Verwaltungsrecht

Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung, Notwendigkeit der Anordnung, Einwand der Bagatellkriminalität, Einstellung des Verfahrens und Resttatverdacht (hier: bejaht)

Aktenzeichen  10 ZB 21.779

Datum:
16.3.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 6502
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
StPO § 81b 2. Alt., § 153 Abs. 2

 

Leitsatz

Verfahrensgang

RO 4 K 20.163 2021-02-02 Urt VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,– Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids des Beklagten vom 2. Januar 2020 weiter, mit dem seine erkennungsdienstliche Behandlung gemäß § 81b 2. Alt. StPO angeordnet und er zu diesem Zweck vorgeladen wurde.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Die Berufung ist nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Dies ist jedoch nicht der Fall, weil die gegen die Erwägungen des Erstgerichts vorgebrachten Einwendungen nicht durchgreifen.
Der Kläger macht geltend, die angefochtene Anordnung erweise sich entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht als notwendig. Eine erkennungsdienstliche Behandlung sei aufgrund des gegen ihn als Beschuldigten geführten Anlassstrafverfahrens nicht gerechtfertigt. Zum einen sei dieses Strafverfahren inzwischen nach § 153 Abs. 2 StPO eingestellt worden und ein für die streitbefangene präventiv-polizeiliche Maßnahme erforderlicher Resttatverdacht könne in seinem Fall nicht festgestellt werden. Insoweit sei es fragwürdig, dass das Verwaltungsgericht den trotz Einstellung verbleibenden Tatverdacht allein daraus herleite, dass es unterschiedliche Versionen des Klägers und des Anzeigeerstatters über den Tathergang gebe. Denn damit würde mit Blick auf den tiefgreifenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte durch die angeordnete Maßnahme und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Schwelle für diesen Eingriff zu niedrig angesetzt. Fehlerhaft sei auch die Bewertung des Verwaltungsgerichts, dass es sich bei dem Anlassdelikt nicht um ein Bagatelldelikt handle. Auch Körperverletzungsdelikte könnten den Bereich der Bagatellkriminalität zugerechnet werden, wenn wie vorliegend die Einstellung des Strafverfahrens gemäß § 153 Abs. 2 StPO erfolge, weil die Schuld des Klägers als gering erscheine und darüber hinaus kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung bestehe.
Zum anderen sei die Gefahrenprognose und die Annahme einer Wiederholungsgefahr beim Kläger verfehlt. Denn die Wiederholungsgefahr müsse sich gerade aufgrund der Anlasstat ergeben, ältere (und neuere) Ermittlungsverfahren und strafgerichtliche Verurteilungen dürften hingegen nur ergänzend herangezogen werden. Abgesehen davon, dass bereits die erstinstanzliche Bewertung der Anlasstat fehlerhaft sei und in näherer Vergangenheit keine weiteren Ermittlungen gegen den Kläger mehr stattgefunden hätten, sei die Wiederholungsgefahr allein aufgrund früherer Ermittlungsverfahren angenommen worden. Letzteres genügte jedoch dem anzulegenden Maßstab nicht.
Damit zeigt der Kläger jedoch keine Gründe auf, die ernstliche Zweifel an der Notwendigkeit der Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen gemäß § 81b 2. Alt. StPO und an der Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts begründen könnten.
Die Notwendigkeit von Maßnahmen nach § 81b 2. Alt. StPO bemisst sich nach ständiger Rechtsprechung danach, ob der anlässlich des gegen den Betroffenen gerichteten Strafverfahrens festgestellte Sachverhalt nach kriminalistischer Erfahrung angesichts aller Umstände des Einzelfalls – insbesondere angesichts der Art, Schwere und Begehungsweise der dem Betroffenen im strafrechtlichen Anlassverfahren zur Last gelegten Straftaten, seiner Persönlichkeit sowie unter Berücksichtigung des Zeitraums, während dessen er strafrechtlich nicht (mehr) in Erscheinung getreten ist – Anhaltspunkte für die Annahme bietet, dass der Betroffene künftig oder anderwärts gegenwärtig mit guten Gründen als Verdächtiger in den Kreis potentieller Beteiligter an einer noch aufzuklärenden strafbaren Handlung einbezogen werden könnte und dass die erkennungsdienstlichen Unterlagen die dann zu führenden Ermittlungen – den Betroffenen schließlich überführend oder entlastend – fördern könnten (BVerwG, U.v. 27.6.2018 – 6 C 39.16 – juris Rn. 22; B.v. 25.3.2019 – 6 B 163.18 u.a. – juris Rn. 10; BayVGH, B.v. 5.2.2020 – 10 ZB 19.2459 – juris Rn. 6; B.v. 27.10.2020 – 10 ZB 20.1974 – juris Rn. 8 jew. m.w.N.).
Den bereits in erster Instanz erhobenen Einwand, das gegen den Kläger nach einer körperlichen Auseinandersetzung mit dem Anzeigeerstatter am 30. September 2019 geführte strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen eines Körperverletzungsdelikts habe lediglich ein Bagatelldelikt betroffen, hat das Verwaltungsgericht mit zutreffender Begründung zurückgewiesen. Abgesehen davon, dass das Anlassdelikt nach ständiger Rechtsprechung ohnehin kein besonders hohes Maß an Gemeinschädlichkeit aufweisen muss (vgl. BVerwG, U.v. 27.6.2018 – 6 C 39.16 – juris Rn. 23; BayVGH, B.v. 5.2.2020 – 10 ZB 19.2459 – juris Rn. 7 jew. m.w.N.), hat es zu Recht festgestellt, dass Körperverletzungsdelikte die körperliche Unversehrtheit und damit ein hochrangiges, verfassungsrechtlich durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschütztes Rechtsgut schützten und das Argument „Bagatellkriminalität“ dementsprechend insoweit schon im Ansatz verfehlt sei.
In rechtlich nicht zu beanstandender Weise ist das Verwaltungsgericht weiter davon ausgegangen, dass trotz der im Fall des Klägers wegen geringer Schuld und fehlenden öffentlichen Verfolgungsinteresses erfolgten Einstellung des anlassgebenden Strafverfahrens nach § 153 Abs. 2 StPO ein (Rest-)Tatverdacht verbleibe (vgl. dazu auch BayVGH, B.v. 5.1.2017 – 10 ZB 14.2603 – juris Rn. 13 m.w.N.), weil das Amtsgericht R. im – ohne weitere Begründung – erlassenen Einstellungsbeschluss vom 20. Mai 2020 letztlich offengelassen habe, ob es der vom Kläger oder der vom Anzeigeerstatter geschilderten Version der körperlichen Auseinandersetzung am 30. September 2019 (mit wechselseitigen, nicht völlig unerheblichen Verletzungen und körperlichen Beeinträchtigungen) folge.
Schließlich hat das Verwaltungsgericht zu Recht hinreichend begründete Anhaltspunkte für die Annahme einer Wiederholungsgefahr und damit die Vermutung angenommen, dass der Kläger auch zukünftig Anlass zu polizeilichen Ermittlungen insbesondere im Zusammenhang mit Delikten nach den §§ 223 ff. StGB geben könnte. Dabei durfte es jedenfalls ergänzend berücksichtigen, dass der Kläger nach den unwidersprochen gebliebenen Angaben des Beklagten seit 1990 insgesamt 28 Mal polizeilich in Erscheinung getreten ist und gegen ihn zuletzt am 20. März 2016 und 12. April 2016 wegen Körperverletzung sowie am 1. November 2017 wegen gefährlicher Körperverletzung ermittelt worden ist. Die vom Verwaltungsgericht angestellte Gefahrenprognose ist vor diesem Hintergrund nicht nur nachvollziehbar, sondern (auch) nach Einschätzung des Senats naheliegend.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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