Verwaltungsrecht

Abweichung, Ermessensentscheidung, Gesundheitsamt, Verwaltungsakt, Allgemeinverfügung, Schulklasse, Quarantäneanordnung

Aktenzeichen  W 8 S 20.1793

Datum:
23.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 32641
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 42 Abs. 2, § 67 Abs. 2 S. 2 Nr. 3, § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, Abs. 5 S. 1 Alt. 1, § 114 S. 2, § 123, § 155 Abs. 1 S. 1
BayVwVfG Art. 35 S. 1
GKG § 52 Abs. 1, Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2
IfSG § 2 Nr. 7, § 4, § 16 Abs. 8, § 28 Abs. 1 S. 1, Abs. 3, § 30 Abs. 1 S. 2

 

Leitsatz

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Anordnung der häuslichen Quarantäne durch den Antragsgegner wird angeordnet, soweit sich die Quarantäneanordnung auf die Person des Antragstellers bezieht.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
II. Der Antragsteller und der Antragsgegner tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
III. Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1.
Der 12-jährige Antragsteller (Schüler), vertreten durch seine Eltern, wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine Anordnung der häuslichen Quarantäne als Kontaktperson der Kategorie I.
Mit Schreiben „Anordnung einer häuslichen Quarantäne“ vom 17. November 2020 – übermittelt über die Schule – teilte der Antragsgegner, vertreten durch das Landratsamt W., Gesundheitsamt, mit, dass ein/e Schüler/in der Klasse positiv auf SARS-CoV-2 getestet worden sei. Die Schüler/innen ihrer Klasse seien durch das Gesundheitsamt W. als Kontaktperson I eingestuft (ausgehend von den aktuell gültigen Vorgaben des Robert-Koch-Instituts – kurz: RKI). Damit gelte für die Schüler/innen die Allgemeinverfügung „Isolation von Kontaktpersonen der Kategorie I, von Verdachtspersonen und von positiv auf das Coronavirus getesteten Personen“ vom 18. August 2020, geändert durch Bekanntmachung vom 29. September 2020. Für die Schüler/innen werde somit eine 14-tägige häusliche Quarantäne ab dem letzten Tag des Kontaktes zur positiv getesteten Person bis einschließlich 26. November 2020 angeordnet.
2.
Am 19. November 2020 ließ der Antragsteller im Verfahren W 8 K 20.1792 Klage gegen die streitgegenständliche Anordnung des Antragsgegners vom 17. November 2020 auf der Grundlage der Allgemeinverfügung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege erheben und im vorliegenden Verfahren beantragen,
Die aufschiebende Wirkung der Klage wird im Beschlussweg angeordnet.
Zur Antragsbegründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Der Antragsteller begehre als Schüler die Aufhebung der häuslichen Quarantäne bzw. hilfsweise, dass die Schüler/innen der betroffen Klasse den Unterricht mit FFP2-Masken besuchen dürften, hilfsweise außerhalb der Schule keine Quarantäne angeordnet werde. Die streitgegenständliche Allgemeinverfügung des Gesundheitsamtes stehe in Widerspruch zu den aktuellen Empfehlungen des RKI, da ohne nähere Prüfung sämtliche Schulklassen ohne Nahkontakt und tatsächliche Aerosolexposition als Kontaktperson ersten Grades eingestuft worden seien, und zudem zur Rechtsprechung des BayVGH, da ein Ermessen gar nicht oder fehlerhaft ausgeübt worden sei. Der Antragsteller sei ein am … 2008 geborener Schüler der Klasse. Er habe im Unterricht immer einen Mund-Nasen-Schutz bzw. eine FFP 2-Maske getragen. Die Schule habe die streitgegenständliche „Allgemeinverfügung des Gesundheitsamtes W.“ vom 17. November 2020 übermittelt. In dieser sei mitgeteilt worden, dass sämtliche angesprochenen Schüler als Kontaktperson I eingestuft würden. Weiter würde angeordnet, dass sich die Schüler bis zum 26. November 2020 (einschließlich) in häusliche Quarantäne begeben müssten. Es sei fraglich, ob das Handeln der Behörde nur ein Realakt sei, da eine Entscheidung mit Außenwirkung getroffen werde, dass eine Anordnung in der Kategorie I erfolgt sei und dass keine anderweitige Anordnung des Gesundheitsamtes erfolgt sei. Die RKI-Kriterien stellten auf Ermessensentscheidungen ab, soweit nicht alleine durch Abstand und Zeit eine zwingende Zuordnung erfolge. Soweit im Handeln des Gesundheitsamtes ein Realakt gesehen werde, richte sich die Klage gegen die Allgemeinverfügung des Ministeriums. Der Antragsteller sei negativ getestet. Ihm seien auch keine weiteren positiven Tests bekannt. Die Beurteilung, ob eine Absonderung nach § 30 IfSG stattfinde, obliege dem Beklagten unter Ausübung pflichtgemäßen Ermessens. Das Gesundheitsamt sei zur Vereinfachung dazu übergegangen, bei Infektionen von Schülern/innen ohne Einzelfallprüfung und ohne Beurteilung der Tatumstände stets die gesamte Schulklasse abzusondern. Die Beurteilung stehe zu den RKI-Kriterien in Widerspruch. Eine Kontaktsituation mit einem Abstand von weniger als 1,5 m und mehr als 15 Minuten habe nicht vorgelegen. Auch die Kriterien unter 2.1. B. des RKI seien nicht erfüllt. Das Klassenzimmer verfüge über drei vollständig zu öffnende Fenster. Alle 20 Minuten sei quergelüftet worden durch Öffnen der Fenster und der Tür. Der Antragsteller selbst führe immer ein CO₂-Messgerät mit und kontrolliere die Partikelkonzentration. Diese sei selbst vor einer Lüftung niemals über 1.000 ppm angestiegen und in der Regel im Bereich von 450 bis 700 ppm gewesen. Die Einhaltung der Sollwerte habe bei der Einhaltung der 20-minütigen Lüftungen leicht erreicht werden können. Das Schulgebäude sei im Jahr 1907 gebaut worden und habe im 1. Obergeschoss im Bereich der Klassenzimmer eine überdurchschnittliche Raumhöhe von mehr als 3 m. Die Klassenzimmer seien nicht voll besetzt gewesen. Es liege auch keine Herd-Situation vor, wie auch die negativen Testergebnisse zeigten. Das Gesundheitsamt habe keine eigene Ermessensausübung durchgeführt, da es von einem Realakt ausgegangen sei. Bei der Kategorisierung folge das Gesundheitsamt zwingend dem Regelsystem, dass bei Klassenzimmern immer eine erhöhte Aerosolbelastung vorliege, unabhängig von den Lüftungsplänen oder baulichen Gegebenheiten. Immer werde die ganze Klasse in die häusliche Quarantäne geschickt. Es stelle eine Ermessensunterschreitung und daher einen Ermessensfehler dar. Eine Absonderung nach § 30 Abs. 1 Satz 1 IfSG setze einen Infektionsverdacht voraus. Daran fehle es, wie auch die Zahlenbasis belege. Der Besuch einer Schulklasse, in der ein positiver Fall aufgetreten sei, sei nicht gefährlicher als die Teilnahme am Leben insgesamt. Dies erzeuge keine erhöhte Wahrscheinlichkeit für den Verdacht einer Infektion. Die gesamte Schließung der Schulklasse stellte nicht das mildeste Mittel dar.
3.
Das Landratsamt W. sowie das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege beantragten für den Antragsgegner jeweils mit Schriftsätzen vom 23. November 2020:
Der Antrag wird abgelehnt.
Zur Antragserwiderung führt das Landratsamt im Wesentlichen aus: Das Schreiben des Gesundheitsamtes vom 17. November 2020 sei kein Verwaltungsakt. Die Pflicht zur Absonderung ergebe sich unmittelbar aus der Allgemeinverfügung. Die Einstufung als Kontaktperson der Kategorie I sei anhand der Kriterien des RKI vorgenommen worden. Nach den Kriterien des RKI sei bei einer bestätigten Covid-19-Erkrankung in einer Schulklasse die gesamt Klasse für 14 Tage vom Unterricht ausgeschlossen. Es lägen keine Anhaltspunkte vor, die eine anderweitige Ermessensentscheidung gerechtfertigt hätten. Auch wenn alle 20 Minuten das Klassenzimmer quergelüftet worden sei, liege im vorliegenden Fall eine Kontaktsituation der Kategorie I B. vor, weil sich die Schülerinnen und Schüler an mehreren Schultagen und damit kumulativ weit mehr als 30 Minuten in einem Raum beieinander befunden hätten. Auch sonst seien keine Umstände ersichtlich, die die Annahme eines reduzierten Ansteckungsrisikos gerechtfertigt und eine Abweichung zugelassen hätten. Die Quarantäneanordnung sei auch verhältnismäßig. Bei einer bestätigten Covid-19-Erkrankung in einer Schulklasse sei die gesamte Klasse für bis zu 14 Tage vom Unterricht ausgeschlossen sowie eine Quarantäne anzuordnen.
In der Antragserwiderung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege ist im Wesentlichen vorgebracht: Der Antrag sei unzulässig. Die Isolationspflicht folge unmittelbar aus der Allgemeinverfügung Isolation vom 6. November 2020. Einzelfallbezogene Argumente, wie die Einordnung als Kontaktperson der Kategorie I, müssten im Wege eines Antrags nach § 123 VwGO vorgebracht werden. Die Allgemeinverfügung enthalte weitere Regelungen, von denen der Antragsteller nicht betroffen sei. Der Antrag sei nicht begründet. Im Schulbereich werde bei Auftreten eines Covid-19 Falles die gesamte Schulklasse für 14 Tage vom Unterricht ausgeschlossen sowie eine Quarantäne durch das zuständige Gesundheitsamt angeordnet. Im Übrigen verwies der Antragsgegner auf verschiedene verwaltungsgerichtliche Entscheidungen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die eingereichten Schriftsätze samt Anlagen Bezug genommen.
II.
Der Antrag ist nur zum Teil – im tenorierten Umfang – zulässig und begründet. Im Übrigen ist er unzulässig und wäre auch unbegründet.
Der Antragsteller begehrt die Aufhebung der vom Antragsgegner angeordneten häuslichen Quarantäne und im vorliegenden Sofortverfahren die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die Quarantäneanordnung in Bezug auf seine Schulklasse.
Statthaft zur Verfolgung des Begehrens des Antragstellers ist ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO.
Die Pflicht, sich als Kontaktperson der Kategorie I in häusliche Quarantäne zu begeben, ergibt sich unmittelbar aus der Allgemeinverfügung (in der aktuellen Fassung der Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege von 6.11.2020, Az.: GZ 6a G 800-2020/122-684 – im Folgenden: Allgemeinverfügung). Eine schlichte Mitteilung des Gesundheitsamtes stellt grundsätzlich keinen Verwaltungsakt im Sinne des Art. 35 Satz 1 BayVwVfG dar, da es insoweit an einer Regelungswirkung fehlt (vgl. VG Regensburg, B.v. 28.10.2020 – RO 14 S 20.2590; VG Würzburg, B.v. 18.9.2020 – W 8 S 20.1326 – juris).
Vorliegend ist das Schreiben des Landratsamts Würzburg, Gesundheitsamt, vom 17. November 2020 jedoch als Verwaltungsakt zu qualifizieren. Das Schreiben spricht in seinem Betreff neben dem Verweis auf die Allgemeinverfügung „Isolation von Kontaktpersonen der Kategorie I, von Verdachtspersonen und von positiv auf das Corona-Virus getesteten Personen“ zusätzlich ausdrücklich von „Anordnung einer häuslichen Quarantäne“. Im folgenden Text wird weiter ausgeführt, dass die Schüler/innen der Klasse des Antragstellers als Kontaktperson I eingestuft worden seien. Des Weiteren ist formuliert: Für die Schüler/innen werde somit eine 14-tägige häusliche Quarantäne ab dem letzten Tag des Kontaktes zur positiv getesteten Person bis einschließlich 26. November 2020 angeordnet. Erst mit diesem Schreiben wird damit konkret sowohl die Person des Betroffenen als auch der Zeitraum und die Quarantänedauer mit Außenwirkung gegenüber den Betroffenen festgelegt.
Eine eigene Entscheidung des Landratsamtes, Gesundheitsamtes, in Form eines Verwaltungsaktes ist jedenfalls in der vorliegenden Konstellation anzunehmen, weil sich die Anordnung der Quarantäne vom 17. November 2020 – abgesehen von der rechtlichen Besonderheit gravierender Grundrechtseingriffe mithilfe einer dynamischen Verweisungskette – nicht in der Mitteilung erschöpft, dass der Antragsteller anhand bestimmter Kriterien des RKI quasi zwangsläufig und automatisch als eine Kontaktperson der Kategorie I einzuordnen ist, sondern, weil nach den RKI-Kriterien selbst mehrere Optionen gegeben sind, die vom Vorliegen weiterer Voraussetzungen abhängen, sodass gemäß RKI die Kontaktperson nur „optional“ als solche eingestuft werden kann, aber nicht muss. Dafür bedarf es einer eigenen Ermessensentscheidung mit Außenwirkung (a.A. offenbar VG München, B.v. 29.10.2020 – M 26 B S 20.5392 – BeckRS 2020, 29658).
Soweit das Landratsamt in seinem Schreiben vom 17. November 2020 einzelfallbezogen auf den Antragsteller demnach konkrete Anordnungen getroffen hat und die Quarantäneanordnung auf seine Person individualisiert hat, hat diese Regelung Verwaltungsaktcharakter gemäß Art. 35 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG (vgl. VG Bayreuth, B.v. 23.10.2020 – B 7 S 20.1094; VG Würzburg, B.v. 30.10.2020 – W 8 S 20.1625 – juris).
Das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege schreibt auf Seite 3 seiner Antragserwiderung bezeichnender Weise, dass bei einem Infektionsfall die betroffene Schulklasse für vierzehn Tage von Unterricht ausgeschlossen „sowie eine Quarantäne durch das zuständige Gesundheitsamt angeordnet“ wird.
Selbst wenn man in der Quarantäneanordnung vom 17. November 2020 nur einen Realakt sehen wollte, dann würde dieser jedenfalls im Zusammenspiel mit der ministeriellen Allgemeinverfügung vom 6. November 2020 eine Einzelfallregelung mit Außenwirkung konkret gegenüber dem Antragsteller bewirken, die Gegenstand eines Sofortverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO sein kann. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage bezöge sich dann auf die Allgemeinverfügung, soweit sie den Antragsteller konkret und individuell Fall betrifft. Dem Antragsteller muss jedenfalls von Rechts wegen eine einstweilige Rechtschutzmöglichkeit gegen in seine Grundrechte eingreifenden Hoheitsakte zu Verfügung stehen.
Die streitgegenständlichen Regelungen aus der Allgemeinverfügung bzw. aus der Quarantäneanordnung des Landratsamts vom 17. November 2020 sind gemäß § 30 Abs. 1 Satz 2, § 28 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 sowie § 16 Abs. 8 IfSG kraft Gesetzes sofort vollziehbar. Die erhobene Anfechtungsklage entfaltet gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO keine aufschiebende Wirkung.
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist jedoch nur insoweit zulässig als er die Quarantäneanordnung betrifft, die sich auf den Antragsteller selbst bezieht. Soweit im Klageschriftsatz weiter formuliert ist, dass die Anordnung des Beklagten generell aufgehoben wird, auch bezogen auf die anderen Schüler der Schulklasse des Antragstellers, wie die hilfsweisen Klageanträge mit Bezug zur gesamten Schulklasse verdeutlichen, ist die Klage unzulässig. Gleichermaßen ist entsprechend § 42 Abs. 2 VwGO ein dahingehender Sofortantrag unzulässig, weil der Antragsteller mit Bezug auf seine Mitschüler/innen nicht einfach als deren Sachwalter auftreten und geltend machen kann, möglicherweise in eigenen Rechten verletzt zu sein.
Der allein für die Person des Antragstellers zulässige Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist bezogen auf ihn begründet.
Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alternative 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Falle des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene originäre Entscheidung. Es hat zwischen dem in der gesetzlichen Regelung – hier § 28 Abs. 3 i.V.m. § 16 Abs. 8 IfSG – zum Ausdruck kommenden Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs abzuwägen. Im Rahmen dieser Abwägung sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Eilverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf voraussichtlich keinen Erfolg haben wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich der zugrundeliegende Bescheid bei dieser Prüfung hingegen als rechtswidrig und das Hauptsacheverfahren dann voraussichtlich als erfolgreich, ist das Interesse an der sofortigen Vollziehung regelmäßig zu verneinen. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens hingegen offen, kommt es zu einer allgemeinen Abwägung der widerstreitenden Interessen.
Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage ist die Klage – soweit sie sich auf die gegen den Antragsteller gerichtete Quarantäneanordnung bezieht – voraussichtlich erfolgreich, so dass ein überwiegendes Interesse an dem Fortbestand der sofortigen Vollziehung regelmäßig zu verneinen ist.
Der Antragsteller ist keine ansteckungsverdächtige Person im Sinne des § 2 Nr. 7 IfSG und gehört nicht zum Kreis der von § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG erfassten Personen. Der Antragsteller ist nicht als Kontaktperson der Kategorie I gemäß Nr. 1.1 der Allgemeinverfügung einzustufen.
In personeller Hinsicht gilt die Allgemeinverfügung gemäß Nr. 1.1 insbesondere für Personen, denen vom Gesundheitsamt mitgeteilt wurde, dass sie aufgrund eines engen Kontakts zu einem bestätigten Fall von COVID-19 nach den jeweils geltenden Kriterien des RKI, das bei der Vorbeugung übertragbarer Krankheiten und der Verhinderung und Verbreitung von Infektionen eine besondere Sachkunde aufweist (§ 4 IfSG), Kontaktpersonen der Kategorie I sind. Die Kriterien, nach denen die Einordnung von Kontaktpersonen erfolgt, stellt das RKI allgemein zugänglich auf seiner Homepage dar („Kontaktpersonen-Nachverfolgung bei respiratorischen Erkrankungen durch das Corona-Virus SARS-CoV-2“, insbesondere Nr. 2.1. B., abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Kontaktperson/Management.html).
Das zuständige Gesundheitsamt ordnet die tatsächlichen Gegebenheiten im Einzelfall nach diesen Kriterien des RKI ein.
Zwar ist ein/e Mitschüler/in des Antragstellers positiv getestet worden, jedoch hat der Antragsteller glaubhaft und unbestritten dargelegt, keinen engen Kontakt mit dieser Person im Sinne von Nr. 2.1. A. nach den Kriterien des RKI gehabt zu haben, also einen Abstand von weniger als 1,5 m für mindestens 15 Minuten, zumal er einen Mund-Nasen-Schutz getragen hat und deshalb allenfalls als Kontaktperson der Kategorie II zu qualifizieren gewesen wäre.
Des Weiteren und vor allem liegt auch kein Fall nach Nr. 2.1. B. gemäß den Kriterien des RKI vor. Dies wäre dann der Fall, wenn ein Kontakt unabhängig vom Abstand in einem Raum mit einer hohen Konzentration infektiöser Aerosole stattgefunden hätte. In solchen Situationen mit hoher Konzentration infektiöser Viruspartikel im Raum sind nach Angaben des RKI auch Personen gefährdet, die sich weiter vom Quellfall entfernt aufgehalten haben. Die Situation im gemeinsamen Unterricht in einem Klassenzimmer ist grundsätzlich geeignet, einen Kontakt der Kategorie I B. zu begründen. So nennt das RKI als Regelbeispiel für derartige Kontaktsituationen ausdrücklich: „optional: Personen in relativ beengter Raumsituation oder schwer zu überblickender Kontaktsituation mit dem bestätigten COVID-19-Fall (z.B. Schulklassen, Gruppenveranstaltungen), unabhängig von der individuellen Risikoermittlung“. Weiter empfiehlt das RKI, dass unter diesen Voraussetzungen eine Quarantäneanordnung für alle Personen unabhängig von der individuellen Risikobewertung sinnvoll sein kann (z.B. Schulklassen). Hieraus resultiert, dass Unterrichtssituationen grundsätzlich, aber nicht unbedingt zwingend geeignet sind, Kontakte der Kategorie I B. zu begründen. Zur weiteren konkreten Beurteilung des Einstufungserfordernisses als Kontaktperson der Kategorie I gibt das RKI Kriterien vor. Demnach sind namentlich die Dauer, die Räumlichkeiten und die Aerosol-Emissionen zu berücksichtigen.
Nach den erwägungsleitenden Kriterien des RKI ist für die vorliegend relevante Einstufung zunächst die Dauer der Exposition relevant. Es müsste eine Dauer von größer als 30 Minuten des gemeinsamen Aufenthalts in einem Raum mit hoher Konzentration infektiöser Aerosole oder mehr gegeben gewesen sein. Vorliegend hat der Antragsteller jedoch eidesstattlich versichert, dass alle 20 Minuten gelüftet worden sei, so dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass über 30-minütiger ununterbrochener Kontakt in einem Raum mit hoher Konzentration infektiöser Aerosole stattgefunden hat. Der Antragsteller hat unwidersprochen beschrieben, dass es in dem Klassenzimmer drei vollständig zu öffnende Fenster gegeben habe und alle 20 Minuten quergelüftet worden sei durch Öffnen von Fenster und Tür. Das Gegenargument des Antragsgegners, dass die gemeinsamen Aufenthalte von je 20 Minuten zu summieren seien, verfängt nicht, weil einiges dafürspricht, dass diese Ansicht im Widerspruch zu den RKI-Kriterien bzw. zu dessen Leitlinien für die Einstufung steht. Danach ist für die Einstufung als Kontaktperson der Kategorie I B. wesentlich, dass sich der Betreffende unabhängig vom Abstand länger als 30 Minuten in einem Raum mit einer hohen Konzentration infektiöser Aerosole befunden hat. Durch das 20-minütige intensive Lüften, wie es der Antragsteller glaubhaft gemacht hat, gerade auch unter den nachstehend dargelegten weiteren Aspekten, ist der eine eventuelle hohe Konzentration infektiöser Aerosole gerade nicht erreicht worden, sondern jeweils unterbrochen worden.
Das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege führt in seiner Antragserwiderung mit Verweis auf die RKI-Kriterien explizit aus, dass alle Personen als Kontaktpersonen der Kategorie I zu betrachten seien, „zu denen eine relevante Exposition (> 30 Minuten, in einem nicht ausreichend belüfteten Raum) bestand“. Nach dem glaubhaften und vom Antragsgegner unbestrittenen und auch nicht sonst widerlegten Vorbringen des Antragstellers war diese Kriterium im vorliegenden Fall gerade nicht erfüllt, weil die Zeit kürzer als 30 Minuten war und der Raum ausreichend belüftet wurde.
Das weitere erwägungsleitende Kriterium ist die Räumlichkeit. Insoweit hat der Antragsteller zusätzlich zu dem 20-minütigen intensiven Lüften darauf hingewiesen, dass es ein Altbau sei mit einer überdurchschnittlichen Raumhöhe von mehr als 3 m und dass des Weiteren auch die Klassenzimmer nicht voll besetzt gewesen seien. Zusätzlich verwies er zur Bekräftigung seines Vorbringens auf ein vom ihm während des Unterrichts mitgeführtes CO₂-Messgerät, wonach die Sollwerte von weniger als 800 ppm CO₂ bei der Einhaltung der vorgenommenen 20-minütigen Lüftungen eingehalten worden seien. Schließlich ist zum Kriterium der Aerosol-Emissionen ausgeführt, dass kein Singen oder lautes Sprechen stattgefunden habe.
Mit diesen konkret benannten Kriterien, die von der Antragsgegnerseite nicht bestritten worden sind, und die über das allgemeine Hygiene- und Lüftungskonzept hinausgehen, ist glaubhaft dargelegt, dass gerade durch das häufige Lüften bei diesen besonders hohen Räumen mit großen Fenstern in weniger als 30 Minuten, konkret alle 20 Minuten, ein Luftaustausch stattgefunden hat (vgl. zu den Kriterien auch schon VG Regensburg, B.v. 28.10.2020 – RO 14 S 20.2590; VG Bayreuth, B.v. 23.10.2020 – B 7 S 20.1094).
Das RKI verweist des Weiteren in seinen Vorgaben ausdrücklich auf eine Stellungnahme der Kommission Innenraumlufthygiene am Umweltbundesamt zum Risiko einer Übertragung von SARS-CoV-2 in Innenräumen vom 12. August 2020 (https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/ 2546/dokumente/irk_stellungnahme_lueften_sars-cov-2_0.pdf). Aus dieser Stellungnahme ergibt sich, dass das Risiko eine Infizierung durch richtiges Lüften deutlich verringert werden kann. Denn eine möglichst hohe Frischluftzufuhr ist eine der wirksamsten Methode, potentiell virushaltige Aerosole aus Innenräumen zu entfernen.
Des Weiteren hat das Gesundheitsamt die konkrete Einstufung des Antragstellers als Kontaktperson der Kategorie Nr. 2.1. B. in seiner Quarantäneanordnung vom 17. November 2020 nicht näher begründet, geschweige denn gesehen, dass die Einstufung in der vorliegenden Fallkonstellation nur „optional“ ist (vgl. auch schon VG Bayreuth, B.v. 23.10.2020 – B 7 S 20.1094), also nicht zwingend. Ermessenserwägungen dahingehend sind nicht ersichtlich. In seiner Antragerwiderung bestätigt das Landratsamt durch seine Annahme, dass es sich nur um einen Realakt handelt, dass er keine Ermessenserwägungen angestellt hat. Auch aus der Antragserwiderung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege wird deutlich, dass in der vorliegenden Fallkonstellation – entgegen der RKI-Kriterien – zwingend immer die Quarantäneoption zu wählen ist, ohne dies näher zu begründen. Auch in der Allgemeinverfügung finden sich dazu keine Erwägungen.
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Beschluss vom 6. November 2020 in seiner berichtigten Fassung vom 11.11.2020 (20 CS 20.2573 – BeckRS 2020, 29937 und BeckRS 2020, 31467, Rn. 15) ausdrücklich darauf hingewiesen, dass auch hinsichtlich Anordnung einer Absonderung gemäß § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG, also einer Quarantäneanordnung (nicht nur bei einer Quarantäneverlängerung), dem Antragsgegner Ermessen eingeräumt ist und dass aus der streitgegenständlichen Anordnung erkennbar sein muss, dass überhaupt konkret Ermessen ausgeübt worden ist. Weiter hat es angemerkt, dass eine Heilung eines vollständigen Ermessensausfalls nach § 114 Satz 2 VwGO, der nur eine Ergänzungsmöglichkeit vorsieht, grundsätzlich nicht in Betracht kommt. Infolgedessen sind die Ausführungen in den Antragserwiderungen – wenn überhaupt – nicht geeignet den Ermessensausfall zu heilen. Des Weiteren ist auch nicht von einer Ermessensreduzierung auf Null auszugehen, weil die Einstufung als Kontaktperson I in der vorliegenden Fallkonstellation nicht zwingend, sondern nur „optional“ ist.
Nach alledem spricht alles dafür, dass die streitgegenständliche Anordnung bezogen auf die Person des Antragstellers rechtswidrig ist und den Antragsteller in seinen Rechten verletzt.
Soweit der Antragsteller sich auf die Quarantäneanordnung für die gesamte Schulklasse bezieht, kann er sich nicht auf eine eigene subjektive Rechtsposition stützen. Infolgedessen war der Sofortantrag wie tenoriert teilweise abzulehnen.
Das Gericht betont ausdrücklich, dass sich seine Entscheidung mit der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nur auf die Person des Antragstellers bezieht. Die Quarantäneanordnung des Antragsgegners bleibt für die anderen von ihr erfassten Schüler/innen, insbesondere in der Klasse des Antragstellers, wirksam und gilt fort. Insoweit hatte das Gericht nicht in der Sache zu überprüfen, ob diese Schüler/innen als Kontaktpersonen der Kategorie I zu qualifizieren sind oder nicht. Anders als im Einzelfall des Antragstellers könnten seine Mitschüler/innen zumindest teilweise auch aufgrund engen Kontakts unter die Kategorie I Nr. 2.1. A. fallen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 und 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Da der Antrag angesichts der üblichen Zeitdauer der Quarantäneanordnung von 14 Tagen auf eine Vorwegnahme der Hauptsache zielt, war gemäß Nr. 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs von einer Halbierung des Streitwerts im Sofortverfahren abzusehen, so dass es beim Auffangwert von 5.000,00 EUR verbleibt.


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