Verwaltungsrecht

Annahme eines Abschiebungshindernisses wegen wesentlicher Verschlechterung des Gesundheitszustands durch die Abschiebung

Aktenzeichen  10 ZB 16.367

Datum:
8.6.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 47767
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
AufenthG § 11, § 25 Abs. 5, § 60a Abs. 2

 

Leitsatz

1 Die rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise iSv § 25 Abs. 5 AufenthG wegen eines die Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG gebietenden Abschiebungshindernisses kann mit Blick auf die gesundheitliche Situation des ausreisepflichtigen Ausländers dann bestehen, wenn die konkrete Gefahr besteht, dass sich sein Gesundheitszustand durch die Abschiebung wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert und wenn diese Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann. (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Eine die Erteilung einer Duldung rechtfertigende konkrete Gefahr der Gesundheitsverschlechterung kann sich nicht nur dadurch ergeben, dass der betroffene Ausländer ohne Gesundheitsgefährdung nicht transportfähig ist (Reiseunfähigkeit im engeren Sinne), sondern auch wenn die Abschiebung als solche (außerhalb des Transportvorgangs) die Gefahr einer Gesundheitsgefährdung bewirkt (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne, wie VGH München BeckRS 2015, 54325).  (red. LS Clemens Kurzidem)

Verfahrensgang

M 12 K 15.2116 2015-08-20 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III.
Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
IV.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren wird abgelehnt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG weiter (1.). Zudem beantragt er, ihm für das Zulassungsverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen (2.).
1. Der zulässige Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag (§ 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO) ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatzoder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt hätte (BVerfG, B. v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 -juris Rn. 11). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, dass der Kläger keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG habe, weil schon die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Norm nicht erfüllt seien. Es bestehe weder ein tatsächliches noch ein rechtliches Abschiebungshindernis. Ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis i. S. d. § 25 Abs. 5 AufenthG liege nicht vor, weil sich aus keinem der im Verwaltungsverfahren vorgelegten Atteste ergebe, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers durch und während des eigentlichen Vorgangs des Reisens wesentlich verschlechtere oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmals entstehe. Auch lasse sich aus den vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen nicht entnehmen, dass im Falle der Ausreise des Klägers aus dem Bundesgebiet mit einem Suizidversuch gerechnet werden müsse. Zwar führe nach dem nervenärztlichen Befundbericht vom 5. Juni 2014 eine Abschiebung des Klägers in die Türkei mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Reexazerbation der psychiatrischen Erkrankung. Welche gesundheitlichen Folgen sich bei einer Rückführung in die Türkei für den Kläger ergäben, werde in dem Befundbericht jedoch weder im Einzelnen bezeichnet noch nachvollziehbar dargelegt. Darüber hinaus liege der Einschätzung, dass mit einer deutlichen Verschlechterung des Krankheitsbildes des Klägers im Falle einer Abschiebung in die Türkei zu rechnen sei, die Annahme zugrunde, dass der Kläger in der Türkei keinerlei Wurzeln habe. Es lebten aber sowohl die Mutter als auch der Bruder des Klägers in der Türkei. Der Kläger habe sich in seiner Kindheit mehrfach in der Türkei aufgehalten und beherrsche die türkische Sprache. Auch die Ausführungen des behandelnden Arztes in der ergänzenden Stellungnahme vom 17. Dezember 2014, wonach es notwendig sei, den Kläger im Umfeld der deutschen Sozialisation zu behandeln, sei nicht geeignet, um auf eine ernsthafte gesundheitliche Gefährdung unmittelbar durch die Ausreise oder Abschiebung oder als unmittelbare Folge davon schließen zu können. Welche Gesundheitsschädigungen beim Kläger im Falle einer Weiterbehandlung in der Türkei konkret zu befürchten seien, lasse der Befundbericht offen.
In der Begründung des Zulassungsantrags verweist der Kläger lediglich pauschal darauf, dass er an einer schweren psychischen Erkrankung leide und intensive Betreuung benötige. Ohne diese Betreuung würde er verwahrlosen, verhungern oder durch Suizid enden. Im Falle der Abschiebung wäre dieses Risiko extrem hoch. Der Suizid sei sogar bei behandelten schizophrenen Erkrankten zehnmal häufiger als bei der normalen Bevölkerung. Es werde diesbezüglich auf ein aktuelles fachärztliches Attest vom 7. März 2016 verwiesen.
Mit diesem Zulassungsvorbringen zieht der Kläger die Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils jedoch nicht ernsthaft in Zweifel. Eine rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise i. S. d. § 25 Abs. 5 AufenthG wegen eines Abschiebungshindernisses nach§ 60a Abs. 2 AufenthG kann im Hinblick auf die gesundheitliche Situation eines ausreisepflichtigen Ausländers dann bestehen, wenn die konkrete Gefahr besteht, dass sich der Gesundheitszustand des Ausländers durch die Abschiebung wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert und wenn diese Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen werden oder gemindert werden kann. Die Voraussetzungen können nicht nur erfüllt sein, wenn und solange der Ausländer ohne Gefährdung der Gesundheit nicht transportfähig ist (Reiseunfähigkeit im engeren Sinne), sondern auch, wenn die Abschiebung als solche – außerhalb des Transportvorgangs – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bewirkt (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinn; BayVGH, B. v. 23.10.2015 – 10 CS 15.2330 – juris Rn. 8; B. v. 23.10.2007 – 24 CE 07.484 – juris Rn. 15; VGH BW, B. v. 6.2.2008 -11 S 2439/07 – juris Rn. 9). Eine solche konkrete Gefahr, die gerade durch die Abschiebung als solche bzw. unmittelbar danach eintritt, hat der Kläger jedoch nicht dargelegt. Er führt unter Bezugnahme auf die im Zulassungsverfahren vorgelegte neue ärztliche Stellungnahme vom 7. März 2016 aus, dass er in der Türkei keinerlei Unterstützung habe und seine Erkrankung unbehandelt bleiben werde. Insbesondere setzt er nicht sich mit der Argumentation des Verwaltungsgerichts auseinander, wonach entgegen der ärztlichen Stellungnahmen dem Kläger in der Türkei eine familiäre Betreuung zur Verfügung stehe. Das Verwaltungsgericht hat in den Urteilsgründen dargelegt, dass sich Verwandte des Klägers in der Türkei befänden, die ihm bei der Suche nach einer geeigneten Betreuungseinrichtung am Anfang unterstützen könnten. Im Übrigen beschreibt das vorgelegte nervenärztliche Attest vom 7. März 2016 nur die sich allgemein aus einer schweren unbehandelten chronifizierten schizophrenen Erkrankung ergebenden Gefahren für die Gesundheit des Betroffenen, ohne konkret darauf einzugehen, ob und warum sich auch gerade beim Kläger durch die (erzwungene) Ausreise die geschilderten Gesundheitsgefahren realisieren würden. Durch eine entsprechende Gestaltung der Abschiebung mittels der notwendigen Vorkehrungen kann dafür Sorge getragen werden, dass der Kläger bei seiner Ankunft in der Türkei eine Betreuungsperson vorfindet, die ihn der notwendigen Behandlung zuführt (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Februar 2016, § 60a AufenthG Rn. 60 m. w. N.). Auf eine angeblich fehlende Behandlungsmöglichkeit seiner schizophrenen Erkrankung in der Türkei als zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich der Kläger nicht berufen, weil bereits im Asylverfahren rechtskräftig festgestellt worden ist, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 3 bis 7 AufenthG nicht bestehen. Die Behandlung psychischer Erkrankungen sei in der Türkei sichergestellt.
Auch steht, worauf die Beklagte im Zulassungsverfahren hingewiesen hat, der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis § 11 Abs. 1 AufenthG entgegen, da der Kläger mit Bescheid vom 20. März 2012 bestandskräftig ausgewiesen worden ist. Eine Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 4 AufenthG ist nicht erfolgt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
2. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren war abzulehnen, weil die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen.
Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Da der Antrag auf Zulassung der Berufung aus den oben genannten Gründen abzulehnen war, bot die Rechtsverfolgung des Klägers auch zum für die Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfeantrags keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.
Einer Kostenentscheidung für das Prozesskostenhilfeverfahren bedarf es nicht. Das Verfahren auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist gerichtsgebührenfrei. Dem Gegner im Prozesskostenhilfeverfahren entstandene Kosten werden nicht erstattet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124 Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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