Verwaltungsrecht

Aufbauseminar, Aufschiebende Wirkung, Verwaltungsgerichte, Streitwertfestsetzung, Fahreignungsregister, Persönliche und wirtschaftliche Verhältnisse, Ordnungswidrigkeiten, Geschwindigkeitsüberschreitung, Verwaltungsgerichtsverfahren, Fahrerlaubnisbehörde, Ermächtigungsgrundlage, Bußgeldkatalog-Verordnung, Änderungsverordnung, rechtskräftige Entscheidung, Verbotswidriges Parken, Gewährung von Prozesskostenhilfe, Bewilligung von Prozesskostenhilfe, Prozeßbevollmächtigter, Anfechtungsklage gegen, Fahrverbot

Aktenzeichen  B 1 S 20.788

Datum:
22.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 40883
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG § 2a Abs. 2 S. 1 Nr. 1
StVG § 28 Abs. 3 Nr. 1 – 3

 

Leitsatz

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
3. Der Streitwert wird auf 1.250,00 EUR festgesetzt.
4. Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung einer Rechtsanwältin wird abgelehnt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin, der am 14. August 2019 eine Fahrerlaubnis (mit Probezeit bis zum 14. August 2021) erteilt wurde, wendet sich gegen die kraft Gesetzes sofort vollziehbare Anordnung zur Teilnahme an einem Aufbauseminar durch die Stadt … Das Kraftfahrt-Bundesamt teilte der Stadt … mit Schreiben vom 24. Juli 2020 mit, dass hinsichtlich der Antragstellerin zwei Zuwiderhandlungen nach Abschnitt B der Anlage 12 zu § 34 Fahrerlaubnis-Verordnung eingetragen seien:
1. Tat vom 6. Mai 2020 (länger als 1 Stunde auf dem Gehweg geparkt und dadurch andere behindert, Rollstuhlfahrer und Fußgänger mussten auf die Fahrbahn ausweichen – rechtskräftig seit dem 3. Juni 2020, 1 Punkt, Entscheidungsdatum 14. Mai 2020 durch …*) sowie
2. Tat vom 5. Mai 2020 (länger als 1 Stunde auf dem Gehweg geparkt und dadurch andere behindert, Kinder mit Fahrrad mussten auf die Fahrbahn ausweichen – rechtskräftig seit dem 3. Juli 2020, 1 Punkt, Entscheidungsdatum 16. Juni 2020 durch …*).
Mit Bescheid vom 31. Juli 2020 (zugestellt am 4. August 2020) wurde die Antragstellerin durch die Stadt … verpflichtet, an einem Aufbauseminar für Fahranfänger teilzunehmen und die erforderliche Teilnahmebescheinigung bis spätestens 28. Oktober 2020 der Antragsgegnerin vorzulegen. Zur Begründung wird ausgeführt, dass bei zwei weniger schwerwiegenden Verkehrszuwiderhandlungen, die in das Verkehrszentralregister einzutragen sind und die in der Probezeit begangen werden, nach § 2a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StVG, § 2b Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 StVG und § 35 FeV ein Aufbauseminar für Fahranfänger anzuordnen sei. Es erfolgte der Hinweis, dass sich die Probezeit um zwei Jahre verlängere (bis zum 14. August 2023) und dass, wenn die Teilnahmebescheinigung nicht innerhalb der gesetzten Frist vorgelegt werde, die Fahrerlaubnis nach § 2a Abs. 3 StVG zu entziehen sei.
Mit Schreiben vom 31. August 2020, eingegangen beim Verwaltungsgericht Bayreuth am selben Tage, ließ die Antragstellerin Klage erheben und zugleich im Wege des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage herzustellen.
Zugleich wurde Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe gestellt.
Zur Begründung wird ausgeführt, dass die Antragstellerin keine zwei Verstöße begangen habe. Rechtskräftig geahndet sei nur der Verstoß am 6. Mai 2020. Der zweite Verstoß vom 5. Mai 2020 sei der Antragstellerin nicht bekannt. Die Antragstellerin habe erst in der Anordnung vom 31. Juli 2020 erfahren, dass sie die Zuwiderhandlung begangen haben soll. Sie sei nicht in der Lage, die Kosten für ein Aufbauseminar aufzubringen. Sie lebe von Sozialleistungen und sei alleinerziehende Mutter von 5 Kindern.
Die Stadt … beantragte mit Schreiben vom 4. September 2020,
den Antrag abzulehnen.
Die Antragsgegnerin sei nach § 2a Abs. 2 Satz 2 StVG bei Maßnahmen nach § 2a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3 StVG an rechtskräftige Entscheidungen über die Ordnungswidrigkeit gebunden. Die Entscheidungen seien rechtskräftig. Nach § 2a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StVG müsse das Aufbauseminar zwingend angeordnet werden, ein Ermessen bestünde nicht. Deshalb sei auch kein Raum für die Erwägungen zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen. Das Herstellen der aufschiebenden Wirkung würde ein Abweichen von der gesetzlichen Regelung bedeuten.
Die Bevollmächtigte der Antragstellerin äußerte mit Schreiben vom 20. Oktober 2020 (nachdem von der Berichterstatterin Fragen in Zusammenhang mit der 54. Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften aufgeworfen wurden, die die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 1. Oktober 2020 beantwortete), dass die Sanktionen gegen die Antragstellerin ohne Rechtsgrundlage erfolgt seien, da der neue Bußgeldkatalog keine Anwendung finde. Auf Grund des alten Bußgeldkatalogs sei keine Nachschulung zu verhängen gewesen. In der Ermessensausübung sei zu berücksichtigen, dass der Antragstellerin nur Parkverstöße zur Last lägen, die nicht mit einer Gefährdung Dritter verbunden seien.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakte ergänzend Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO analog).
II.
1. Der zulässige Antrag ist unbegründet.
a) Gemäß § 80 Abs. 1 VwGO haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Diese entfällt jedoch, wenn die Behörde nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten angeordnet hat. Die aufschiebende Wirkung entfällt aber auch dann, wenn dies gesetzlich angeordnet ist (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 – 3 VwGO). Da im vorliegenden Fall eine Anfechtungsklage gegen die mit Bescheid vom 31. Juli 2020 aufgrund von § 2a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StVG angeordnete Teilnahme an einem Aufbauseminar gemäß § 2a Abs. 6 StVG kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung hat (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO), ist der vorliegende Antrag als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO statthaft und zulässig.
b) Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 – 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft dabei eine originäre Ermessensentscheidung. Es hat bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung abzuwägen zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei dieser Abwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO allein mögliche, aber auch ausreichende summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf offensichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtswidrig, besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens dagegen nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer Interessensabwägung.
Unter Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall ist der Antrag abzulehnen, weil sich die mit Bescheid vom 31. Juli 2020 angeordnete Teilnahme an einem Aufbauseminar nach der hier gebotenen, aber ausreichenden summarischen Prüfung im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt als rechtmäßig darstellt und die Antragstellerin nicht in ihren Rechten verletzt, sodass die hiergegen erhobene Anfechtungsklage voraussichtlich ohne Erfolg bleiben wird (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Zur Begründung nimmt das Gericht vollumfänglich Bezug auf die rechtlichen Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid und macht diese zum Gegenstand der Begründung der vorliegenden Entscheidung (§ 117 Abs. 5 VwGO). Ergänzend wird ausgeführt:
aa) Zwar wurde die Antragstellerin vor Erlass der Anordnung zur Teilnahme an einem Aufbauseminar nicht angehört. Dies würde aber im Hauptsacheverfahren nicht zur Aufhebung des Verwaltungsakts führen, da offensichtlich ist, dass die fehlende Anhörung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat (Art. 46 BayVwVfG). Die Antragsgegnerin hatte hier (wie im Folgenden noch ausgeführt wird) eine gebundene Entscheidung zu treffen, deren gesetzliche Voraussetzungen vorgelegen haben und die auch im Rahmen einer Anhörung nicht hätten ausgeräumt werden können.
bb) Rechtsgrundlage für die Anordnung der Teilnahme an einem Aufbauseminar ist § 2a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StVG. Danach hat die Fahrerlaubnisbehörde für den Inhaber einer Fahrerlaubnis, gegen den wegen einer innerhalb der Probezeit begangenen Straftat oder Ordnungswidrigkeit eine rechtskräftige Entscheidung ergangen ist, die nach § 28 Abs. 3 Nr. 1 – 3 Buchstabe a oder c StVG in das Fahreignungsregister einzutragen ist, die Teilnahme an einem Aufbauseminar anzuordnen und hierfür eine Frist zu setzen, wenn er eine schwerwiegende oder zwei weniger schwerwiegende Zuwiderhandlungen begangen hat. Die Fahrerlaubnisbehörde ist bei dieser Maßnahme an die rechtskräftige Entscheidung über die Straftat oder Ordnungswidrigkeit gebunden (§ 2a Abs. 2 Satz 2 StVG). Die Probezeit verlängert sich um zwei Jahre (§ 2a Abs. 2a StVG). Nach § 34 Abs. 2 FeV erfolgt die Anordnung der Teilnahme an einem Aufbauseminar gemäß § 2a Abs. 2 StVG (§ 35 FeV) schriftlich unter Angabe der Verkehrszuwiderhandlungen, die zu der Anordnung geführt haben; dabei ist eine angemessene Frist zu setzen. Die schriftliche Anordnung ist bei der Anmeldung zu einem Aufbauseminar dem Kursleiter vorzulegen. Nach § 37 FeV ist über die Teilnahme an einem Aufbauseminar nach § 35 FeV vom Seminarleiter eine Bescheinigung zur Vorlage bei der Fahrerlaubnisbehörde auszustellen.
Diese Voraussetzungen liegen vor. Nach dem vom Kraftfahrt-Bundesamt übermittelten Auszug aus dem Fahreignungsregister hat die Antragstellerin während der Probezeit zwei Zuwiderhandlungen begangen, die rechtskräftig geahndet wurden. Hierbei handelte es sich um weniger schwerwiegende Zuwiderhandlungen nach Abschnitt B Nr. 2 der Anlage 12 zur FeV, § 34 FeV. Die rechtskräftigen Entscheidungen über die Ordnungswidrigkeiten sind auch nach § 28 Abs. 3 Nr. 3a bb StVG in das Fahreignungsregister einzutragen. Es wurde eine Geldbuße von mindestens 60,00 EUR verhängt (laut Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamts hier 85,00 und 80,00 EUR sowie Bundeseinheitlicher Tatbestandskatalog Straßenverkehrsordnungswidrigkeiten: Tatb. 112655 verbotswidriges Parken auf dem Gehweg und Behinderung anderer § 12 Abs. 4, § 1 Abs. 2, § 49 StVO; § 24 StVG; 52a.1 BKat; § 19 OWiG und Tatb. 112657 länger als 1 Stunde verbotswidriges Parken auf dem Gehweg und Behinderung anderer § 12 Abs. 4, § 1 Abs. 2, § 49 StVO; § 24 StVG; 52a.2.1 BKat; § 19 OWiG). Die Verstöße sind zudem nach Nr. 3.2.7 b der Anlage 13 zur FeV mit einem Punkt im Fahreignungs-Bewertungssystem zu bewerten.
(1) Nach § 2a Abs. 2 Satz 2 StVG ist die Fahrerlaubnisbehörde bei Maßnahmen nach den Nrn. 1 bis 3 des § 2a Abs. 2 Satz 1 StVG an die rechtskräftige Entscheidung über die Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten gebunden. Der Fahrerlaubnisbehörde ist ebenso wie dem Gericht die Nachprüfung untersagt, ob der Inhaber der Fahrerlaubnis auf Probe die Straftat oder Ordnungswidrigkeit auch tatsächlich begangen hat. Eine nochmalige Prüfung der eingetragenen Ordnungswidrigkeit erfolgt weder im behördlichen noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren. Die Maßnahmen nach § 2a Abs. 2 StVG sind ohne Rücksicht auf die konkreten Umstände der jeweiligen Zuwiderhandlung zwingend anzuordnen, diese Bindung gilt ausnahmslos. Nur diese Auslegung der Regelung wird dem Zweck des Gesetzes gerecht, die Fahrerlaubnisbehörde und die Gerichte von der Nachprüfung ordnungswidrigkeitenrechtlicher Entscheidungen zu befreien. Auch für Gerichte, die die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen der Fahrerlaubnisbehörde beurteilen, besteht damit die Bindung an die straf- bzw. ordnungswidrigkeitenrechtlichen Entscheidungen. Die frühere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 20.4.1994 – 11 C 54/92 – NJW 1995, 70 f.), wonach Verkehrsbehörden bei Anordnungen nach § 2a Abs. 2 StVG (a.F.) nicht an die darin enthaltenen Sachverhaltsfeststellungen gebunden sind, wenn gewichtige Anhaltspunkte gegen deren Richtigkeit sprechen, ist durch die Neufassung des Gesetzes überholt (VG Würzburg, B.v. 28.4.2020 – W 6 S 20.510 – juris).
Offengelassen wurde von der Rechtsprechung bislang zwar, ob aus verfassungsrechtlichen Gründen eine Abweichung von § 2a Abs. 2 Satz 2 StVG geboten ist, wenn die zugrunde liegende Entscheidung inhaltlich evident unrichtig ist (Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Auflage 2019, § 2a StVG Rn. 30). Eine solche evidente Unrichtigkeit oder verfassungsrechtliche Bedenken liegen aber nach Auffassung der Kammer trotz der aktuellen Diskussion, die in Zusammenhang mit der Vierundfünfzigsten Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 20.4.2020 (BGBl. I 2020, 814) entstanden ist (Einführung von Fahrverboten bei Geschwindigkeitsüberschreitungen von innerorts 21 km/h, außerhalb geschlossener Ortschaften von 26 km/h / Ergänzung der Bußgeldkatalog-Verordnung ohne Angabe der Ermächtigungsgrundlage (§ 26 a Abs. 1 Nr. 3 StVG)) nicht vor. Dies bedeutet, dass bei der Antragstellerin von einer Bewertung der Verstöße mit jeweils einem Punkt nach Nr. 3.2.7 b der Anlage 13 zur FeV für Verstöße nach Nummer 52a.1 und 52a.2.1 der Anlage zur Bußgeldkatalog-Verordnung (BKat) auszugehen ist, obwohl die Verstöße erst in der ab dem 28. April 2020 geltenden Fassung so zu bewerten waren. Die Kammer hält die Verordnung nicht für insgesamt nichtig. Prof. Dr. … führt hierzu in der NVwZ 2020, 1326 (beck-online) folgendes aus:
„Die vom BVerfG in der zitierten Entscheidung erklärte Nichtigkeit einer gesamten Rechtsverordnung kommt nur in Betracht, wenn die Rechtsverordnung auf nur einer Verordnungsermächtigung beruht. Lassen sich dagegen einzelne Bestimmungen einer Verordnung spezifischen Ermächtigungsgrundlagen zuordnen, trifft die Nichtigkeitsfolge nach den Grundsätzen der Teilnichtigkeit nur diese Bestimmungen. Da durch Art. 3 lfd. Nr. 88 nur in den Abschnitten a und b dd neue Fahrverbote eingeführt worden sind und in der Einleitungsformel die hierfür einschlägige Ermächtigungsgrundlage des § 26 a I Nr. 3 StVG nicht zitiert wird, sind diese Bestimmungen der Verordnung nichtig.

Da es sich bei der Ergänzung der Bußgeldkatalog-Verordnung ohne Angabe der Ermächtigungsgrundlage (§ 26 a I Nr. 3 StVG) um einen Verstoß gegen Art. 80 I 3 GG handelt, stellt sich die Frage nach den Rechtsfolgen dieses Verfassungsverstoßes. Wenn Betroffene von Fahrverboten allerdings meinen, diese seien nunmehr gegenstandslos, und Autofahrer in der Erwartung, Fahrverbote könnten nicht mehr erteilt werden, die Geschwindigkeitsbegrenzungen überschreiten, hätten sie sich zu früh gefreut. Zu unterscheiden ist freilich zwischen Fahrverboten, die bereits erteilt worden sind, und zukünftigen Geschwindigkeitsüberschreitungen, die zu ahnden sind. Vorweg sei angemerkt, dass die in den Bescheiden festgesetzten Bußgelder in der seit Inkrafttreten der Änderungsverordnung festgesetzten Höhe unberührt bleiben, denn die für deren Regelsätze maßgebende Verordnungsermächtigung (§ 26 a I Nr. 2 StVG) ist in der Änderungsverordnung zitiert worden. …Zwar gibt es Konstellationen, bei denen die Nichtigkeit eines ganzen Gesetzes zur Folge hat, dass ein durch dieses aufgehobene Gesetz erneut in Kraft tritt und damit die gesetzgeberischen Bemühungen diskreditiert. Hiervon kann indes bei der Änderungsverordnung keine Rede sein, weil diese in vollem Umfang mit Ausnahme der nichtigen Bestimmungen über das Fahrverbot – und also auch hinsichtlich der erhöhten Regelsätze für Bußgelder – anzuwenden ist. Gegen eine solche Verfahrensweise kann auch nicht eingewandt werden, dass § 25 StVG seinem Wortlaut nach einen erheblichen Ermessensspielraum einräumt, der erst durch die Bußgeldkatalog-Verordnung aus Gründen bundesweiter Gleichbehandlung eingeschränkt wird. Die Ermessensbindung durch die Verordnung bleibt vielmehr unverändert erhalten, nur müssen die unter § 26 a I Nr. 3 StVG fallenden – und deshalb nichtigen – Bestimmungen gewissermaßen „weggedacht“ werden. …Sofern ein Wiederaufnahmeverfahren nach § 85 OWiG zulässig wäre, würde es sich nach den hier entwickelten Grundsätzen richten (müssen). Die Rechtslage wäre also nach dem 28.4.2020 – dem Tag des Inkrafttretens der Änderungsverordnung – so zu beurteilen, als seien die in der Tabelle 1 des Anhangs zur Bußgeldkatalog-Verordnung eingefügten – zusätzlichen – Fahrverbote nicht erfolgt. Die in den entsprechenden Bescheiden festgesetzten Bußgelder würden in ihrer Höhe unverändert bleiben.“
Hinzu kommt, dass eine Abweichung von der Bindung nach § 2a Abs. 2 Satz 2 StVG aus verfassungsrechtlichen Gründen jedenfalls dann nicht in Betracht kommt, wenn es der Betroffene trotz bestehenden Anlasses unterlassen hat, rechtzeitig Einspruch gegen den Bußgeldbescheid einzulegen (Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Auflage 2019, § 2a StVG Rn. 30 unter Verweis auf OVG Hb, NJW 20017, 1225).
(2) Die Argumentation der Antragstellerin, sie habe keinen zweiten Bußgeldbescheid erhalten, widerspricht der eindeutigen Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamts zu zwei begangenen Verstößen (einmal am 6. Mai 2020 – Tatzeit 10.21 und einmal am 5. Mai 2020 – Tatzeit 18.24, deren Entscheidungen vom 16. Juni 2020 und vom 14. Mai 2020 laut Mitteilung am 3. Juli 2020 und am 3. Juni 2020 in Rechtskraft erwuchsen). Zudem wurde der Zustellungsnachweis mit Fax vom 18. September 2020 vorgelegt: demnach wurde der Bußgeldbescheid vom 16. Juni 2020 der Antragstellerin am 18. Juni 2020 durch Einwurf in den Briefkasten zugestellt.
Demnach erweist sich die Verpflichtung der Antragstellerin zur Teilnahme an dem angeordneten Aufbauseminar als rechtmäßig, insbesondere ist die gesetzte Frist von fast 3 Monaten angemessen (vgl. VG Würzburg, B.v. 28.4.2020 – W 6 S 20.510 – juris: 2 Monate angemessen). Die Frist wurde von der Antragsgegnerin zudem im gerichtlichen Verfahren bis zum 28. Dezember 2020 verlängert.
c) Auch bei einer Gesamtabwägung der gegenseitigen Interessen kann der Antrag keinen Erfolg haben. Bei Berücksichtigung der gesetzgeberischen Entscheidung, im Interesse der Verkehrssicherheit die sofortige Vollziehbarkeit der Anordnung zur Teilnahme an einem Aufbauseminar für Fahranfänger gesetzlich anzuordnen (§ 2a Abs. 6 StVG), kann vorliegend kein überwiegendes Interesse der Antragstellerin gesehen werden, die Teilnahme an dem Aufbauseminar noch bis zum Ausgang des Klageverfahrens hinauszuschieben. Wirtschaftliche Schwierigkeiten sind im Rahmen der Fahrerlaubnisentziehung und auch der Anordnung eines Aufbauseminars grundsätzlich ohne rechtliche Bedeutung, da die Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs den wirtschaftlichen, beruflichen oder privaten Interessen des Einzelnen vorgeht. Im Interesse der Gefahrenabwehr hat der Betroffene auch die absehbaren Nachteile in Kauf zu nehmen, die insoweit entstehen.
2. Die Antragstellerin hat als unterliegende Beteiligte die Kosten des Verfahrens gemäß § 154 Abs. 1 VwGO zu tragen.
3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2, § 53 Abs. 2 und § 52 Abs. 1 GKG i. V. m. Ziffern 1.5, 46.12 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (s. NVwZ-Beilage 2013, 57).
4. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Rechtsanwaltsbeiordnung ist ebenfalls abzulehnen. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe setzt gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. §§ 114 ff. ZPO voraus, dass die betreffende Partei außerstande ist, ohne Beeinträchtigung des für sie und ihre Familie notwendigen Unterhalts die Kosten des Prozesses zu bestreiten, die beabsichtigte Rechtsverfolgung eine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Wie sich aus den vorstehenden Erwägungen ergibt, kann der Rechtsverfolgung keine hinreichende Erfolgsaussicht zugesprochen werden. Auf die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Antragstellerin kommt es damit nicht mehr an.


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