Verwaltungsrecht

Aufhebung rechtswidriger Erstattungbescheide nach Überzahlung von Leistungen für Asylbewerber

Aktenzeichen  S 11 AY 12/19

Datum:
14.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 48402
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Landshut
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
AsylbLG § 3, § 7 Abs. 1 S. 3
DVAsyl § 21, § 22
SGB X § 44

 

Leitsatz

1. Eine vorgenommene Pauschalierung von Erstattungsforderungen erbrachter Leistungen nach dem AsylbLG ist mangels Rechtsgrundlage rechtswidrig. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Gebührenpflicht ist nicht gleichzusetzen mit einer Erstattung erbrachter Leistungen. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
3. Unterlässt die Behörde eine konkrete Berechnung ihrer Erstattungsforderungen, ist das Sozialgericht nicht zur Nachholung der Berechnung verpflichtet.   (Rn. 25 – 26) (redaktioneller Leitsatz)
4. Das Stützen eines Erstattungsbescheides auf einen anderen als den im Bescheid genannten Lebenssachverhalt stellt im behördlichen und gerichtlichen Aufhebungsverfahren ein unzulässiges Nachschieben von Gründen dar. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid vom 05.10.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.01.2019 wird aufgehoben.
Der Beklagte wird verurteilt, die Erstattungsbescheide vom 08.09.2017 für den Zeitraum Juni 2015 bis August 2016 aufzuheben.
II. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Gründe

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig (§§ 87, 90, 92 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).
Sie ist auch begründet.
1. Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid des Beklagten vom 05.10.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.01.2019 (§ 95 SGG), mit dem der Beklagte es abgelehnt hat, die Erstattungsbescheide vom 08.09.2017 für den Zeitraum Juni 2015 bis August 2016 aufzuheben. Hiergegen wendet sich der Kläger zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 i.V.m Abs. 4, § 56 SGG, auf die bei Anwendung des § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ein Urteil ergehen kann.
Mit dem Überprüfungsantrag kann – neben der Anfechtung – auch die Verpflichtung des Beklagten zur Rücknahme der Erstattungsbescheide begehrt werden. Denn das Klageziel kann hier im Rahmen des § 44 SGB X mit der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage allein erreicht werden.
Die genannten Bescheide erweisen sich als rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten, § 54 Abs. 2 SGG.
2. Grundlage für die Erstattungsforderung ist § 7 Abs. 1 Satz 3 AsylbLG. Danach haben Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG bei der Unterbringung in einer Einrichtung, in der Sachleistungen gewährt werden, für die erhaltenen Leistungen dem Kostenträger für sich und ihre Familienangehörigen die Kosten in entsprechender Höhe der in § 3 Abs. 2 Satz 2 genannten Leistungen sowie die Kosten der Unterkunft und Heizung zu erstatten, soweit Einkommen oder Vermögen im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG vorhanden ist; für die Kosten der Unterkunft und Heizung können die Länder Pauschalbeträge festsetzen oder die zuständige Behörde dazu ermächtigen. Im Rahmen der Erstattungsregelung des § 7 Abs. 1 Satz 3 AsylbLG sind die Vorschriften des SGB X über die Aufhebung und Erstattung von Verwaltungsakten (§§ 45 ff. SGB X) nicht entsprechend heranzuziehen. Es ist für die Erstattung nicht relevant, ob der Leistung überhaupt ein Verwaltungsakt zugrunde liegt und es spielt keine Rolle, ob die Leistungen ursprünglich rechtmäßig bzw. rechtswidrig erbracht wurden und inwieweit Vertrauensschutz bestand. Die Erstattung ist in Form eines Verwaltungsakts zu regeln (vgl. Schmidt in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 7 AsylbLG (Stand: 01.02.2020), Rn. 60).
a. Die vorgenommene Pauschalierung der Erstattungsbeträge ist rechtswidrig. Für den Zeitraum Juni 2015 bis August 2016 existiert keine gesetzliche Grundlage dafür, eine Pauschalierung vorzunehmen. Die §§ 21, 22 DVAsyl 2002 in der bis zum 31.08.2016 gültigen Fassung regeln eine Gebührenpflicht. Sie stellen keine Regelungen zur Pauschalierung von Kostenerstattungen dar. Dies folgt bereits aus dem eindeutigen Wortlaut der §§ 21, 22 DVAsyl 2002, der sich alleine auf Gebühren bezieht. Auch inhaltlich werden ausgerechnet Leistungsbezieher nach § 3 AsylbLG – wie der Kläger – von der Gebührenpflicht grundsätzlich ausgenommen. Eine Gebührenpflicht ist nicht gleichbedeutend mit einer Erstattung von erbrachten Leistungen.
Auch aus der vom Beklagten angeführten Begründung der Verordnung zur DVAsyl 2002 folgt nichts anderes. Soweit dort überhaupt eine Pauschalierung der Erstattungskosten beabsichtigt war, hat die Absicht keinen Niederschlag in der Verordnung gefunden. Überdies wird die Absicht nicht ausdrücklich genannt. Vielmehr war im Rahmen der Gebührenerhebung ein Gleichlauf mit der Kostenerstattung beabsichtigt. Es kann vorliegend auch dahinstehen, ob überhaupt eine Ermächtigungsgrundlage des Landesgesetzgebers zur Regelung der Pauschalierung durch die Regierung bestanden hätte.
b. Auch unter Berücksichtigung der DVAsyl vom 16. August 2016 kann diese ebenso nicht als Rechtsgrundlage dienen. Eine Rückwirkungsregelung für den hier maßgeblichen Zeitraum findet sich alleine in § 29a Abs. 2 DVAsyl in der Fassung vom 01.10.2019. Auch dort wird ausschließlich auf noch nicht bestandskräftige Gebührenbescheide und nicht auf eine Kosterstattung Bezug genommen. Eine Rückwirkungsregelung für Erstattungsforderungen iSd § 7 Abs. 1 Satz 3 AsylbLG existiert für den Zeitraum Juni 2015 bis August 2016 nicht.
c. Nachdem eine Pauschalierung der Kosten nach § 7 Abs. 1 S. 3 AsylbLG nach der derzeitigen Rechtslage für den Zeitraum Juni 2015 bis August 2016 für Unterbringungen in Bayern ausscheidet, ist es dem Beklagten grundsätzlich unbenommen, eine konkrete Berechnung der Kosten vorzunehmen. Das Sozialgericht war aufgrund seiner Amtsermittlungspflicht nach § 103 SGG indes nicht verpflichtet, die vom Beklagten unterlassene Ermittlung der konkret entstandenen Kosten als Voraussetzung für seinen Erstattungsbescheid nachzuholen.
Die Gerichte sind grundsätzlich verpflichtet, den angefochtenen Verwaltungsakt in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend nachzuprüfen. Der Beklagte kann grundsätzlich auch im Laufe des Gerichtsverfahrens neue Tatsachen und Rechtsgründe „nachschieben“. Hinsichtlich eines solchen Nachschiebens von Gründen gibt es jedoch bei belastenden Verwaltungsakten, die im Wege der reinen Anfechtungsklage angefochten werden, Einschränkungen, wenn die Verwaltungsakte dadurch in ihrem Wesen verändert werden und der Betroffene infolgedessen in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt werden kann. Da die Aufrechterhaltung eines Verwaltungsakts mit einer völlig neuen tatsächlichen Begründung dem Erlass eines neuen Verwaltungsakts gleichkommt, würde das Gericht andernfalls entgegen dem Grundsatz der Gewaltentrennung selbst aktiv in das Verwaltungsgeschehen eingreifen. Eine solche Änderung des „Wesens“ eines Verwaltungsakts, das in Anlehnung an den Streitgegenstand eines Gerichtsverfahrens bestimmt werden kann, ist unter anderem angenommen worden, wenn die Regelung auf einen anderen Lebenssachverhalt gestützt wird oder wenn auf eine andere Rechtsgrundlage zurückgegriffen werden soll, die einem anderen Zweck dient. Neben dieser Entwicklung der Rechtsprechung hat der Gesetzgeber einerseits in § 41 Abs. 2 SGB X die Heilungsmöglichkeiten für Verfahrens- und Formfehler der Behörde bei Erlass eines Verwaltungsakts bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines gerichtlichen Verfahrens erleichtert und andererseits die Möglichkeit der Zurückverweisung vom Gericht an die Behörde eingeführt, wenn diese Ermittlungen unterlässt (§ 131 Abs. 5 SGG), sowie dem Gericht das Recht eingeräumt, der Behörde die Kosten einer von ihr unterlassenen und vom Gericht nachgeholten Ermittlung aufzuerlegen (§ 192 Abs. 4 SGG). Hierdurch sind die Heilungs- und Nachbesserungsmöglichkeiten der Behörde in formeller Hinsicht erweitert worden, während sie auf der anderen Seite ihre Ermittlungsarbeit nicht auf die Gerichte verlagern soll, weil diese für die materielle Entscheidung von zentraler Bedeutung ist und deren Kern und damit das Wesen des erlassenden Verwaltungsakts bestimmt. Ausgehend von diesen Konkretisierungen des Gesetzgebers und der zuvor dargestellten Rechtsprechung ist in reinen Anfechtungssachen das Nachschieben eines Grundes durch die Behörde regelmäßig unzulässig, wenn dieser umfassende Ermittlungen seitens des Gerichts erfordert, die Behörde ihrerseits insofern keine Ermittlungen angestellt hat und der Verwaltungsakt hierdurch einen anderen Wesenskern erhält, weil dann der angefochtene Verwaltungsakt – bei einem entsprechenden Ergebnis der Ermittlungen – mit einer wesentlich anderen Begründung Bestand hätte (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R -, Rn. 22ff m. w. N.).
Eine erstmalige Ermittlung der konkreten Kosten wäre nicht nur eine Ergänzung des Sachverhalts, sondern die umfassende Prüfung der Voraussetzungen für den angefochtenen Erstattungsbescheid, die der Beklagte bisher nicht beabsichtigt hatte und deren Prüfung und Aufklärung in tatsächlicher Hinsicht in erster Linie von ihm durchzuführen war. Außerdem wären hierdurch die Verteidigungsmöglichkeiten des Klägers erheblich erschwert worden. Im Rahmen einer Anfechtungsklage der vorliegenden Art ist es Aufgabe des Gerichts, die Entscheidung der Verwaltungsbehörde zu überprüfen, nicht aber die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts erst zu schaffen. Die Prüfung der Rechtmäßigkeit eines Erstattungsbescheides im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X ist auf die darin genannten Aufhebungsgründe und den diesem zugrunde liegenden Lebenssachverhalt beschränkt. Es ist nicht zu klären, ob die zu überprüfende Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung auf andere als die im Bescheid genannten Aufhebungsgründe gestützt und dieser damit aufrechterhalten werden kann. Ziel des § 44 SGB X ist die Auflösung der Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung eines unrichtigen Verwaltungsaktes und der materiellen Gerechtigkeit zugunsten Letzterer. Das Stützen eines Erstattungsbescheides auf einen anderen als den im Bescheid genannten Lebenssachverhalt stellt im (behördlichen und gerichtlichen) Aufhebungsverfahren ein unzulässiges Nachschieben von Gründen dar (BSG, Urteil vom 29. September 1987 – 7 RAr 104/85 -; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 30. Januar 2012 – L 19 AS 2141/10 -). Der Erstattungsbescheid würde bei einer solchen Verfahrensweise in seinem Regelungsumfang oder seinem Wesensgehalt verändert und die Rechtsverteidigung des Betroffenen in nicht zulässiger Weise beeinträchtigt oder erschwert. Unter Berücksichtigung dieses Gesichtspunktes ist auch der Prüfungsumfang im Zugunstenverfahren auf die in einem Erstattungsbescheid genannten Gründe und dem zugrunde liegenden Lebenssachverhalt – vorliegend pauschalierte Kostenerstattung – beschränkt.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.


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