Verwaltungsrecht

Aufenthaltsrechtliche Ausweisung

Aktenzeichen  10 ZB 20.424

Datum:
24.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 24629
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 117 Abs. 5, § 124 Abs. 2 Nr. 1
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 2
EMRK Art. 8
AsylG § 42 S. 1

 

Leitsatz

Die Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zu zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen bindet gemäß § 42 S. 1 AsylG im Ausweisungsverfahren die Ausländerbehörde und das Verwaltungsgericht. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 9 K 19.714 2020-01-22 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger, ein afghanischer Staatsangehöriger, seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 29. Januar 2019 weiter, mit dem er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen, seine Abschiebung angeordnet bzw. angedroht und das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf sieben (unter der Bedingung der Straffreiheit) bzw. neun Jahre befristet wurde.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich nicht die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO; die Zulassungsgründe der besonderen rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) und der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) sind schon nicht hinreichend vorgetragen.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; BVerfG, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist nicht der Fall.
Der Kläger wurde – nach mehreren jugendrichterlichen Verurteilungen wegen Körperverletzungsdelikten – am 23. Juli 2014 wegen Diebstahl zu einer Jugendstrafe von sieben Monaten (ohne Bewährung) und zuletzt am 10. Januar 2018 wegen versuchter räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Er befindet sich seit dem 28. Dezember 2016 in Untersuchungs- und anschließend in Strafhaft; eine Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung wurde von der Strafvollstreckungskammer mit Beschluss vom 3. Juni 2018 abgelehnt.
Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung seiner Klageabweisung gemäß § 117 Abs. 5 VwGO auf die zutreffende Begründung des angefochtenen Bescheids Bezug genommen und ergänzend ausgeführt, vom Kläger gehe im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung aufgrund seines persönlichen Verhaltens weiterhin eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit aus. Ausweislich der Führungsberichte der Justizvollzugsanstalt habe er auch dort Disziplinarprobleme, was zeige, dass er auch unter den streng geordneten Verhältnissen einer Justizvollzugsanstalt nicht in der Lage sei, sich einzufügen. Wenn man berücksichtige, dass er seit seinem 15. Lebensjahr bereits zweimal zu einer Haftstrafe verurteilt worden sei, zeige dies, dass er nicht willens und nicht in der Lage sei, sein persönliches Verhalten zu kontrollieren und bestehende Regeln einzuhalten. Dass er bei seinen Verurteilungen regelmäßig Reue gezeigt und Besserung gelobt habe, sei vor dem Hintergrund wiederholter Straftaten und wiederholter Haftstrafen nicht überzeugend. Diese Einschätzung werde bestätigt durch den Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 3. Juni 2019, mit dem die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung wegen des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit sowie der disziplinarischen Verstöße in der Haft abgelehnt worden sei. Die Gewalttaten des Klägers hätten sich in der Intensität gesteigert, bis zu einem Tankstellenüberfall mit einer Machete. Der Umstand, dass der Kläger nach seiner Entlassung wieder bei seinen Eltern wohnen könnte und als Putzmann in Vollzeit eine Arbeitsstelle in Aussicht habe, ändere an dieser äußerst ungünstigen Sozialprognose ebenso wenig wie der Umstand, dass er die Straftaten in jungen Jahren begangen und mittlerweile (in der Justizvollzugsanstalt) den Qualifizierenden Mittelschulabschluss sowie einige Ausbildungskurse mit Erfolg abgeschlossen habe. Er habe bereits früher die Gelegenheit gehabt, zu arbeiten, und dies nicht getan. Er habe auch vor seiner Inhaftierung bei seinen Eltern gewohnt, ohne dass ihn dies von der Begehung erheblicher Straftaten abgehalten habe.
Hinsichtlich der zu treffenden Abwägung des Ausweisungs- und des Bleibeinteresses legt das Verwaltungsgericht dar, die Beklagte sei zutreffend davon ausgegangen, dass es sich beim Kläger um einen sogenannten faktischen Inländer handle, und habe diesen Umstand zutreffend bewertet. Sie sei zutreffend davon ausgegangen, dass der Kläger ausreichende Sprachkenntnisse für sein Herkunftsland erworben habe und allenfalls Defizite im Schriftlichen bestünden. Ferner habe sie ausführlich gewürdigt, dass Eltern und Geschwister des Klägers im Bundesgebiet leben und er hier seine gesamte Kindheit und Jugend verbracht hat. Ebenfalls zutreffend sei aber, dass er im Bundesgebiet weder berufliche noch sonstige soziale Bindungen habe; er habe weder die Schule abgeschlossen noch – mit Ausnahme von vier Wochen – jemals gearbeitet. Er sei erwachsen und auf die Unterstützung seiner Familie nicht angewiesen; dass er seinen gesamten Freundes- und Bekanntenkreis im Bundesgebiet habe, stelle vor dem Hintergrund der erheblichen Straffälligkeit des Klägers keinen Umstand dar, aufgrund dessen von einem hilfreichen sozialen Umfeld auszugehen wäre. Insgesamt sei das Gericht nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung zu dem Schluss gekommen, dass der Kläger zwar nominell faktischer Inländer sei, eine entsprechende verfestigte Integration aber nicht stattgefunden habe.
Mit dem Vorbringen in der Begründung des Zulassungsantrags kann der Kläger die Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht durchgreifend in Zweifel ziehen.
Hinsichtlich der vom Erstgericht getroffenen Gefahrenprognose wendet der Kläger ein, dieses habe sich mit den von der Beklagten vorgetragenen Argumenten nur oberflächlich und somit ungenügend auseinandergesetzt. Es habe seine strafrechtlichen Verfehlungen einseitig ausschließlich negativ gewertet und ihm unterstellt, dass angesichts der Straftat vom 20. Oktober 2016 eine Veränderungsfähigkeit nicht gegeben ist. Es habe lediglich auf die Höhe der Strafe abgestellt und nicht bewertet, dass die Tat im Versuchsstadium verblieben und keine Körperverletzung damit verbunden gewesen sei. Auch die Tatsache, dass er zum Tatzeitpunkt seit gerade einmal vier Monaten das 21. Lebensjahr vollendet gehabt habe, sei zu Unrecht nicht berücksichtigt worden, obwohl im Rahmen der gebotenen Sozialprognose die Entwicklungsfähigkeit junger Menschen einer besonderen Auseinandersetzung bedürfe. Das Gericht habe die Prüfung der Hintergründe der Straftaten unterlassen, daher sei das konkrete Gefährdungspotential des Klägers unberücksichtigt geblieben.
Es trifft nicht zu, dass das Verwaltungsgericht keine ausreichende Gefahrenprognose bezüglich des Klägers getroffen hat; es hat sich vielmehr den ausführlichen Darlegungen in dem angefochtenen Bescheid der Beklagten gemäß § 117 Abs. 5 VwGO angeschlossen und diese mit den oben dargelegten eigenen Erwägungen weiter untermauert. Die Heranziehung der Straftaten bzw. Verurteilungen des Klägers und seiner in den Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt und im Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 3. Juni 2019 dokumentierten disziplinarischen Verfehlungen zu seinen Lasten bedeutet keine einseitige (Fehl-)Gewichtung, sondern ergibt sich eben daraus, dass sich hieraus gewichtige Anhaltspunkte für eine vom Kläger auch in Zukunft ausgehende Gefahr weiterer erheblicher Straftaten entnehmen lassen. Auch hatte das Verwaltungsgericht keinen Anlass, darauf einzugehen, dass die Straftat vom 20. Oktober 2016 im Versuchsstadium steckengeblieben und nicht mit einer Körperverletzung verbunden gewesen sei, weil es gemäß dem strafrechtlichen Urteilsausspruch von einer versuchten besonders schweren räuberischen Erpressung ausgegangen ist; damit hat es die Straftat nicht überbewertet, sondern ist dem Urteil des Strafgerichts gefolgt. Auch brauchte sich das Verwaltungsgericht nicht gesondert damit auseinandersetzen, dass der Kläger zum Zeitpunkt der Tat erst 21 Jahre und 4 Monate alt war; vielmehr hat es zu Recht die gesamte Entwicklung des Klägers bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, als der Kläger 24 Jahre und 7 Monate alt war, in den Blick genommen und dessen Entwicklung insgesamt zur Grundlage seiner Gefahrenprognose gemacht. Welche weiteren „Hintergründe der Straftaten“, die das Verwaltungsgericht nicht geprüft hätte und die seine Gefahrenprognose in Frage stellen würden, noch vorliegen könnten, ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Die Beklagte weist auch zu Recht darauf hin, dass die Strafvollstreckungskammer inzwischen mit Beschluss vom 2. Juli 2020 angeordnet hat, dass nach der Entlassung des Klägers die Führungsaufsicht nicht entfällt und nicht abgekürzt wird und der Kläger während deren Dauer der Aufsicht und Leitung der Bewährungshilfe- und Führungsaufsichtsstelle unterstellt wird; in den Gründen wurde erneut festgestellt, dass dem Kläger keine positive Sozialprognose mehr gestellt werden könne.
Soweit sich der Kläger gegen die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Abwägung nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG wendet und vorträgt, das Gericht bewerte ihn zwar als faktischen Inländer, ziehe daraus allerdings keine rechtlichen Konsequenzen, trifft dieser Vorwurf nicht zur. Der Kläger räumt selbst ein, dass allein die Bewertung als „faktischer Inländer“ die Entziehung eines Aufenthaltstitels nicht verbietet. Hier ist aber im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen (vgl. BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 19). Demgemäß ist das Verwaltungsgericht unter Bezugnahme auf die ausführlichen Darlegungen in dem angefochtenen Bescheid, aber auch mit ergänzenden eigenen Erwägungen zu Recht zu dem Ergebnis gekommen, dass die Ausweisung des Klägers mangels einer ausreichenden Integration nicht unverhältnismäßig ist.
Der Kläger räumt selbst ein, dass er mangels ausreichender beruflicher Integration nur teilweise in das deutsche Rechts- und Lebenssystem eingegliedert sei; er müsse aber dennoch als in Deutschland verwurzelt betrachtet werden, weshalb eine Entwurzelung nach Afghanistan rechtsfehlerhaft sei. Er kann für diese Behauptung aber gerade keine (anderen) konkreten Lebensumstände vortragen (vgl. BVerfG, B.v. 29.1.2020 – 2 BvR 690/19 – juris Rn. 20), die seine Verwurzelung belegen könnten. Die Tatsache, dass einige Geschwister die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, mag dafür sprechen, dass auch der Kläger die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen könnte, wenn er nicht strafffällig geworden wäre, belegt aber gleichzeitig, dass dem Kläger im Gegensatz zu seinen Geschwisters eine zu einer nachhaltigen Verwurzelung im Bundesgebiet führende persönliche Integration offensichtlich gerade nicht gelungen ist.
Die Vereinbarkeit des Umstands, dass der Kläger noch nie in seinem Herkunftsland Afghanistan gewesen ist und sich dort wird zurechtfinden müssen, mit den Anforderungen des Art. 8 EMRK ist in dem angefochtenen Bescheid der Beklagten (siehe dort S. 12-14), dessen Begründung sich das Verwaltungsgericht gemäß § 117 Abs. 5 VwGO zu eigen gemacht hat, ausführlich erörtert. Es trifft also nicht zu, dass die Zumutbarkeit eines künftigen Lebens in Afghanistan nicht geprüft worden wäre. Im Übrigen sind hinsichtlich derartiger zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse sowohl die Beklagte als auch die Verwaltungsgerichte gemäß § 42 Satz 1 AsylG an die Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge oder des Verwaltungsgerichts (im asylgerichtlichen Verfahren) gebunden. Im vorliegenden Fall ist durch den Bescheid des Bundesamts vom 30. Oktober 2018 bzw. das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 16. April 2019 (M 6 K 18.34393) unanfechtbar festgestellt, dass für den Kläger keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 AufenthG bestehen.
Hinsichtlich des Einreise- und Aufenthaltsverbots bzw. dessen Befristung (§ 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 3 AufenthG) wurde im Zulassungsverfahren nichts mehr vorgetragen.
Zu den in der Begründung des Zulassungsantrags noch geltend gemachten Zulassungsgründen der besonderen rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) und der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) wurden keinerlei Ausführungen gemacht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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