlichen Zusammenhangs zu dieser Vergewaltigung unklar gewesen sei. Andererseits hat sie ebenso glaubwürdig dargelegt, dass sie sich bei einer Rückkehr nicht mehr darauf verlassen könnte, dass ihre Tante in Abidjan sie mit der Klägerin zu 2) aufnehmen und weiterhin unterstützen würde. Gerade weil sie die Frage nach einer möglichen Unterstützung durch die Tante nicht kategorisch verneinte, sondern nachvollziehbar und differenziert vorgetragen hat, dass eine weitere Aufnahme bei der Tante ungewiss bzw. unwahrscheinlich sei, erachtet das Gericht dies als glaubwürdig und nicht als asyltaktisch motiviert. Auch ihre Einlassung, dass sie sich nicht wieder dauerhaft im Heimatdorf ihrer Mutter niederlassen könne, ohne sich der dort tief im kulturellen Bewusstsein der Menschen verankerten Tradition der Genitalverstümmelung zu unterwerfen, war glaubwürdig und nachvollziehbar. Insbesondere hat die Klägerin zu 1) in der mündlichen Verhandlung nicht bestritten, dass es grundsätzlich möglich sein könne, eine Beschneidung zu verhindern. Sie hat jedoch differenziert und überzeugend dargelegt, dass der Preis dafür sei, dass man dann außerhalb der dörflichen Solidargemeinschaft stehe, diese als „Unglücksbringer“ verlassen müsse und sich nicht mehr auf den Beistand der in dieser Tradition verwurzelten Familienmitglieder verlassen könne. Zur Überzeugung des Gerichts vermochte die Klägerin auch den vermeintlichen Wiederspruch dazu aufzuklären, dass es ihr selbst seit dem Tod des Vaters 2002 ohne dessen Schutz gelungen war, über mehr als ein Jahrzehnt nicht beschnitten zu werden. Sie konnte widerspruchsfrei und ohne Übertreibung darlegen, dass sie – würde sie heute als Bittstellerin in ihr Heimatdorf zurückkehren – ihr die Beschneidung quasi als „Unterwerfungsgeste“ abverlangt würde, um wieder Aufnahme zu finden bzw. von ihr den Makel des „Unglücksbringers“ zu nehmen. Nur so wäre es ihr möglich, seitens der familiären bzw. dörflichen Gemeinschaft Schutz und Hilfe zu erlangen. Würde sie heute – ohne ihre beiden älteren Töchter und deren Vater – jedoch mit der Klägerin zu 2) mittellos in das Dorf der Mutter zurückkehren, habe sie den Anforderungen der Dorfgemeinschaft materiell und moralisch nichts entgegenzusetzen, sondern müsse sich und die Klägerin zu 2) bedingungslos deren Tradition unterwerfen, um die notwendige Aufnahme und Beistand zu erwirken. Wolle sie dies vermeiden, sei sie in der Elfenbeinküste auf sich gestellt. Die Tante, die sie bereits zuvor aufgenommen und den Lebensunterhalt für sie und die Kinder finanziert habe, habe – aus deren Sicht – damit bzw. mit der Finanzierung ihrer Flucht nach Mali bereits genug für sie getan. Auch auf deren Solidarität könne sie sich deshalb nicht mehr verlassen. Dies gelte umso mehr angesichts des Stigmas der ungewissen Vaterschaft der Klägerin 2). Hinzu käme außerdem, dass die Tante von Seiten der übrigen Familie als ihre Komplizin wahrgenommen werde und dies für die Tante zu noch mehr Unstimmigkeiten mit den anderen, die Tradition der Beschneidung unterstützenden Familienangehörigen führen würde. Mit der Finanzierung ihrer Ausreise nach Mali habe sie die Solidarität und Hilfsbereitschaft der Tante ausgereizt, so dass auch diese voraussichtlich keine Anlaufstelle mehr für die Klägerin sei. Da die Klägerin zu1) – ebenfalls glaubwürdig darlegen konnte, dass sie – nach dem mit der Mutter zusammen in der Heimatregion betriebenen (wohl illegalen) Reisanbau – insbesondere in ihrer Zeit in Abidjan kein Erwerbseinkommen hatte und über keinerlei berufliche Erfahrung im großstädtischen Wirtschaftsraum verfügt, ist das Gericht in diesem Fall davon überzeugt, dass es der Klägerin zu 1) – trotz ihres vergleichsweise hohen Bildungsgrades – nicht möglich sein wird, ohne familiäres Netzwerk eine Existenzgrundlage für sich und die Klägerin zu 2) zu schaffen. Denn ohne jedes familiäres und gesellschaftliches Netzwerk fehlen ihr die Zugangsvoraussetzungen, um ihre erworbenen, theoretischen Kenntnisse am Arbeitsmarkt überhaupt realisieren zu können. Insoweit liegen in der Person der Klägerinnen besondere Umstände vor, die das allgemeine Armutsrisiko in der Elfenbeinküste soweit erhöhen, dass bei einer Rückkehr von einer Verletzung von Art. 3 EMRK alleine aufgrund der wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen auszugehen ist. Zur Überzeugung des Gerichts besteht die Gefahr, dass sie dauerhaft nicht in der Lage sein werden, ihre elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen. Sie haben mithin einen Anspruch auf ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 AufenthG.
Der Klage war mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.


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