Verwaltungsrecht

Asylberechtigung – Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung von Kurden

Aktenzeichen  9 ZB 12.30404

Datum:
3.6.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 47822
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 103 Abs. 1
AsylG § 3, § 78 Abs. 3
AufenthG § 60 Abs. 1

 

Leitsatz

1 Eine die Flüchtlingseigenschaft begründende Gefahr der Gruppenverfolgung kann sich auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das mit ihnen geteilt wird, und eine nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbare Lage vorliegt (Fortführung von BVerwG BeckRS 2015, 55925). (redaktioneller Leitsatz)
2 Eine alle Gruppenmitglieder erfassende gruppengerichtete Verfolgung setzt – abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms – eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus. (redaktioneller Leitsatz)
3 Die klägerische Behauptung, das Gericht habe den vorgetragenen tatsächlichen Umständen nicht die richtige Bedeutung für weitere tatsächliche oder rechtliche Folgerungen beigemessen, vermag grundsätzlich keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör zu begründen.  (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

6 K 12.30237 2012-09-03 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II.
Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Das Verwaltungsgericht wies seine Asylklage mit Urteil vom 3. September 2012 ab. Hiergegen richtet sich das Rechtsmittel des Klägers. Er macht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und eine Verletzung des rechtlichen Gehörs geltend.
II. Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
1. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG), die ihr der Kläger beimisst.
Die als grundsätzlich bedeutsam aufgeworfene Frage, ob eine Gruppenverfolgung von Kurden in der Türkei gegeben ist, ist nicht klärungsbedürftig.
a) Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt (vgl. BVerwG, B. v. 16.11.2015 – 1 B 76.15 – juris Rn. 4 unter Hinweis auf BVerwG, U. v. 21.4.2009 – 10 C 11.08 – juris Rn. 13 m. w. N.). Danach kann sich die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG i. V. m. § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt – abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms – ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 60 Abs. 1 AufenthG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten. Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d. h. wenn auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss.
b) Die Tatsachenfrage, ob anhand der maßgeblichen rechtlichen Voraussetzungen eine Gruppenverfolgung von Kurden in der Türkei vorliegt, ist nach der vom Verwaltungsgericht in Bezug genommenen Erkenntnisquelle (Lagebericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 8.4.2011) – mit der sich das Zulassungsvorbringen nicht substantiiert auseinandersetzt – sowie in der obergerichtlichen Rechtsprechung ebenfalls ausreichend geklärt. Danach unterliegen Kurden in keinem Landesteil der Türkei einer Gruppenverfolgung im vorgenannten Sinn. Dessen ungeachtet steht Kurden in der West-Türkei trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen eine inländische Fluchtalternative offen (vgl. SächsOVG, U. v. 7.4.2016 – 3 A 557/13.A; BayVGH, B. v. 22.9.2015 – 9 ZB 14.30399; OVG NW, B. v. 29.7.2014 – 8 A 1678/13.A; VGH BW, U. v. 27.8.2013 – A 12 S 561//13; OVG LSA, U. v. 14.3.2012 – 3 L 152/09; OVG Saarl, U. v. 25.8.2011 – 3 A 35/10 sämtliche juris und jeweils m. w. N.).
c) Die allgemein gehaltenen Darlegungen des Klägers zu einem Bericht des „Forum solidarisches und friedliches Augsburg“ vom 21. Februar 2012 mit dem Titel „Kurdenverfolgung und Anzeige gegen Erdogan“ über Angriffe des türkischen Militärs auf Zivilpersonen in der türkischirakischen Grenzregion lassen weder eine Gruppenverfolgung der Kurden nach den zuvor genannten Maßstäben erkennen noch weisen sie einen Bezug zu den persönlichen Umständen des Klägers auf, der zuletzt mit seinem Bruder ein Restaurant in Istanbul betrieben hatte.
d) Die einzelfallbezogene Kritik an der tatrichterlichen Würdigung des Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht ist nicht geeignet, die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache darzulegen.
2. Der vom Kläger geltend gemachte Zulassungsgrund der Versagung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO) liegt nicht vor.
Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet das entscheidende Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (st. Rspr., vgl. BVerfG, B. v. 14.6.1960 – 2 BvR 96/60 – BVerfGE 11, 218 = juris Rn. 5). Dem das ist das Verwaltungsgericht nachgekommen.
a) Die eingangs aufgestellte Behauptung, das Verwaltungsgericht habe das Sachvorbringen nicht zur Kenntnis genommen, wird mit dem weiteren Zulassungsvorbringen teilweise entkräftet. Denn der Kläger führt selbst aus, dass das Verwaltungsgericht auf seine Darlegungen eingehe und die Repressalien durch die Polizei als wahr unterstelle. Er bemängelt aber, dass das Verwaltungsgericht dennoch zu dem Ergebnis komme, dies habe keine asylrechtliche Relevanz. Damit erschöpft sich das Vorbringen in einer Kritik an der Sachverhalts- und Beweiswürdigung durch das Verwaltungsgericht. Die klägerische Behauptung, das Verwaltungsgericht habe den vorgetragenen tatsächlichen Umständen nicht die richtige Bedeutung für weitere tatsächliche oder rechtliche Folgerungen beigemessen, vermag aber grundsätzlich keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG zu begründen (vgl. BayVGH, B. v. 18.12.2015 – 9 ZB 15.50140 – juris Rn. 3 m. w. N.; BVerfG, E. v. 11.9.2015 – 2 BvR 1586/15 – juris Rn. 4 m. w. N.).
b) Auch das Vorbringen zu den beruflichen und wirtschaftlichen Benachteiligungen, die der Kläger aufgrund seiner kurdischen Volkszugehörigkeit und seiner Behinderung erleiden müsse, lassen keinen Gehörsverstoß erkennen.
Das Verwaltungsgericht hat die diesbezüglichen Ausführungen des Klägers zur Kenntnis genommen und sich hiermit in seiner Entscheidung auch umfassend auseinandergesetzt. Dies stellt auch der Kläger nicht infrage; er ist aber der Ansicht, das Verwaltungsgericht habe die Verknüpfung der beiden Schicksale („kurdische Abstammung und Behinderung“) nicht berücksichtigt. Damit erschöpft sich das Zulassungsvorbringen wiederum in einer Kritik an der Sachverhalts- und Beweiswürdigung durch das Verwaltungsgericht, die einen Verstoß gegen die Gewährung des rechtlichen Gehörs nicht zu begründen vermag. Davon abgesehen trifft die Kritik auch in der Sache nicht zu. Soweit es die behaupteten Maßnahmen der Polizei betrifft, weist das Verwaltungsgericht darauf hin, dass die geschilderten polizeilichen Maßnahmen nach den Angaben des Klägers auf dessen kurdische Volkszugehörigkeit abgezielt hätten und nicht auf seine Behinderung. Was die behauptete berufliche und wirtschaftliche Benachteiligung anbelangt, hat das Verwaltungsgericht eine dahingehende allgemeine Gefahr, der Kläger könne sein Existenzminimum nicht sichern, aufgrund der sozialen Sicherungssysteme in der Türkei für ausgeschlossen erachtet. Es hat dies auch in Bezug auf die kurdische Volkszugehörigkeit des Klägers gewürdigt, aber festgestellt, dass sich aus den zugrunde liegenden Erkenntnismitteln keine Anhaltspunkte dafür ergäben, dass Kurden insoweit benachteiligt würden.
c) Soweit der Kläger darauf hinweist, dass das Verwaltungsgericht seine Beweisanträge in der mündlichen Verhandlung vom 28. August 2012 (Wahrunterstellung bzw. Unerheblichkeit) abgelehnt hat, lässt das hierauf gestützte Zulassungsvorbringen ebenfalls keinen Gehörsverstoß erkennen.
Insbesondere trifft der Einwand nicht zu, das Verwaltungsgericht habe nicht ausgeführt, warum es in den vom Kläger dargelegten Eingriffen in dessen berufliche und wirtschaftliche Betätigung aufgrund seiner kurdischen Abstammung und seiner Behinderung keine asylrechtliche Verfolgung sehe. Das Verwaltungsgericht hat hierzu ausgeführt, der Vortrag des Klägers habe selbst bei Wahrunterstellung keine asylrechtliche Relevanz, weil danach sein Leben oder seine Freiheit nicht wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sei. Der Kläger sei zumindest in Istanbul integriert gewesen und habe dort ein Restaurant betrieben. Soweit der Kläger dennoch eine Beeinträchtigung seiner beruflichen Betätigung sieht, hat das Verwaltungsgericht gemäß § 77 Abs. 2 AsylG auf die Feststellungen des Bundesamts im Bescheid vom 5. Juli 2012 hingewiesen und im Übrigen eine extreme individuelle Gefahrenlage wegen fehlender Sicherung des Existenzminimums verneint, weil der Kläger selbst dann, wenn er keine Arbeit finden würde, Anspruch auf Sozialleistungen habe und keine Anhaltspunkte dafür bestünden, dass türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit diese Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnten. Mit diesen Ausführungen setzt sich das Zulassungsvorbringen nicht auseinander.
d) Die Darlegungen zum Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache, wonach das Verwaltungsgericht nicht detailliert auf die im Klageverfahren vorgelegten Berichte (sämtlich „Spiegel Online“) eingegangen sei, führen nicht zur Zulassung der Berufung wegen eines Gehörsverstoßes.
Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet das entscheidende Gericht zwar, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Die Gerichte brauchen aber nicht jedes Vorbringen der Beteiligten in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich zu bescheiden (vgl. BVerfG, E. v. 11.9.2015 – 2 BvR 433/15 – juris Rn. 9 m. w. N.). Abgesehen davon, dass die in Bezug genommenen Berichte („Türkei weist syrische Flüchtlinge ab“, „Neun Tote bei Bombenanschlag in der Türkei“, „Kurdische Rebellen entführen Abgeordneten“ und „Armee stoppt Suche nach verschlepptem Parlamentarier“), die belegen sollen, „dass es in den letzten Monaten erneut zu erheblichen Spannungen und Kämpfen zwischen der PKK und der türkischen Regierung bzw. dem Militär kam und der Kurdenkonflikt sich verschärft hat“, schon nicht geeignet sind, die zuvor genannten Voraussetzungen für eine Gruppenverfolgung – insbesondere die zu fordernde Verfolgungsdichte – zu belegen, hat das Verwaltungsgericht die berichteten Ereignisse nicht infrage gestellt, sondern sich in den Entscheidungsgründen mit den Spannungen in den kurdisch geprägten Regionen bzw. mit der Situation in dem ehemaligen Heimatgebiet des Klägers u. a. aufgrund des Flüchtlingszustroms aus Syrien und die eventuell verschärfte Situation im Zusammenhang mit der PKK auseinander gesetzt. Es hat einen hieraus folgenden Anspruch des Klägers auf Flüchtlingsanerkennung verneint, weil der Kläger seit 2002/2003 nicht mehr in diesem Gebiet gelebt habe, sondern in Istanbul. Hiermit setzt sich das Zulassungsvorbringen nicht auseinander.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83 b AsylG. Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG). Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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