Verwaltungsrecht

Antrag auf Aussetzung des Verfahrens- Zur Rechtmäßigkeit der Verlustfeststellung

Aktenzeichen  10 C 19.2267

Datum:
26.11.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 32419
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 94
FreizügG/EU § 6

 

Leitsatz

1. Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisungsverfügung sowie einer Verlustfeststellung nach  § 6 FreizügG/EU ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder der Entscheidung des Tatsachengerichts. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei einer auf spezialpräventive Gründe zu stützenden Verlustfeststellung hat das Verwaltungsgericht eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr nach den Umständen des Einzelfalls zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt zu treffen. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
3. Von einem Fortfall der Wiederholungsgefahr kann nicht ausgegangen werden, solange der Täter in der Haft eine erfolgreiche Therapie nicht abgeschlossen und ein künftig straffreies Verhalten nicht glaubhaft gemacht hat. Es ist nicht erforderlich, mit der ausländerrechtlichen Gefahrenprognose bis zum Zeitpunkt der Haftentlassung abzuwarten. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 10 K 18.5238 2019-10-07 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

Die Beschwerde richtet sich gegen den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 7. Oktober 2019, mit dem dieses den Antrag des Klägers auf Aussetzung des Verfahrens abgelehnt hat.
Die beim Verwaltungsgericht anhängige Klage richtet sich gegen den Bescheid des Beklagten vom 20. September 2018, mit dem unter anderem der Verlust seines Rechts auf Einreise und Aufenthalt für die Bundesrepublik Deutschland festgestellt wurde; Anlass hierfür war eine Verurteilung des Klägers wegen Raub-Delikten zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren sowie zur Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. Der Kläger beantragte, das Verfahren gemäß § 94 VwGO „bis zum Abschluss der Therapie und der abschließenden Entscheidung der Strafvollstreckungskammer“ auszusetzen, und verfolgt dieses Begehren im Beschwerdeverfahren weiter. Er ist der Meinung, er sei derzeit in Therapie, könne also keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen. Wie sein Zustand nach Abschluss der Therapie sei, sei derzeit vollkommen unklar. Am Abschluss der Therapie werde zur Frage der Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung ein Gutachten erstellt werden. Erst danach sei eine Entscheidung über die Ausweisung überhaupt erst sinnvoll.
Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Aussetzung des Verfahrens nach § 94 VwGO zu Recht abgelehnt.
Dem Beschwerdegericht steht nur die Nachprüfung zu, ob die Voraussetzungen der Aussetzung vorliegen und das Prozessgericht sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat. Dabei ist vom Rechtsstandpunkt des Prozessgerichts auszugehen, sofern dieser nicht grob fehlerhaft ist. Grundsätzlich darf das Beschwerdegericht in diesem Zwischenstreit nicht den gesamten Prozessstoff beurteilen und praktisch die in der Hauptsache zu fällende Entscheidung vorgeben (Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 94 Rn. 8; Garloff in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand 1.5.2019, § 94 Rn. 8).
Gemäß § 94 VwGO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängiges Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen ist.
Die in dem anderen Verfahren anstehende Entscheidung muss für die im anhängigen Verfahren zu treffende Entscheidung vorgreiflich sein, also ein Rechtsverhältnis zum Gegenstand haben, von dessen Bestehen oder Nichtbestehen die Entscheidung im anhängigen Verfahren abhängt. Dabei braucht die andere Entscheidung das Prozessgericht nicht zu binden, vielmehr genügt jeder rechtliche Einfluss, auch etwa für die Beweiswürdigung (Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 94 Rn. 4; Garloff in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand 1.5.2019, § 94 Rn. 4). Das andere Verfahren muss grundsätzlich bereits anhängig sei; in besonderen Fällen ist eine Aussetzung mit der Auflage zulässig, das andere Verfahren binnen einer Frist einzuleiten (Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 94 Rn. 6; Garloff in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand 1.5.2019, § 94 Rn. 4).
Ob bei Vorliegen der Voraussetzungen das Verfahren auszusetzen ist, steht im Ermessen des Gerichts; es kann die vorgreifliche Frage auch selbst beantworten. Das Ermessen ist nach dem Zweck der Vorschrift, divergierende Entscheidungen zu vermeiden, sowie nach Gesichtspunkten der Prozessökonomie auszuüben. Die Aussetzung soll erfolgen, wenn das Prozessgericht an die vorgreifliche Entscheidung nach deren Ergehen rechtlich gebunden ist; sie muss erfolgen, wenn anders eine sachgerechte Entscheidung nicht möglich ist, etwa wenn es selbst an der Beantwortung der vorgreiflichen Frage rechtlich gehindert ist (Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 94 Rn. 7; Garloff in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand 1.5.2019, § 94 Rn. 6).
Nach diesen Maßstäben ist dem Verwaltungsgericht darin zuzustimmen, dass schon die Voraussetzungen einer Aussetzung nicht vorliegen, weil die – hinsichtlich ihres Zeitpunkts noch nicht absehbare – Entscheidung der Strafvollstreckungskammer über die Aussetzung des Strafrests zu Bewährung (§§ 57 ff. StGB) für das anhängige Verfahren über die Rechtmäßigkeit der Verlustfeststellung (§ 6 FreizügG/EU) nicht vorgreiflich ist.
Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisungsverfügung sowie – wie im vorliegenden Verfahren – einer Verlustfeststellung nach § 6 FreizügG/EU ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder der Entscheidung des Tatsachengerichts (stRspr, siehe z.B. BayVGH, U.v. 21.5.2019 – 10 B 19.55 – juris Rn. 22); das Verwaltungsgericht hat also die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner mündlichen Verhandlung zur Grundlage seiner Beurteilung zu machen.
Bei einer auf spezialpräventive Gründe zu stützenden Verlustfeststellung (§ 6 Abs. 2 FreizügG/EU) hat das Verwaltungsgericht eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Dabei sind die besonderen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (stRspr, siehe z.B. BayVGH, U.v. 21.5.2019 – 10 B 19.55 – juris Rn. 27). Der Stand einer eventuellen Therapie ist dabei genauso zu berücksichtigten wie die bisherige Führung des Betreffenden in der Haft. Maßgeblich ist aber in jedem Fall der aktuelle Stand zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Von einem Fortfall der Wiederholungsgefahr kann nicht ausgegangen werden, solange der Kläger nicht eine erforderliche Therapie erfolgreich abgeschlossen und – darüber hinaus – die damit verbundene Erwartung eines künftig straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (stRspr, vgl. z.B. BayVGH, B.v. 1.3.2019 – 10 ZB 18.2494 – juris Rn. 10). Dass der Kläger sich derzeit in Haft befindet und eine (ggf. vorzeitige) Entlassung noch nicht bevorsteht, schließt nicht aus, dass sein Verhalten eine gegenwärtige, ein Grundinteresse der Gesellschaft berührende Gefahr im Sinn des § 6 Abs. 2 FreizügG/EU bedeutet, so dass zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit im Sinn von § 6 Abs. 5 FreizügG/EU vorliegen; denn die Tatsache, dass er sich in Haft befindet, kann nicht als Umstand angesehen werden, der einen Bezug zum persönlichen Verhalten des Betroffenen hat (EuGH, U.v. 13.7.2017 – C-193/16 – juris Rn. 24). Dementsprechend ist es nicht erforderlich, mit der ausländerrechtlichen Gefahrenprognose bis zum Zeitpunkt der Haftentlassung bzw. einer Entscheidung über die vorzeitige Haftentlassung abzuwarten (BayVGH, B.v. 27.10.2017 – 10 ZB 17.993 – juris Rn. 16). Es besteht auch keine Verpflichtung, mit einer Ausweisung bzw. Verlustfeststellung so lange zuzuwarten, bis dem Kläger aufgrund einer Haftverbüßung und einer – möglicherweise – erfolgreichen Therapie schließlich doch noch eine günstige Sozialprognose gestellt werden kann (vgl. OVG Saarl, B.v. 28.5.2019 – 2 A 41/19 – juris Rn. 13); der Kläger räumt auch selbst ein, es „vollkommen unklar“, wie sein Zustand nach Abschluss der Therapie sein werde.
Da bereits die Voraussetzungen für eine Aussetzung des Verfahrens gemäß § 94 VwGO nicht vorliegen, waren Ermessenserwägungen entbehrlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Das Beschwerdegericht hat eine Kostenentscheidung zu treffen, wenn die Beschwerde verworfen oder zurückgewiesen worden ist, denn in diesem Fall entstehen Gerichtskosten (Nr. 5502 der Anlage 1 zu § 3 GKG), die der erfolglose Beschwerdeführer zu tragen hat (BayVGH, B.v. 30.6.2017 – 22 C 16.1554 – juris Rn. 49 m.w.N.; Peters/Schwarzburg in Sodan/ Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 94 Rn. 30; a.A.: Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 94 Rn. 8).
Einer Streitwertfestsetzung bedarf es nicht, weil die nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses zum Gerichtskostengesetz (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) anfallende Gebühr streitwertunabhängig ist.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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