Verwaltungsrecht

Asylverfahren, Herkunftsland: Syrien, Unzulässigkeitsentscheidung wegen vorheriger Zuerkennung internationalen Schutzes in Griechenland, Ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung

Aktenzeichen  M 22 K 19.30156

Datum:
17.1.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 15187
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
GRCh Art. 4
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Tenor

I.Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom *** ****** **** wird mit Ausnahme der Feststellung in Satz 4 der Nummer 3 aufgehoben.
II.Die Beklagte hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.
III.Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leisten.  

Gründe

Über die Klagen kann ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren durch die Berichterstatterin erklärt haben (§ 101 Abs. 2, § 87a Abs. 2 und 3 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Die Klagen sind zulässig und haben in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Asylgesetz – AsylG) auch in der Sache Erfolg.
Auf den Klageantrag zu 1) hin war der Bescheid der Beklagten vom … … … weitgehend aufzuheben; einer Entscheidung über den Klageantrag zu 2) – den das Gericht als nur hilfsweise erhoben versteht – bedurfte es nicht.
1. Die Klagen sind hinsichtlich des Klageantrags zu 1) als Anfechtungsklagen und hinsichtlich des Klageantrags zu 2) als – hilfsweise erhobene – Verpflichtungsklagen zulässig.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) – jedenfalls seit Inkrafttreten des Integrationsgesetzes – ist die Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO die allein statthafte Klageart gegen Bescheide, die die Unzulässigkeit eines Asylantrags nach § 29 Abs. 1 AsylG feststellen. Hintergrund hierfür ist der Umstand, dass die Asylanträge in diesen Fällen ohne Prüfung der materiell-rechtlichen Anerkennungsvoraussetzungen, also ohne weitere Sachprüfung, abgelehnt werden. Insoweit kommt auch kein eingeschränkter, auf die Durchführung eines Asylverfahrens beschränkter Verpflichtungsantrag oder gar ein „Durchentscheiden“ des Gerichts in Betracht (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2017 – 1 C 9.17 – NVwZ 2017, 1625; U.v. 20.5.2020 – 1 C 34.19 – juris; BayVGH, U.v. 13.10.2016 – 20 B 14.30212 – juris). Neben der Anfechtungsklage zulässig ist lediglich eine hilfsweise, für den Fall des Unterliegens mit dem Hauptantrag erhobene Verpflichtungsklage auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 Aufenthaltsgesetz – AufenthG, weil das Bundesamt dessen Voraussetzungen gemäß § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG bereits inhaltlich geprüft hat (BVerwG, U.v. 25.7.2017 – 1 C 10.17 – juris Rn. 17; VG Ansbach, U.v. 5.8.2021 – AN 17 K 19.50552 – juris Rn. 63).
In Anwendung der vorgenannten Grundsätze sind die vorliegenden Klagen, soweit sie auf Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids gerichtet sind (Klageantrag zu 1), als Anfechtungsklagen zulässig. Dabei ist das Anfechtungsbegehren der Kläger sachdienlich dahingehend auszulegen, dass es die Feststellung in Satz 4 der Nummer 3 des streitgegenständlichen Bescheids nicht erfasst. Denn die Feststellung, dass die Kläger nicht nach Syrien abgeschoben werden dürfen, ist für die Kläger ausschließlich begünstigend (vgl. VG Frankfurt (Oder), U.v. 31.5.2021 – 7 K 122716.A – juris Rn. 18 unter Verweis auf BVerwG, U.v. 15.1.2019 – 1 C 15.18 – juris Rn. 7). Einer Entscheidung über die Folgeentscheidungen (auch wenn der Klageantrag zu 2 insoweit zulässig ist) bedarf es vorliegend nicht, da das Bundesamt nach der gerichtlichen Aufhebung einer Unzulässigkeitsentscheidung automatisch zur Fortführung des Asylverfahrens verpflichtet ist (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34/19 – juris Rn. 15).
2. Die zulässigen Anfechtungsklagen (Klageantrag zu 1) sind auch begründet. Das Bundesamt hat den Asylantrag der Kläger mit dem Bescheid vom … … … zu Unrecht als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG abgelehnt und dadurch die Kläger in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
2.1. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Entsprechend der Mitteilung der griechischen Asylbehörde vom … … … wurde den Klägern am … … … in Griechenland der internationale Schutz in Form von Flüchtlingsschutz zuerkannt (Aufenthaltsrecht bis … … …*). Die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG liegen demnach grundsätzlich vor.
Eine Unzulässigkeitsentscheidung kann nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) gleichwohl aus Gründen vorrangigen Unionsrechts (bzw. in richtlinienkonformer Auslegung des § 29 Abs. 1 AsylG) ausnahmsweise ausgeschlossen sein, wenn die Lebensverhältnisse, die den in dem anderen Mitgliedsstaat Anerkannten nach einer Rücküberstellung erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 4 Grundrechtecharta – EU-GR-Charta (bzw. vom diesem entsprechenden Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK) zu erfahren.
Dafür genügt es allerdings nicht, dass in dem Mitgliedsstaat, in dem ein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, höhere Sozialleistungen gewährt werden oder die Lebensverhältnisse besser sind als in dem Mitgliedsstaat, der bereits internationalen Schutz gewährt hat. Gleiches gilt für das Fehlen familiärer Solidarität in einem Staat im Vergleich zu einem anderen sowie für Mängel bei der Durchführung von Integrationsprogrammen (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 93 f.; U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 94 ff., 97).
Ein Verstoß gegen Art. 4 EU-GR-Charta ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs erst dann anzunehmen, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass sich eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen (wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden) und ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese (Erheblichkeits-)Schwelle ist selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren sich die betroffene Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 90 f.; U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 92 f.; B.v. 13.11.2019 – Hamed und Omar, C-540/17 und C-541/17 – juris Rn. 39).
Bei dem so definierten Maßstab ist ebenfalls zu berücksichtigen, ob es sich bei der betreffenden Person um eine gesunde und arbeitsfähige oder um eine Person mit besonderer Verletzbarkeit (Vulnerabilität) handelt, die leichter unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten kann (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 93; U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 95). Damit schließt sich der Europäische Gerichtshof der Tarakhel-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte an (EGMR, U.v. 4.11.2014 – Tarakhel, 29217/12 – NVwZ 2015, 127), die wegen Art. 52 Abs. 3 EU-GR-Charta auch im Rahmen des Art. 4 EU-GR-Charta zu berücksichtigen ist.
Für die demnach zu treffende Gefahrenprognose ist auf das Bestehen einer ernsthaften Gefahr („serious risk“) abzustellen, was dem Maßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“) in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK bzw. der beachtlichen Wahrscheinlichkeit im nationalen Recht entspricht (vgl. zu dieser Wertung BVerwG, U.v. 17.6.2020 – 1C 35/19 – juris Rn. 27; ferner zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit vgl. OVG RhPf, B.v. 17.3.2020 – 7 A 10903/18.OVG – juris Rn. 34 unter Verweis auf VGH BW, U.v. 3.11.2017 – A 11 S 1704/17 – juris Rn. 184 ff. m.w.N. zur Rspr. des EGMR).
Unter diesen Voraussetzungen ist es den Mitgliedstaaten untersagt, von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Asylverfahrens-RL) eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen (vgl. EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed und Omar, C-540/17 und C-541/17 – juris Rn. 35; vgl. auch BVerwG, U.v. 17.6.2020 – 1 C 35/19 – juris Rn. 23). Die gerichtliche Prüfung hat mithin auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen, die eine von sämtlichen Umständen des Falles abhängige, besonders hohe Erheblichkeitsschwelle erreichen (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 88 f.).
Dem steht auch nicht der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Unionsrecht entgegen, welcher besagt, dass die Mitgliedsstaaten regelmäßig grundlegende Werte der Union – wie sie etwa in Art. 4 EU-GR-Charta zum Ausdruck kommen – anerkennen, umgesetztes Unionsrecht beachten und auf Ebene des nationalen Rechts einen wirksamen Schutz der in der Grundrechtecharta anerkannten Grundrechte gewährleisten sowie dies gegenseitig nicht in Frage stellen. Dieser Grundsatz gilt im Grundsatz auch im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) und gerade bei der Anwendung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Asylverfahrens-RL, in dem er zum Ausdruck kommt (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 80 ff.; U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 83 ff.; vgl. auch Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, Art. 4 GRCh Rn. 3). Der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens gilt jedoch nicht absolut im Sinne einer unwiderlegbaren Vermutung, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Gemeinsame Europäische Asylsystem in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedsstaat stößt, so dass ein ernsthaftes Risiko besteht, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, bei einer (Rück-)Überstellung in diesen Mitgliedsstaat grundrechtswidrig behandelt werden. Dies zu prüfen obliegt den Mitgliedsstaaten einschließlich der nationalen Gerichte (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 83 ff.; U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 86 ff.).
2.2. In Anwendung der vorgenannten Maßstäbe ist das Gericht der Überzeugung, dass die Ablehnung des Asylantrags der hiesigen Kläger als unzulässig im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt rechtswidrig war.
Den Klägern als international Schutzberechtigten droht in Griechenland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 4 EU-GR-Charta. Dabei schließt sich das Gericht der – soweit erkennbar – ganz überwiegenden Rechtsprechung an (vgl. etwa OVG NW, U.v. 21.1.2021 – 11 A 1564/20.A – juris; VG Dresden, U.v. 19.2.2021 – 13 k 2566/18.A – juris; OVG Lüneburg, U.v. 19.4.2021 – 10 LB 244/20 – juris; VG Frankfurt (Oder), U.v. 31.5.2021 – 7 K 122/16.A – juris; VG Aachen, U.v. 9.6.2021 – 1 K 1646/20.A – juris; bezogen auf vulnerable Personen vgl. VG Ansbach, U.v. 30.6.2021 – AN 17 K 18.50488 – juris).
Zwar mag für die Klägerin zu 1) unter Berücksichtigung ihrer Angaben zu ihrer persönlichen Situation in der Anhörung vor dem Bundesamt vom … … … nicht anzunehmen sein, dass diese als Einzelperson betrachtet einer besonders schutzbedürftigen Personengruppe zuzurechnen ist. Darauf ist jedoch nach Auffassung des Gerichts nicht allein maßgeblich abzustellen. Bei der Frage, ob die Klägerin zu 1) einer sog. vulnerablen Gruppe zugehört, ist vielmehr auch die Kernfamilie der Klägerin zu 1) mit in die Bewertung einzubeziehen. Dazu gehören jedenfalls ihre minderjährigen Kinder, die Kläger 2) bis 4) (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – NVwZ 2020, 158; BayVGH, B.v. 3.2.2020 – 13a ZB 19.33975 – juris). Dieser Personenmehrheit als vulnerabler Personengruppe – einer alleinstehenden, geschiedenen Frau mit ihren drei kleinen Kindern im Alter von zehn, acht und sechs – droht nach Überzeugung des Gerichts bei einer Rückkehr nach Griechenland eine erniedrigende und unmenschliche Behandlung. Es ist davon auszugehen, dass die Kläger in Griechenland unabhängig von ihrem Willen und persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten werden und ihre Grundbedürfnisse „Bett, Brot und Seife“ nicht befriedigen werden können.
2.3. Das erkennende Gericht legt seiner Entscheidung im Wege einer Gesamtschau der maßgeblichen Kriterien folgende zur Verfügung stehende Erkenntnismittel zur Tatsachen- und Rechtslage von in Griechenland anerkannten international Schutzberechtigten, die nach ihrer Anerkennung Griechenland verlassen haben und nun wieder zurückgeführt werden sollen, zu Grunde:
Nach aktueller Auskunft der Stiftung Pro Asyl (Pro Asyl, Stellungnahme zur aktuellen Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland, April 2021) ziele der Kurs der aktuellen konservativen griechischen Regierung darauf ab, Menschen mit Schutzstatus sich selbst zu überlassen. Die Situation für international Schutzberechtigte habe sich in den letzten Monaten weiter verschärft; aufgrund beschleunigter Asylverfahren sei die Anzahl international Schutzberechtigter sprunghaft gestiegen. Seit Juni 2020 seien diese verpflichtet, die Unterkünfte, in denen sie während des Asylverfahrens untergebracht waren, spätestens 30 Tage nach Anerkennung zu verlassen. In der Folge hätten tausende Menschen ihre Unterkunft räumen müssen und seien obdachlos geworden. Auch die finanziellen Leistungen würden in diesem Fall eingestellt werden. Staatliche Maßnahmen, um Schutzberechtigte zu unterstützen, bis sie auf eigenen Füßen stehen könnten, würden nicht existieren. Ohne staatliche Unterstützung würden sie in der Verelendung landen und könnten elementare Bedürfnisse nicht mehr befriedigen. Mit einer Entspannung der Situation sei auf absehbare Zeit nicht zu rechnen, da Anfang Februar 2021 landesweit 10.405 Menschen, denen bereits internationaler Schutz zuerkannt worden sei, in Flüchtlingslagern leben würden. Weitere 6.199 Menschen, die im Rahmen des ESTIA-Programms, eines Unterbringungsprogramms des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) für Asylbewerber in Kooperation mit mehreren NGOs und gefördert aus dem europäischen Asyl-, Migration- und Integrationsfonds (AMIF), untergebracht worden seien, würden diese Unterkünfte verlassen müssen.
Mit dem ebenfalls aus EU-Mitteln finanzierten Programm HELIOS existiere in Griechenland zwar ein offizielles Integrationsprogramm. Allerdings seien Personen, denen vor dem 1. Januar 2018 internationaler Schutz gewährt wurde, sowie Personen, die nicht offiziell in einer Aufnahmeeinrichtung lebten, vom HELIOS-Programm ausgeschlossen. Auch müsse die Anmeldung hierfür innerhalb eines Jahres nach Zustellung des Anerkennungsbescheids erfolgt sein. Eine spätere Anmeldung sei nicht möglich, wodurch Schutzberechtigte, die aus anderen Ländern nach Griechenland zurückkehrten, in aller Regel ausgeschlossen seien. Weitere Programme von NGOs, um international Schutzberechtigte beim Zugang zu Wohnraum zu unterstützen, seien nicht bekannt. Obdachlosenunterkünfte für eine kurzfristige Notunterkunft stünden international Schutzberechtigten zwar formell teilweise offen, eine im April 2020 durchgeführte Umfrage bei Obdachlosenunterkünften in der Region Att* …, deren Ergebnisse weiterhin gültig seien, habe jedoch ergeben, dass die verfügbaren Plätze nicht einmal annähernd ausreichten und lange Wartelisten bestünden. Auf Anfrage der Flüchtlingshilfsorganisation ProAsyl hat das KYADA Multi-Purpose Homeless Shelter, die größte Unterkunft in der Region von Att* …, Ende Februar 2021 mitgeteilt, dass aktuell keine Plätze verfügbar seien (ProAsyl/RSA, Stellungnahme April 2021, Seite 10). Die Aufnahme in eine Obdachlosenunterkunft sei zudem oftmals an Bedingungen – etwa die Beherrschung der griechischen Sprache – geknüpft, welche international Schutzberechtigte regelmäßig nicht erfüllen würden.
Auch die Angaben des Auswärtigen Amts bestätigen, dass anerkannte Schutzberechtigte nach der Anerkennung die Unterkünfte für Asylsuchende ohne Verzögerung verlassen müssten, was auch für im Rahmen des ESTIA-Programms untergebrachte Flüchtlinge gelte. Nach einer Änderung des griechischen Asylgesetzes vom März 2020 sei die Frist hierfür auf 30 Tage verkürzt worden. Eine Förderung im Rahmen des HELIOS-Programms sei nur möglich, wenn diese innerhalb von 30 Tagen nach Anerkennung des Schutzstatus beantragt werde (Auswärtiges Amt, Amtshilfeersuchen in Asyl- und Rückführungsangelegenheiten, Auskunft an das VG Magdeburg vom 26.11.2020 – 4 A 13/20 MD – juris). Auf anerkannte Schutzberechtigte finde das ESTIA-Programm grundsätzlich keine Anwendung; dieses betreffe nur Asylbewerber (Auswärtiges Amt, Amtshilfeersuchen in Asyl- und Rückführungsangelegenheiten, Auskunft an das VG Leipzig vom 28.1.2020 – 6 K 1445/18.A – juris).
Das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) führt zur Wohnsituation von international Schutzberechtigten in Griechenland aus, dass Wohnraum grundsätzlich auf dem freien Wohnungsmarkt zu beschaffen sei. Das private Anmieten von Wohnraum für bzw. durch anerkannte Schutzberechtigte werde durch das traditionell bevorzugte Vermieten an Familienmitglieder, Bekannte und Studenten sowie gelegentlich durch Vorurteile erschwert. Personen, die keine Unterkunft hätten und nicht das Geld besäßen, eine solche zu mieten, lebten oft in überfüllten Wohnungen, verlassenen Häusern ohne Zugang zu Elektrizität und Wasser oder seien obdachlos. Schutzberechtigte hätten zwar grundsätzlich Zugang zu Unterbringungseinrichtungen für Obdachlose, diese seien jedoch nur begrenzt vorhanden und chronisch überfüllt. Eigene Unterbringungsplätze für anerkannte Flüchtlinge oder subsidiär Schutzberechtigte existierten nicht. Es sei auch keine Unterstützung für ihre Lebenshaltungskosten vorgesehen. Die Aufnahme ins ESTIA-Programm sei nur für diejenigen anerkannten Schutzberechtigten möglich, welche die Kriterien der Vulnerabilität erfüllten und bereits als Asylwerber an dem Programm teilgenommen hätten. Im Rahmen des Programms würden hauptsächlich Familien untergebracht werden. Einige NGOs – wie z.B. Caritas Hellas, Orange House und PRAKSIS – würden punktuell Wohnraum anbieten; die Zahl der Unterkünfte in At* … sei insgesamt jedoch nicht ausreichend (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Griechenland vom 19.3.2020, Seite 30 f.). Aktuell soll es laut Auskunft von ProAsyl weder Wohnraum noch Unterstützung bei der Wohnraumsuche durch Hilfsorganisationen geben (ProAsyl/RSA, Stellungnahme April 2021, Seite 10).
2.4. Mit Blick auf die ausgeführten Erkenntnisse besteht für die Kläger eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, nach einer Rücküberstellung nach Griechenland obdachlos zu werden. Der Klägerin zu 1) wird es dort aller Voraussicht nach weder möglich sein, eine Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt zu finden, noch diese zu finanzieren. In Unterkünften des ESTIA-Programms kann sie mit ihren Kindern nicht unterkommen, weil diese für Asylbewerber, nicht aber für international Schutzberechtigte vorgesehen sind und auch die übrigen Aufnahmekriterien nicht erfüllt sein dürften. Auch können die Kläger keine Unterstützung durch das HELIOS-Programm erfahren, da eine Antragstellung in Hinblick auf die bereits vor fast vier Jahren erfolgte Anerkennung als Schutzberechtigte nicht mehr möglich ist. Des Weiteren erscheint es auch mehr oder weniger dem Zufall überlassen, ob sie in einer durch NGOs zur Verfügung gestellten Wohnung oder Unterkunft oder einer Unterkunft für Obdachlose unterkommen können (vgl. zum Ganzen auch NdsOVG, U.v. 19.4.2021 – 10 LB 244/20 – juris Rn. 28 ff.; OVG NW, U.v. 21.1.2021 – 11 A 1564/20.A – juris Rn. 31 ff.; VG Ansbach, U.v. 30.6.2021 – AN 17 K 18.50488 – juris Rn. 36 ff.).
Ferner wird es der Klägerin zu 1) voraussichtlich nicht gelingen, sich am griechischen Arbeitsmarkt zu behaupten und durch eigene Erwerbstätigkeit das Überleben der Familie zu sichern (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris). Zwar besteht für international Schutzberechtigte in Griechenland Zugang zum Arbeitsmarkt, jedoch ist dieser durch die Sprachbarriere und die hohe Arbeitslosigkeit, die im Jahr 2020 bei 19,88% lag, erschwert. Ferner ist die griechische Wirtschaft durch die Covid-19-Pandemie weit zurückgeworfen worden (vgl. OVG NW, U.v. 21.1.2021 – 11 A 1564/20.A – juris Rn. 65 ff. m.w.N.). Nach Angaben des BFA seien die Chancen zur Vermittlung eines Arbeitsplatzes gering. Die staatliche Arbeitsagentur OAED habe bereits für die aktive Arbeitsvermittlung von den Einheimischen kaum Ressourcen (Betreuungsschlüssel: 1 Mitarbeiter für über 1.000 Arbeitslose). Es sei auch kein Programm zur Arbeitsintegration von Flüchtlingen aufgelegt worden. Migration auf dem griechischen Arbeitsmarkt habe in der Vergangenheit vor allem in den Branchen Landwirtschaft und Bauwesen sowie bei haushaltsnahen und sonstigen Dienstleistungen stattgefunden. Allerdings hätten sich die Arbeitschancen durch die anhaltende Finanz- und Wirtschaftskrise allgemein deutlich verschlechtert (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Griechenland vom 19.3.2020, Seite 31). Mangels Beherrschung der Landessprache, spezifischer beruflicher Qualifikationen und privater Netzwerke erscheint es daher nahezu ausgeschlossen, dass die Klägerin zu 1) in unmittelbarem Anschluss an eine Rückkehr nach Griechenland eine Arbeit findet, die es ihr gestattet, den Lebensunterhalt der Familie – insbesondere der drei minderjährigen Kinder – zu finanzieren.
Die Kläger dürften im Falle ihrer Rückkehr nach Griechenland auch keinen Zugang zu staatlichen Sozialleistungen haben, mit deren Hilfe sie dort ihr Existenzminimum sichern könnten. Anerkannte Schutzberechtigte haben in Griechenland zwar grundsätzlich Zugang zu der seit Februar 2017 schrittweise eingeführten sozialen Grundsicherung. Diese sieht Geldleistungen (erste Säule) sowie Sachleistungen (zweite Säule) und Arbeitsvermittlung (dritte Säule) vor. Voraussetzung für den Bezug dieser staatlichen Sozialleistungen ist jedoch der Nachweis eines legalen zweijährigen Voraufenthalts im Inland durch die inländischen Steuererklärungen der beiden Vorjahre. Geldleistungen der Arbeitslosenversicherung erhalten nur Personen mit entsprechenden Vorversicherungszeiten für eine Dauer von maximal einem Jahr. Auch das zum 1. Januar 2019 neu eingeführte soziale Wohngeld greift erst bei legalem Voraufenthalt in Griechenland von mindestens fünf Jahren (vgl. ProAsyl/RSA, Stellungnahme April 2021, Seite 19; Auswärtiges Amt, Amtshilfeersuchen in Asyl- und Rückführungsangelegenheiten, Auskunft an das VG Leipzig vom 28.1.2020 – 6 K 1445/18.A und Auskunft an das VG Berlin vom 4.12.2019 – VG 3 K 370.19 A u.a.; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Griechenland vom 19.3.2020, Seite 28 und 31). Ein Zugang der Kläger zu diesen Leistungen dürfte daher (zumindest zunächst) ausgeschlossen sein.
Schließlich ist noch auf Folgendes hinzuweisen: Die in Griechenland zu erwartenden Lebensumstände beruhen zwar nicht auf der Gleichgültigkeit des griechischen Staates (so die Formulierung in EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 90), aber auf dessen massiver Überforderung, die trotz Unterstützung durch den UNHCR und die EU weiterhin besteht. So kamen im Jahr 2019 insgesamt 74.600 Asylsuchende in Griechenland an und damit 50 Prozent mehr als im Jahr zuvor (UNHCR, Fact Sheet Greece, Stand Dezember 2019). In den Monaten Januar und Februar 2020 erreichen Griechenland rund 7.000 Flüchtlinge im Gegensatz zu rund 5.000 in den Monaten Januar und Februar 2019 (UNHCR, Fact Sheet Greece, Stand Februar 2020), was angesichts einer Bevölkerungszahl von etwa 11 Millionen und der Steigerungsrate eine enorme Belastung darstellt. Zum Vergleich wurden in Deutschland im Jahr 2019 etwa 150.000 Asylsuchende und damit elf Prozent weniger als im Jahr 2018 registriert (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Das Bundesamt in Zahlen 2019, Seite 7). In absoluten Zahlen sind dies zwar gut doppelt so viele wie in Griechenland, allerdings bei einer mehr als sieben Mal so großen Gesamtbevölkerung. Im europäischen Vergleich muss Griechenland gemessen an seiner Größe überproportionale Lasten bei der Aufnahme von Flüchtlingen schultern und ist mit diesem Ausmaß, insbesondere was die Aufnahme, Unterbringung und Versorgung anbelangt, überfordert. Für die Betroffenen wirkt sich die Überforderung des griechischen Staates im Ergebnis genauso wie Gleichgültigkeit, auf die der Europäische Gerichtshof abstellt (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 90), aus. Rechtlich maßgeblich ist letztlich allein, ob wegen der bestehenden Defizite mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung des Art. 4 EU-GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK droht. Dies folgt auch aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, wo dieser an anderer Stelle den „allgemeinen und absoluten Charakter des Verbots in Art. 4 der Charta, das eng mit der Achtung der Würde des Menschen verbunden ist und ausnahmslos jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verbietet“ betont (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed und Omar, C-540/17 und C-541/17 – NVwZ 2020, 137 Rn. 37).
Nach alledem ist die Unzulässigkeitsentscheidung gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in Nummer 1 des angefochtenen Bescheids rechtswidrig, sie verletzt die Kläger in ihren Rechten und ist damit aufzuheben.
2.5. Da die Beklagte zur Durchführung des nationalen Asylverfahrens verpflichtet ist, sind die auf der Unzulässigkeitsentscheidung aufbauenden Folgeentscheidungen in Nummern 2 bis 4 des streitgegenständlichen Bescheids – soweit sie von den Klagen erfasst sind – verfrüht ergangen und ebenfalls aufzuheben (vgl. BVerwG, U.v. 25.4.2019 – 1 C 51/18 – juris Rn. 20).
3. Über die hilfsweise erhobenen Verpflichtungsklagen (Klageantrag zu 2, s.o.) ist mangels Bedingungseintritts nicht zu entscheiden, da die Kläger bereits mit ihrem Anfechtungsbegehren (Klageantrag zu 1, s.o.) besiegen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
5. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung – ZPO.


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