Verwaltungsrecht

Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO  – Anordnung der sofortigen Vollziehung

Aktenzeichen  Au 8 S 19.1917

Datum:
21.1.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 1300
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 68 Abs. 1 S. 2, § 80 Abs. 5 S. 1, § 88, § 113 Abs. 1 S. 1, § 122, § 154 Abs. 1
LStVG Art. 7 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 3
BayVwVfG Art. 41
VwZVG Art. 4 Abs. 2 S. 3
PAG Art. 11
AGVwGO Art. 15 Abs. 1, Abs. 2

 

Leitsatz

1. Der Beweis der Zustellung wird regelmäßig durch den Rückschein erbracht. Noch nicht als Zugang anzusehen ist die bloße Benachrichtigung des Empfängers, dass ein Einschreibbrief bei der Post hinterlegt ist und zur Abholung bereit liegt. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2. Auch in den Fällen des Art. 7 Abs. 2 Nr. 1 LStVG muss die Gefahr vorliegen, dass der objektive Tatbestand der Straf- oder Ordnungswidrigkeitennorm erfüllt wird. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 7. November 2019 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 1. Oktober 2019 wird hinsichtlich der Ziffern 1 und 2 wiederhergestellt.
II. Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen ein ihm von der Antragsgegnerin auferlegtes Betretungs- und Kontaktverbot, für welches die sofortige Vollziehung angeordnet wurde.
Der im Jahr 1972 geborene Antragsteller ist wohnhaft in der Stadt … Seit 2008 wurden der Polizei wiederholt Ereignisse gemeldet, bei denen der Antragsteller durch verdächtiges Ansprechen von Kindern in und um … aufgefallen ist. Mit Schreiben vom 18. September 2019 informierte die Polizeiinspektion … die Antragsgegnerin über seit dem Jahr 2015 polizeilich dokumentierte Ereignisse im Zusammenhang mit dem verdächtigen Ansprechen von Kindern im Wohnort des Antragstellers sowie einer Nachbargemeinde, woraufhin die Antragsgegnerin den Antragsteller mit Schreiben vom 19. September 2019 zu den deshalb beabsichtigten Anordnungen und der Anordnung der sofortigen Vollziehung anhörte. Eine Äußerung des Antragstellers dazu erfolgte nicht.
Mit Bescheid vom 1. Oktober 2019, nach dem Aktenvermerk der Antragsgegnerin im Briefkasten des Antragstellers niedergelegt am 17. Oktober 2019, untersagte die Antragsgegnerin dem Antragsteller, im Gemeindegebiet der Antragsgegnerin „Orte zu betreten, an denen sich erfahrungsgemäß Kinder und Jugendliche aufhalten (dies gilt insbesondere für Kinderspielplätze, Sportplätze, Badeseen, Schul- und Kindergartenbereiche, Jugendzentren)“ und erlegte dem Antragsteller auf, „bis auf Weiteres Orte zu verlassen, wenn sich dort erkennbar Kinder und Jugendliche aufhalten“ („Betretungsverbot“, Ziffer 1). Weiter untersagte die Antragsgegnerin dem Antragsteller bis auf Weiteres im Gemeindegebiet der Antragsgegnerin, „Kontakt zu Kindern aufzunehmen und sich insbesondere nicht mit diesen ohne in Anwesenheit der Erziehungsberechtigten in Räumen oder Fahrzeugen oder an abgelegenen Orten aufzuhalten“ („Kontaktverbot zu Kindern“, Ziffer 2). Die Antragsgegnerin ordnete die sofortige Vollziehung der Ziffern 1 und 2 des Bescheides an (Ziffer 3) und drohte unmittelbaren Zwang an für den Fall, dass gegen die in Ziffern 1 und 2 ausgesprochenen Anordnungen verstoßen werde (Ziffer 4). Letztlich ordnete sie an, dass für den Fall, dass gegen eine oder mehrere der unter Ziffern 1 und 2 ausgesprochenen Anordnungen verstoßen werde, jeweils ein Zwangsgeld von 2.000,00 EUR fällig wird (Ziffer 5) und traf eine Kostenentscheidung (Ziffer 6).
In ihrer Begründung bezieht sich die Antragsgegnerin auf das o.g. Schreiben der Polizeiinspektion … vom 18. September 2019. Danach hätten sich seit 2015 besorgte Bürger/innen in regelmäßigen Abständen an die Polizeiinspektion gewandt und angezeigt, dass der Antragsteller regelmäßig Örtlichkeiten aufsuche, an denen Kinder und Jugendliche anzutreffen seien, den Kontakt mithilfe von Süßigkeiten und Getränken suche und die Kinder teilweise anspreche. In den Wintermonaten 2018/2019 habe der Antragsteller gezielt Rodelhänge besucht und den Kindern Süßigkeiten, Getränke und Schlitten zur Benutzung mitgebracht. In den folgenden Monaten habe er in weiteren umliegenden Orten und im Gemeindegebiet der Antragsgegnerin die Nähe zu Kindern sowohl an Kindergärten, Schulen und Sportanlagen als auch in zwei Freibädern gesucht. Dabei habe er wieder mittels Süßigkeiten und Getränken versucht, mit den Kindern ins Gespräch zu kommen und mit ihnen im Schwimmbecken, Fußballplatz etc. zu spielen. Letztmalig habe der Antragsteller am 13. September 2019 am Sportplatz im Gemeindegebiet der Antragsgegnerin Kinder angesprochen, um mit ihnen Fußball zu spielen. Die Kinder seien dadurch verängstigt worden, hätten fluchtartig die Örtlichkeit verlassen und sich an ihre Eltern gewandt, die dies bei der Polizei angezeigt hätten.
Nach Ansicht der Antragsgegnerin sei es Ziel des auf Art. 7 Abs. 2 Ziffern 1 und 3 LStVG gestützten Betretungs- und Kontaktverbots, Straftaten und Ordnungswidrigkeiten für die Zukunft zu unterbinden; gleichzeitig aber solle es dafür sorgen, dass auch Sitte und Anstand gewahrt blieben. Dass es im Zusammenhang mit den genannten Vorfällen bisher nicht zu einer strafrechtlichen Verurteilung gekommen sei, spiele im Rahmen der Gefahrenprognose keine Rolle. Die Feststellungen der Polizeiinspektion seien berücksichtigungsfähige konkrete Tatsachen und Erkenntnisse, aus denen entsprechende Schlussfolgerungen gezogen werden könnten. Das gezielte Vorgehen zur Kontaktherstellung zu Kindern zeuge von einem klaren Willen, sich Kindern so weit zu nähern, dass ein Anbahnungsgespräch gerade erst möglich würde. Daraus müsse geschlussfolgert werden, dass ein Aufsuchen von Örtlichkeiten, in denen vornehmlich Kinder anzutreffen seien, motiv- und triebgesteuert sei und unterbunden werden müsse. Aufgrund dieser Erkenntnisse sei mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es zu Übergriffen an Kindern, die dem Opfertypus entsprächen, kommen könne. Beim Kindeswohl müssten keine überzogenen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintrittes gestellt werden, da die Möglichkeit von Schäden an so wichtigen Rechtsgütern als ausreichend anzusehen sei. Im Übrigen sei die Verhältnismäßigkeit gewahrt.
Die Anordnung des Sofortvollzugs sei im öffentlichen Interesse geboten, da zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und zur Verhinderung schwerwiegender Straftaten, wie z.B. Sexualdelikten und evtl. Körperverletzungen, ein sofortiges sicherheitsbehördliches Handeln nötig sei. Das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung überwiege, da ohne deren Anordnung im Hinblick auf den Schul- und Kindergartenbetrieb das Risiko bestehe, dass es tatsächlich zu den befürchteten Sexualdelikten und evtl. Körperverletzungen komme und dadurch an sich vermeidbare und teilweise irreparable Schäden für Leib und Leben von Minderjährigen in Kauf genommen würden.
Gegen den Bescheid vom 1. Oktober 2019 ließ der Antragsteller am 7. November 2019 Klage erheben (Au 8 K 19.1916), über die noch nicht entschieden ist. Gleichzeitig begehrt der Antragsteller im vorliegenden Verfahren die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes und lässt beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Ziffern 1 und 2 des angefochtenen Bescheids wiederherzustellen.
Aufgrund des Verhaltens des Antragstellers habe die PI … bei der Stadt … im Jahr 2018 die Begutachtung im Rahmen einer Unterbringung beantragt. In diesem Verfahren sei der Antragsteller durch Herrn Prof. Dr., Chefarzt des Bezirkskrankenhauses im Wohnort des Antragstellers, begutachtet worden. Dieses Gutachten habe ergeben, dass von dem Antragsteller keine Gefahr ausgehe. Diese Information habe die Stadt … der PI … per E-Mail am 6. Juli 2018 mitgeteilt, woraufhin diese polizeiintern an alle Polizeibeamten mit E-Mail vom 10. Juli 2018 verteilt worden sei. Es sei daher unverständlich, dass sich die PI … an die Antragsgegnerin gewandt habe und mit Schreiben vom 18. August 2019 mitgeteilt habe, dass der Antragsteller durch verdächtigtes Ansprechen von Kindern auffiele. Der PI … sei bestens bekannt, dass der Antragsteller bislang keine Straftaten zum Nachteil von Kindern begangen habe. Da durch das bereits eingeholte Gutachten bewiesen sei, dass von dem Antragsteller keine Gefahr ausginge, bestehe keine Eilbedürftigkeit.
Die Antragsgegnerin hat trotz gerichtlicher Aufforderungen vom 8. November 2019 und vom 9. Dezember 2019, umgehend zum Eilantrag Stellung zu nehmen, keine Äußerung abgegeben. Sie hat die Behördenakte vorgelegt.
Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag des Antragstellers bedarf vor dem Hintergrund des Rechtschutzbegehrens der Auslegung gemäß §§ 122, 88 VwGO. Soweit der Bevollmächtigte des Antragstellers beantragt, die „aufschiebende Wirkung der Ziffern 1 und 2 des angefochtenen Bescheids wiederherzustellen“, wendet er sich gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Ziffern 1 und 2 des Bescheides vom 1. Oktober 2019. Damit ist der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO statthaft und auf die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage vom 7. November 2019 gerichtet. Aufgrund des durch den anwaltlich vertretenen Antragsteller gestellten, ausdrücklich auf die Ziffern 1 und 2 des Bescheids beschränkten Eilantrags konnte die Kammer nicht zu einer Auslegung dahingehend kommen, dass der Antragsteller auch einen Antrag gem. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO hinsichtlich der weiteren Ziffern des Bescheids stellen wollte. Dies gilt v.a. auch deshalb, weil sich der Hauptsacheantrag des Antragstellers gegen den gesamten Bescheid ohne Einschränkung auf bestimmte Ziffern richtet, so dass die dahingehende Beschränkung des Eilantrags zu beachten war.
Der zulässige Antrag gem. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO hat Erfolg.
1. Der Antrag gem. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist zulässig. Insbesondere liegt das allgemeine Rechtschutzbedürfnis vor, da der streitgegenständliche Bescheid noch nicht bestandskräftig wurde, weil der Antragsteller fristgerecht dagegen Klage erheben ließ.
Mangels fakultativ zulässigem Widerspruchsverfahren, Art. 15 Abs. 1 und 2 AGVwGO i.V.m. § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO, war die Anfechtungsklage innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts zu erheben, § 74 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwGO. Vorliegend wurde der Bescheid vom 1. Oktober 2019 nach dem Aktenvermerk der Antragsgegnerin am 17. Oktober 2019 im Briefkasten des Antragstellers niedergelegt, nachdem dieser nicht persönlich angetroffen wurde. Damit wurde die Klage vom 7. November 2019 fristgerecht erhoben.
Der vorangegangene Zustellversuch mittels Einschreiben mit Rückschein konnte nach Aktenlage nicht zu einer wirksamen Bekanntgabe i. S. v. Art. 41 BayVwVfG führen. Dabei wird der Beweis der Zustellung regelmäßig durch den Rückschein erbracht. Noch nicht als Zugang anzusehen ist die bloße Benachrichtigung des Empfängers, dass ein Einschreibbrief bei der Post hinterlegt ist und zur Abholung bereit liegt. Wird der Brief – wie hier – nicht abgeholt, so liegt grundsätzlich kein Zugehen im Rechtssinn vor (BVerwG, U.v. 1.10.1970 – VIII C 137.69 – BVerwGE 36, 127; BayVerfGH, B.v. 30.10.1981 – Vf. 128-VI-80 – NJW 1982, 2661). Auf die Frage einer womöglich treuwidrigen Nichtabholung kommt es vorliegend nicht an, da den Behördenakten nicht zu entnehmen ist, dass eine Benachrichtigung tatsächlich im Briefkasten des Antragstellers hinterlassen wurde und derartige Zweifel bei der Zustellung gem. Art. 4 Abs. 2 Satz 3 VwZVG zu Lasten der Behörde gehen.
2. Der Antrag hinsichtlich der Ziffern 1 und 2 des Bescheides vom 1. Oktober 2019 hat auch in der Sache Erfolg. Gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO entfällt die grundsätzlich nach § 80 Abs. 1 VwGO bestehende aufschiebende Wirkung einer Anfechtungsklage, wenn die Behörde – wie vorliegend – die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse besonders angeordnet hat.
Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ganz oder teilweise wiederherstellen. Dabei prüft das Gericht ob die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung gegeben sind und trifft im Rahmen einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage eine eigene, originäre Ermessensentscheidung unter Abwägung des von der Behörde geltend gemachten Interesses an der sofortigen Vollziehung ihres Bescheides und des Interesses des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage.
2.1. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung enthält keine formellen Fehler. Nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO ist in den Fällen des Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Die Begründungspflicht soll u.a. der Behörde den Ausnahmecharakter der Vollzugsanordnung vor Augen führen und sie veranlassen, mit besonderer Sorgfalt zu prüfen („Warnfunktion“), ob tatsächlich ein besonderes öffentliches Interesse den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung erfordert (BayVGH, B.v. 24.3.1999 – 10 CS 99.27 – BayVBl. 1999, 465). Bloß formelhafte Begründungen genügen daher regelmäßig nicht.
Diesen formellen Anforderungen genügt die Begründung der Anordnung des Sofortvollzugs im streitgegenständlichen Bescheid. Ob diese Begründung der Anordnung des Sofortvollzugs allerdings in inhaltlicher Hinsicht zu überzeugen vermag, ist hingegen keine Frage der Begründungspflicht, sondern des Vollzugsinteresses.
2.2. Für das Interesse des Antragstellers, einstweilen nicht dem Vollzug der behördlichen Maßnahmen ausgesetzt zu sein, sind zunächst die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache eingelegten Rechtsbehelfs von Belang. Ein überwiegendes Interesse eines Antragstellers an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ist in der Regel anzunehmen, wenn die im Eilverfahren allein mögliche und gebotene summarische Überprüfung ergibt, dass der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist. Denn an der Vollziehung eines ersichtlich rechtswidrigen Verwaltungsakts kann kein öffentliches Vollzugsinteresse bestehen. Ist der Verwaltungsakt dagegen offensichtlich rechtmäßig, so überwiegt regelmäßig das Vollzugsinteresse das Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Kann aufgrund der im Eilverfahren nur möglichen summarischen Überprüfung nicht festgestellt werden, ob der Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig oder offensichtlich rechtswidrig ist, so beschränkt sich die verwaltungsgerichtliche Kontrolle des Sofortvollzuges des Verwaltungsakts auf die Durchführung einer Interessenabwägung, die je nach Fallkonstellation zugunsten des Antragstellers oder des Antragsgegners ausgehen kann. Das Gericht nimmt – da § 80 Abs. 5 VwGO keinerlei inhaltliche Einschränkungen enthält – die Abwägung in eigener Verantwortung vor. Es prüft eigenständig, ob unter Berücksichtigung und Gewichtung aller für und wider den Sofortvollzug sprechenden Umstände – auch solcher, die der Behörde nicht bekannt waren – die aufschiebende Wirkung von Widerspruch oder Anfechtungsklage zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes in der Hauptsache oder aus anderen Gründen wiederherzustellen ist.
Nach diesen Grundsätzen überwiegt vorliegend das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Ziffern 1 und 2 des Bescheides. Der vom Antragsteller angefochtene Bescheid der Antragsgegnerin vom 1. Oktober 2019 erweist sich bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung nach Ansicht der Kammer bezüglich des in Ziffern 1 und 2 verfügten Betretungs- und Kontaktverbots mit hoher Wahrscheinlichkeit als rechtswidrig und verletzt den Antragsteller daher in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Die Antragsgegnerin hat die Tatbestandsvoraussetzungen der hier anwendbaren sicherheitsrechtlichen Generalklausel des Art. 7 Abs. 2 Nr. 1 und 3 LStVG nach der im Eilverfahren gebotenen und ausreichenden summarischen Prüfung zu Unrecht angenommen.
Danach können die Sicherheitsbehörden zur Erfüllung ihrer Aufgaben für den Einzelfall Anordnungen nur treffen, um rechtswidrige Taten, die den Tatbestand eines Strafgesetzes oder einer Ordnungswidrigkeit verwirklichen, zu verhüten oder zu unterbinden (Nr. 1.) oder Gefahren abzuwehren oder Störungen zu beseitigen, die Leben, Gesundheit oder die Freiheit von Menschen bedrohen oder verletzen (Nr. 3.).
Zwar spricht Art. 7 Abs. 2 LStVG nur bezüglich der Nr. 3 ausdrücklich vom Erfordernis einer Gefahr, jedoch gibt er aus systematischen Erwägungen und durch die Zweckrichtung des sicherheitsbehördlichen Handelns in den Fällen der Art. 7 Abs. 2 Nr. 1 LStVG vor, dass auch in diesen Fällen die Gefahr, dass der objektive Tatbestand der Straf- oder Ordnungswidrigkeitennorm erfüllt wird, vorliegen muss. Dabei geht Art. 7 Abs. 2 LStVG von einer konkreten Gefahr oder Störung aus.
Vorliegend ist nicht hinreichend dargelegt, dass vom Antragsteller eine konkrete Gefahr dahingehend ausgeht, dass dieser rechtswidrige Taten begehen oder durch den Antragsteller Leben, Gesundheit oder Freiheit von Menschen bedroht oder verletzt würden.
Eine konkrete Gefahr liegt nämlich nur dann vor, wenn eine Sachlage besteht, die nach allgemeiner Lebenserfahrung bei ungehindertem Verlauf des objektiv zu erwartenden Geschehens im Einzelfall mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einer Verletzung der Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung führt (BVerfG, U.v. 27.2.2008 – 1 BvR 370/07, 1 BvR 595/07 – BVerfGE 120, 274/328 f.); die bloße Möglichkeit eines schädigenden Ereignisses auf Grund eines hypothetischen Sachverhalts genügt nicht. Nicht ausreichend ist daher für die Annahme einer Gefahr auch, dass bloße Unannehmlichkeiten, Unbequemlichkeiten oder Belästigungen zu erwarten sind (vgl. dazu auch Holzner in Bayern/Holzner, BeckOK PolR, Stand 1.2.2019, Art. 11 PAG Rn. 20-23). Maßgebliches Kriterium zur Feststellung einer konkreten Gefahr ist die hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts.
Deshalb kommt es entscheidend auf die durch die handelnde Behörde zu treffende Prognose für das Einschreiten an. Diese Prognose muss hinreichend abgesichert sein, d.h. es müssen gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte und/oder Erkenntnisse über die Einzelheiten des konkreten Falles vorhanden sein, die den Schluss auf den drohenden Schadenseintritt rechtfertigen (VG Würzburg, U.v. 22.1.2015 – W 5 K 13.1136 – juris). In die Prognose insbesondere einzustellen sind die Größe des möglichen Schadens, die Gewichtigkeit des betroffenen Rechtsguts, die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sowie die Eilbedürftigkeit des Eingriffs und Möglichkeiten weiterer Ermittlungen. Dabei hat in einem ersten Schritt die Einschätzung von Art, Höhe und Umfang des objektiv möglichen Schadens zu erfolgen, während in einem zweiten Schritt die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu bestimmen ist, ehe in einem letzten Schritt die Abwägung zwischen dem gefährdeten Schutzgut und dem Umfang des zu erwartenden Schadens einerseits mit der Eingriffsintensität der geplanten Maßnahme andererseits vorzunehmen ist (BayVerfGH, E.v. 12.10.1994 – 16-VII-92, 5-VII-93 – BayVBl. 1995, 76/80; BayVGH, B.v. 30.6.1993 – 21 B 92.3619 – BayVBl. 1993, 684; vgl. Holzner in Bayern/Holzner, BeckOK PolR, Stand 1.2.2019, Art. 11 PAG Rn. 24 ff. m.w.N.).
Bezüglich der Prognose hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts ist nicht erforderlich, dass der Schaden mit Gewissheit zu erwarten ist, da andernfalls keine Gefahr, sondern ein unabwendbares Ereignis vorliegt. Auf der anderen Seite darf die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts nicht nur vage im Sinne einer bloßen Möglichkeit sein, da eine solche abstrakte Möglichkeit regelmäßig besteht und damit mit der allgemeinen Lebensgefahr identisch ist. Ebenfalls nicht ausreichend ist die bloße subjektive Annahme oder die reine Vermutung (vgl. BayVGH, B.v. 1.2.2016 – 10 CS 15.2689 – juris Rn. 18; Holzner in Bayern/Holzner, BeckOK PolR, Stand 1.2.2019, Art. 11 PAG Rn. 24 ff. m.w.N.). Die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts muss sich vielmehr auf hinreichend gesicherte Anhaltspunkte stützen lassen (VG München, U.v. 13.5.2015 – M 22 K 14.1037 – juris Rn. 20).
Dabei stehen die hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts und die zu erwartende Störung wie auch das von der Gefahrensituation betroffene Rechtsgut in indirekter Relation zueinander, indem an die Wahrscheinlichkeit des Störungseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, desto höherwertig das bedrohte Rechtsgut bzw. desto größer der zu befürchtende Schaden ist (vgl. BVerwG, U.v. 26.6.1970 – IV C 99.67 – NJW 1970, 1890/1892; BayVGH, B.v. 1.2.2016 – 10 CS 15.2689 – juris Rn. 18; BayVGH, U.v. 16.5.1988 – 21 B 87.02889 – BayVBl. 1988, 562 ff.; VG München, U.v. 13.5.2015 – M 22 K 14.1037 – juris Rn. 20). Dabei gilt, dass je bedeutsamer das gefährdete Rechtsgut und je höher der zu erwartende Schaden ist, desto geringer die Anforderungen sein können, die an den Grad der Wahrscheinlichkeit gestellt werden (BVerfG, U.v. 14.7.1999 – 1 BvL 2226/94, 2420, 2437/95 – BVerfGE 100, 313/375 ff.; B.v. 3.3.2004 – 1 BvF 3/92 – BVerfGE 110, 33/60; U.v. 27.7.2005 – 1 BvR 668/04 – BVerfGE 113, 348; BVerwG, U.v. 26.6.1970 – IV C 99.67 – NJW 1970, 1890/1892; BayVGH, B.v. 1.2.2016 – 10 CS 15.2689 – juris Rn. 18).
Ein Verhüten der o.g. Handlungen im Sinne der Vorschrift erfolgt dann, wenn deren Verwirklichung bevorsteht, sie also konkret droht und sich bereits in ihren Umrissen abzeichnet.
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe liegt dem Bescheid der Antragsgegnerin eine tragfähige Prognose dahingehend, dass der Antragsteller mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in der Zukunft Straftaten begehen wird oder von ihm sonstige einschlägige Gefahren ausgehen werden, nicht zugrunde.
Zwar mag es aus elterlicher Sicht nachvollziehbar sein, dass entsprechenden Annäherungsversuchen eines Mannes mittleren Alters eine gewisse Skepsis entgegengebracht wird und daraus Sorgen oder Ängste erwachsen. Die körperliche und seelische Unversehrtheit von Kindern stellt ohne Zweifel ein bedeutsames Rechtsgut dar, das unter dem Schutz der Rechtsordnung steht. Für die rechtliche Beurteilung kommt es jedoch auf eine tragfähige Prognose im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts an, ob eine konkrete Gefahr vorliegt. Vorliegend kann jedenfalls die bloße Tatsache, dass der Antragsteller regelmäßig Örtlichkeiten aufsucht, an denen Kinder und Jugendliche anzutreffen sind und er den Kontakt mithilfe von Süßigkeiten und Getränken herstellt, für sich genommen noch nicht hinreichen, eine konkrete Gefahr der Begehung von rechtswidrigen Taten im Sinne des Gesetzes zu begründen. Ebenso verhält es sich mit dem Ansprechen von Kindern, um mit diesen Fußball zu spielen oder anderweitigen sportlichen Aktivitäten nachzugehen. Vielmehr müssen konkrete zusätzliche Anhaltspunkte bestehen, die die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines konkret drohenden Schadenseintritts zu begründen vermögen.
Derartige Anhaltspunkte hat die Antragsgegnerin nicht angeführt. Ungewiss bleibt, weshalb konkret sich der Antragsteller durch seine bloße Anwesenheit stets „verdächtig“ macht. Weshalb die Kinder bei dem letzten Ansprechen am 13. September 2019 am Sportplatz verängstigt wurden und fluchtartig die Örtlichkeit verließen, worauf unter Bezugnahme auf das polizeiliche Schreiben vom 18. September 2019 die Antragsgegnerin ebenfalls abstellt, lässt eine Gefahrenlage nicht erkennen. In der Begründung des Bescheides vermag die Antragsgegnerin „bei den ermittelten Fällen ein eindeutiges Planungsverhalten zu erkennen“, aus dem sie ein hohes Bedürfnis ableitet, Kinder zu schützen. Inwiefern aus dem insoweit durchaus planmäßigen Aufsuchen von Sportplätzen etc. aber konkrete Anhaltspunkte für einen Schadenseintritt für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ableitbar sind, ist von der Antragsgegnerin nicht hinreichend dargelegt. Insoweit stellt der angefochtene Bescheid nur auf vage Vermutungen im Sinne der bloßen Möglichkeit des Schadenseintritts ab.
Die Antragsgegnerin führt in ihrem Bescheid zur Begründung des Sofortvollzugs weiter aus, ein sofortiges sicherheitsbehördliches Handeln sei zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und zur Verhinderung schwerwiegender Straftaten, wie z.B. Sexualdelikten und evtl. Körperverletzungen erforderlich. Aus dem „aufgezeigten gezielten Vorgehen“ müsse „geschlussfolgert werden, dass ein Aufsuchen von Örtlichkeiten in denen vornehmlich Kinder anzutreffen sind motiv- und triebgesteuert ist und unterbunden werden muss.“ Konkrete Anhaltspunkte für drohende Straftaten dieser Art bzw. ein triebgesteuertes Verhalten finden sich indes in der Begründung des Bescheids und den Behördenakten nach summarischer Prüfung nicht.
Ausweislich des in der Behördenakte der Antragsgegnerin befindlichen polizeilichen Anschreibens vom 18. September 2019 ist der Antragsteller polizeilich dokumentiert seit 2015 bekannt im Zusammenhang mit dem Ansprechen von Kindern. Dabei kam es zu keinen polizeilich bekannten Übergriffen sexueller Natur zum Nachteil von Kindern.
Auch dem vom Antragsteller vorgelegten psychiatrischen Gutachten des Prof. Dr. … vom 29. Mai 2018 lässt sich entnehmen, dass hinsichtlich des Antragstellers jedenfalls zum Zeitpunkt der Begutachtung „weder aus den (…) angestellten diagnostischen Überlegungen noch aus dem überlassenen Aktenmaterial“ eine „konkrete und unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ bestand (S. 20 f. des Gutachtens).
Insofern wird ausgeführt:
Beim Antragsteller „kann die Kontaktaufnahme zu Kindern und Jugendlichen am ehesten dadurch erklärt werden, dass er zu Gleichaltrigen eher wenig sozialen Kontakt findet und doch sehr spezielle Interessen hat. Ein sexuelles Interesse an Kindern und Jugendlichen wird durch [den Antragsteller] verneint. Auch findet sich im überlassenen Aktenmaterial kein Hinweis darauf, dass es bisher zu sexuellen Handlungen gekommen ist. Genauer gesagt sind sogar keinerlei strafrechtlich relevante Vorgänge in Bezug auf Kinder und Jugendliche in den Akten belegt. Hierbei ist zu beachten, dass Auffälligkeiten bereits seit 2008 von der Polizei dokumentiert sind, ohne dass es zu strafrechtlich relevanten Vorfällen kam. (…)
Selbstverständlich kann vom psychiatrischen Sachverständigen eine Gefährdung in der Zukunft nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Konkrete Hinweise gibt es aktuell jedoch nicht.“ (S. 20 f. des o.g. Gutachtens).
Dem damaligen Gutachter lagen ausweislich des Gutachtens Behördenakten aus den Jahren 2008 bis 2018 vor, die Eingang in die gutachterliche Stellungnahme gefunden haben. Anhaltspunkte, weshalb das Gericht den gutachterlichen Einschätzungen nach der gebotenen summarischer Prüfung nicht folgen könnte, sind nicht ersichtlich. Die von der Antragsgegnerin nun aufgeführten und zeitlich dem Gutachten teilweise nachgelagerten Ereignisse unterscheiden sich auch nicht wesentlich von der Vielzahl gleichgelagerter Fälle, die im Gutachten bereits seit dem Jahr 2008 aufgeführt und anhand der dem Gutachter vorliegenden Behördenakten bewertet wurden (vgl. S. 3 – 8 des o.g. Gutachtens), so dass sich die Gefahrenprognose nach Ansicht des Gerichts durch diese nicht verändert hat. Selbst wenn der Antragsgegnerin das genannte Gutachten nicht bekannt gewesen sein sollte, rechtfertigen alleine die im polizeilichen Schreiben vom 18. September 2019 übermittelten Informationen aus den dargelegten Gründen nicht die Annahme einer konkreten Gefahr. Die Antragsgegnerin selbst spricht in einer Meldung im Gemeindeblatt Nr. 19/19 davon, dass „seine Anwesenheit […] Gott sei Dank „noch“ keinen Anlass für Beschwerden gegeben“ hat und es „keinen Anlass zur besonderen Sorge“ gebe. Abgesehen vom Anhörungsschreiben vom 19. September 2019 an den Antragsteller sind den Behördenakten weitere Ermittlungen zur Sachverhaltsaufklärung und Gefahreneinschätzung durch die Antragsgegnerin nicht zu entnehmen.
Insofern vermag das Gericht vor dem Hintergrund der zeitlichen Verteilung der Ereignisse seit 2008, der oben zitierten gutachterlichen Stellungnahme sowie der Tatsache, dass der Antragsteller ausweislich der dem Gericht vorliegenden Behördenakten bisher nicht straffällig wurde sowie keinerlei konkretisierte Beschwerden von Eltern bzgl. ihrer Kinder bzw. von Kindern selbst vorliegen, keine vom Antragsteller ausgehende konkrete Gefahr zu erkennen.
3. Die Kostenentscheidung basiert auf § 154 Abs. 1 VwGO.
4. Der Streitwert war nach § 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG zu bestimmen. Das Gericht orientiert sich dabei an den Empfehlungen des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (dort Nr. 35.1).


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