Verwaltungsrecht

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Aktenzeichen  M 11 S 20.50091

Datum:
29.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 40793
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29
AsylG § 34a
Dublin III-VO
VwGO § 80 Abs. 5

 

Leitsatz

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage (M 11 K 20.50090) gegen die jeweils unter Ziff. 3 der Bescheide der Antragsgegnerin vom 29. Januar 2020 – Az. … und … – verfügten Abschiebungsanordnungen wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Die Antragsteller wenden sich gegen ihre Überstellung nach Italien im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
Die Antragsteller zu 1) und 4) – ein afghanisches Ehepaar – und ihre beiden Söhne – der am 1. Januar 2008 geborene Antragsteller zu 2) sowie der am 1. Januar 2015 geborene Antragsteller zu 3) – reisten am 22. November 2019 in das Bundesgebiet ein und wurden am gleichen Tag als asylsuchend erfasst, wovon das Bundesamt für … (im Folgenden: Bundesamt) ebenfalls noch am gleichen Tag schriftlich Kenntnis erlangte. Am 4. Dezember 2019 stellten die Antragsteller zu 1) und 4) für sich und die Antragsteller zu 2) und 3) förmliche Asylanträge.
Eine Eurodac-Abfrage am 22. November 2019 ergab für die Antragsteller Eurodac-Treffer der „Kategorie 2“, wonach diese am 5. November 2019 in Italien registriert wurden.
Bei ihrer Befragung und Anhörung durch das Bundesamt am 4. Dezember 2019 und am 24. Januar 2020 gaben die Antragsteller zu 1) und 4) an, dass sie ihr Heimatland im Frühjahr 2019 verlassen hätten und dann über Iran, die Türkei und Italien nach Deutschland gereist seien. In Italien hätten sie sich nach ihrer Ankunft ca. 7 bis 8 Tage aufgehalten. Nach ihrer Registrierung seien sie von den italienischen Behörden in einem Hotel untergebracht und dort versorgt worden. Nach ca. 3 Tagen seien sie gefragt worden, ob sie in Italien bleiben und einen Asylantrag stellen wollten. Sie hätten dann gesagt, dass sie nach Deutschland weiterreisen wollten. Da den Kindern ständig übel gewesen sei, hätten sie noch 3 Tage in dem Hotel bleiben dürfen. Dann seien sie mit dem Zug nach Deutschland gereist. Weiter trugen die Antragsteller vor, dass eine Tochter in der Türkei verstorben sei. Die Antragstellerin zu 1) leide seitdem an schweren psychischen Problemen und nehme Mirtazapin ein. Ebenso leide der Antragsteller zu 2) an psychischen Problemen und verletze sich selbst. Hierzu wurden verschiedene Unterlagen, insbesondere ein ärztlicher Befundbericht vom 21. Januar 2020 betreffend die Antragstellerin zu 1) und eine fachärztliche Stellungnahme vom 23. Januar 2020 betreffend den Antragsteller zu 2) vorgelegt. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die in den Akten befindliche Anhörungsniederschriften der Antragstellerin zu 1) und des Antragstellers zu 4) Bezug genommen.
Das Bundesamt richtete am 12. Dezember 2019 ein Aufnahmegesuch an Italien, dem die italienischen Behörden mit Schreiben vom 17. Dezember 2019 unter Verweis auf Art. 13 Abs. 1 der Dublin III-VO hinsichtlich aller Antragsteller zustimmten.
Mit zwei Bescheiden vom 29. Januar 2020 – der Antragsteller zu 4) wurde isoliert verbeschieden – lehnte das Bundesamt den Asylantrag der Antragsteller als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Nr. 2) und ordnete die Abschiebung der Antragsteller nach Italien an (Nr. 3). Ferner wurde das Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz angeordnet und auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4). Auf die Begründung der Bescheide wird Bezug genommen.
Die Bescheide wurden den Antragstellern jeweils am 5. Februar 2020 zugestellt.
Am 5. Februar 2020 haben die Antragsteller zu 1) bis 3) sowie der Antragsteller zu 4) jeweils beim Verwaltungsgericht München Klage gegen die Bescheide erhoben (M 11 K 20.50090 und M 11 K 20.50092) und jeweils zugleich beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage hinsichtlich der Abschiebungsanordnung nach Italien anzuordnen.
Zur Begründung wurde auf die Angaben gegenüber dem Bundesamt Bezug genommen. Ergänzend wies die Antragstellerin zu 1) darauf hin, dass sowohl sie als auch der Antragsteller zu 2) erkrankt seien und sich derzeit in Behandlung befänden.
Mit Beschluss vom 27. Februar 2020 wurden sowohl die beiden anhängigen Klageverfahren als auch die zugehörigen Eilverfahren verbunden. Mit Beschluss vom 29. April 2020 wurde das Ruhen des Klage- und Eilverfahrens angeordnet, nachdem die Beteiligten dies übereinstimmend infolge einer behördlichen „Corona“-Aussetzung der Vollziehung beantragt hatten. Nach dem Widerruf der behördlichen Aussetzung mit Schreiben des Bundesamts vom 28. Juli 2020 wurden die Verfahren fortgesetzt.
Mit Schreiben vom 21. September 2020 begründete der Bevollmächtigte der Antragsteller Klage und Eilantrag näher. Insbesondere wurde ausgeführt, dass die Abschiebung gemäß Art. 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK und § 60 Abs. 7 AufenthG unzulässig sei, da die Antragsteller in Italien auf derart schlechte humanitäre Bedienungen treffen würden, dass die Abschiebung eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstelle. Das italienische Asylsystem weise erhebliche systemische Schwachstellen auf. Die Antragsteller würden als Familienverbund zu der besonders schutzbedürftigen Gruppe der Asylbewerber gehören und aufgrund der aktuell bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in Italien langfristig im Bereich Wohnung und Arbeitssuche sowie in allen anderen sozialen Bereichen faktisch chancenlos in ein Leben jenseits der Existenzgrenze gedrängt. Die Situation für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus habe sich in Italien nach den Wahlen im Frühjahr 2018 und insbesondere seit Inkrafttreten des sog. „Salvini-Dekrets“ im Oktober 2018 weiter verschlechtert. Zudem wurde ausgeführt, dass eine erhebliche konkrete individuelle Gefahr für Leib und Leben der Antragsteller zu 1) und 2) i.S.d. § 60 Abs. 7 AufenthG aufgrund gesundheitlicher Beschwerden vorliege. Es wurde bestritten, dass in Italien alle notwendigen Behandlungen und Medikamente für die vorgetragenen Erkrankungen verfügbar seien. Ergänzend zu den bisherigen Unterlagen wurde ein vorläufiger Arztbrief vom 7. August 2018 betreffend die Antragstellerin zu 1) vorgelegt. Weiter wurde mit Schreiben vom 16. November 2020 ein psychologischer Befundbericht betreffend die Antragstellerin zu 1) vom 30. Oktober 2020 vorgelegt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtssowie die vorgelegten Behördenakten in diesem Verfahren sowie im (verbundenen) Klageverfahren M 11 K 20.50090 verwiesen.
II.
Die zulässigen Anträge haben in der Sache Erfolg.
Entfaltet ein Rechtsbehelf wie hier von Gesetzes wegen (§ 75 Abs. 1 AsylG, § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO) keine aufschiebende Wirkung kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Das Gericht trifft hierbei eine eigene Ermessensentscheidung, bei der es abzuwägen hat zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts und dem Interesse des Betroffenen an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Maßgebliche Bedeutung kommt bei der Abwägung den Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu. Ergibt die im Rahmen des Eilverfahrens allein mögliche, aber auch ausreichende summarische Prüfung, dass die Klage voraussichtlich erfolglos bleiben wird, tritt das Interesse des Antragstellers, vom Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts zunächst verschont zu bleiben, regelmäßig zurück. Erweist sich der angefochtene Bescheid dagegen bei vorläufiger Prüfung als rechtswidrig, wird das Gericht die aufschiebende Wirkung in der Regel anordnen, da kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung eines voraussichtlich rechtswidrigen Bescheids besteht. Ist der Ausgang des Verfahrens offen, bleibt es bei der allgemeinen Interessenabwägung.
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe war den Anträgen stattzugeben, da sich die Abschiebungsanordnung in Ziff. 3 der streitgegenständlichen Bescheide bei summarischer Prüfung als voraussichtlich rechtswidrig erweist, so dass das Interesse der Antragsteller, vorläufig bis zur Entscheidung der Hauptsache im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen, das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt.
1. Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass diese durchgeführt werden kann. Dabei sind sowohl zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse als auch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollzugshindernisse zu berücksichtigen. Dies gilt auch bei nachträglich auftretenden Abschiebungshindernissen oder Duldungsgründen (vgl. bereits BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 1795/14 – juris).
Nach den Eurodac-Daten und dem Vortrag der Antragsteller ist vorliegend nach den Kriterien der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 v. 29.06.2013, S. 31) – im Folgenden: Dublin III-VO – von einer Zuständigkeit Italiens für die Prüfung der Asylanträge auszugehen. Dies ergibt sich mangels vorrangiger Zuständigkeitskriterien aus Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO, da Italien der erste Mitgliedstaat war, dessen Grenze die Antragsteller aus einem Drittstaat kommend – ohne Aufenthaltsrecht und damit illegal – überschritten haben.
Entgegen der Annahme des Bevollmächtigten der Antragsteller ist die Zuständigkeit Italiens auch nicht nach Maßgabe des Art. 13 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO entfallen, da diese Regelung dahingehend auszulegen ist, dass die Zuständigkeit dann endet, wenn vor Ablauf der Jahresfrist in keinem Mitgliedstaat ein Asylantrag gestellt wurde (vgl. OVG Lüneburg, U.v. 15.11.2016 – 8 LB 92.15 – juris Rn. 30; OVG NRW, U.v. 07.03. 2014 – 1 A 21/12.A – juris Rn. 47 m. w. N.). Nachdem der Grenzübertritt Anfang November 2019 – wohl am 4. oder 5. November 2019 – erfolgte, war die Jahresfrist selbst bei Abstellen auf den Termin der förmlichen Antragstellung am 4. Dezember 2019 nicht abgelaufen. Dass die Frist zwischenzeitlich abgelaufen ist, ist unschädlich, weil für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates nach Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO auf die Situation in dem Zeitpunkt abzustellen ist, zu dem der Asylbewerber seinen Antrag zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt.
Das Wiederaufnahmeverfahren wurde ferner korrekt durchgeführt. Insbesondere trat kein Zuständigkeitsübergang auf die Antragsgegnerin nach Maßgabe des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO ein, weil das Aufnahmegesuch fristgerecht innerhalb von zwei Monaten nach der Eurodac-Treffermeldung erfolgte. Die italienischen Behörden waren daher gem. Art. 18 Abs. 1 Buchst. a) innerhalb der offenen sechsmonatigen Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO verpflichtet, die Antragsteller aufzunehmen und haben dementsprechend auch der Überstellung der Antragsteller zugestimmt.
2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichts ist eine Überstellung an Italien gegenwärtig zudem nicht generell rechtlich unmöglich im Sinn des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO. Hiervon zu unterscheiden ist die Lage in Hinblick auf vulnerable Personen – zu der auch der vorliegende Fall einer Familie mit zwei minderjährigen Kindern gehört.
2.1 Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris Rn. 181 ff.) bzw. dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 („Jawo“) – juris Rn. 80 f.; U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. („Ibrahim u.a.“) – juris Rn. 84.; U.v. 21.12.2011 – C- 411/10, C-493/10 – juris Rn. 79 ff.) gilt die Vermutung, dass in den Mitgliedstaaten die Behandlung von Asylbewerbern mit den Erfordernissen der EU-Grundrechtscharta und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in Einklang steht. Das Prinzip des gegenseitigen Vertrauens begründet jedoch nur eine Vermutung (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 83 f.), welche durch den substantiierten Vortrag von Umständen wiederlegt werden kann, die eine besondere Schwelle der Erheblichkeit erreichen. Die Anforderungen hieran sind allerdings hoch. Die Vermutung ist insbesondere nicht schon bei einzelnen Regelverstößen widerlegt (vgl. BVerwG B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris). Um das Prinzip gegenseitigen Vertrauens entkräften zu können, muss vielmehr ernsthaft zu befürchten sein, dass dem Asylbewerber aufgrund genereller Mängel im Asylsystem des eigentlich zuständigen Mitgliedstaats mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC droht. Der maßgebliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit muss sich auf der Basis einer Gesamtwürdigung sämtlicher Umstände ergeben und darf sich nicht nur auf einzelne Mängel des Systems beziehen (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014, a.a.O. – juris Rn. 6; EuGH, U.v. 21.12.2011 – a.a.O. – juris Rn. 80; VGH BaWü, U.v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris Rn. 41).
Diese Grundsätze konkretisierend hat der EuGH in seiner „Jawo“-Entscheidung ausgeführt, dass Schwachstellen im Asylsystem nur dann als Verstoß gegen Art. 4 der EU-Grundrechtscharte bzw. Art. 3 EMRK zu werten sind, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Die hohe Schwelle der Erheblichkeit kann nach dem EuGH dann erreicht sein, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. dazu insgesamt EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 91 ff.).
2.2 Dies zugrunde gelegt ist generell davon auszugehen, dass Italien über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes, richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, welches prinzipiell funktionsfähig ist und insbesondere sicherstellt, dass rücküberstellte Asylbewerber im Normalfall nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen rechnen müssen. Die durchaus vorhandenen und keineswegs nur geringfügigen Defizite und Unzulänglichkeiten der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien stellen sich danach im Ergebnis jedenfalls für den Regelfall als nicht so gravierend dar, dass ihre Folgen für die Betroffenen beachtlich wahrscheinlich die Gefahr einer Verletzung von Art. 4 EU-Grundrechtecharta bzw. des nach Inhalt und Tragweite gleichbedeutenden Art. 3 EMRK mit sich brächten.
Das Gericht schließt sich insoweit der Bewertung des umfangreichen aktuellen Erkenntnismaterials in der ganz überwiegenden verwaltungsgerichtlichen und auch obergerichtlichen Rechtsprechung an, die auch vor dem Hintergrund der am 4. Dezember 2018 in Kraft getretenen gesetzlichen Änderungen bezüglich Aufnahmebedingungen und Unterbringung durch das „Decreto Legge No. 113 vom 4. Oktober 2018“ über Sicherheit und Migration (sog. „Salvini-Dekret“), nicht vom Vorliegen systemischer Schwachstellen im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO ausgeht (vgl. ausführlich etwa VGH BaWü, U.v. 29.7.2019 – A 4 S 749/19; OVG Lüneburg, B.v. 21.12.2018, 28.5.2018 und 4.4.2018 – 10 LB 201/18, 10 LB 202/18 und 10 LB 96/17; OVG NRW, B.v. 7.1.2019 – 13 A 888/18.A; NdsOVG, B.v. 6.6.2018 – 10 LB 167/18 – juris Rn. 32, bestätigt von BVerwG, B.v. 12.9.2018 – 1 B 50/18, 1 PKH 39/18 – juris; VG München, U.v. 28.10.2020 – M 19 K 19.51141 – u.v.; VG Karlsruhe, U.v. 14.9.2020 – A 9 K 3639/18 -juris; VG Würzburg, U.v. 3.4.2020 – W 10 K 19.30677 – juris Rn. 36ff.; VG Augsburg, U.v. 9.7.2020 – Au 9 K 20.30303 – juris Rn. 44; VG Cottbus, U.v. 26.8.2020 – 5 K 1123/19.A – juris Rn. 17 ff.; VG Freiburg, U.v.19.8.2020 – A 10 K 3159/18 – juris Rn. 42 ff.). Die 19. Kammer des Verwaltungsgerichts München hat in einer aktuellen Entscheidung vom 28. Oktober 2020 (M 19 K 19.51141) insoweit zutreffend ausgeführt:
„Die mit dem Salvini-Dekret einhergehende Umstrukturierung führt nicht per se zu einem Mangel an Unterbringungsplätzen. Insgesamt ist davon auszugehen, dass Dublin-Rückkehrer in der Lage sein werden, sich den – zwar im Vergleich zu Deutschland schwierigeren – Bedingungen zu stellen und durch ein gewisses Maß an Eigeninitiative diese auch zu bewältigen. So wurden Ende 2018 zwar in gewissen Bereichen (Streichung der Integrationsmaßnahmen; psychologische Betreuung nur noch in Hotspots und Schubhaftzentren) Einsparungen vorgenommen. Doch auch nach dem Salvini-Dekret erhalten Flüchtlinge während des Asylverfahrens weiterhin Leistungen für die Befriedigung von Grundbedürfnissen, insbesondere Nahrungsmittel, Hygieneartikel und Kleidung. Streichungen oder Kürzungen sind insoweit nicht vorgesehen (Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Italien, Gesamtaktualisierung 9.10.2019, S. 13). Abstriche sind durch das Dekret auch nicht bezüglich medizinischer Basisleistungen und insbesondere der kostenfreien Notfallversorgung angeordnet. In den Erstaufnahmeeinrichtungen bleiben Ärzte beschäftigt, die medizinische Erstuntersuchungen und Notfallmaßnahmen vornehmen, auch um die nationalen Gesundheitsdienste zu entlasten. Zudem bleibt der Zugang zu öffentlichen Krankenhäusern gewährleistet (BFA, Italien, 9.10.2019, a.a.O., S. 19, 20; AIDA – Asylum Information Database: Association for Legal Studies on Immigration (ASGI) / European Council on Refugees and Exiles (ECRE): Country Report: Italy, Update 2019, Stand: 27.5.2020, S. 113 ff.).
Auf die noch 2018 bestehenden Defizite, wonach unangemessene und überfüllte Einrichtungen in Rom und anderen Hauptstädten und limitierter Zugang zu Gesundheitsvorsorge, Rechtsberatung, Grundbildung und anderen öffentlichen Diensten zu verzeichnen waren (US Departement of State, Country Report on Human Rights Practices 2017 – Italy vom 20.4.2018, https://www.ecoi.net/en/document/1430262.html), wirken sich zumindest die seitdem stetig abnehmenden Anlandungszahlen positiv aus. Die Neuankünfte 2018 betrugen nur ca. ein Viertel der Neueinkünfte des Zeitraums im Vorjahr (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Aktuelle Situation für Asylsuchende in Italien, 8.5.2019, S. 12). Hinsichtlich der insgesamt von Italien untergebrachten Migranten sind sinkende Zahlen zu verzeichnen, waren es 2018 noch 182.537, waren es 2019 nur noch 131.067 und 2020 sank die Zahl auf 90.198 (BAMF, Bericht zur Aufnahmesituation von Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Dublin-Überstellung in Italien, 2.4.2020, S. 7; VG Karlsruhe, U.v. 14.9.2020 – A 9 K 3639/18 – Rn. 57). Angesichts fortbestehender Rücküberstellungen, einem Rückstau anhängiger Verfahren und der Schließung von Aufnahmezentren bleibt der Druck auf das italienische Asylsystem dennoch bestehen (SFH, Aktuelle Situation für Asylsuchende in Italien, 8.5.2019, S. 12).
Die defizitären Umstände sind jedoch nicht so gravierend, dass sie den obergerichtlich aufgestellten Kriterien folgend (vgl. Rn. 31, 32), zu einer existentiellen Not der Dublin-Rückkehrer in Italien führen würden. Weder kann aus den dargelegten Mängeln eine Gleichgültigkeit der italienischen Behörden entnommen werden, noch eine zu befürchtende Verelendung der Dublin-Rückkehrer.“
2.3 Demgegenüber sind an die Unterbringung und Behandlung vulnerabler Personen – zu denen Familien mit minderjährigen Kindern zählen – besondere Anforderungen zu stellen, von deren zweifelsfreien Einhaltung durch Italien nach den derzeit verfügbaren Erkenntnismitteln nur bei Vorliegen einer individuellen Zusicherung Italiens ausgegangen werden kann (vgl. VG Regensburg, U.v. 29.5.2020 – RN 7 K 17.51851 – n.v. S. 7, 12, bestätigt von BayVGH, B.v. 9.9.2020 – 9 ZB 20.50011 – juris, Rn. 6 ff.; in Folge ebenso BayVGH, B.v. 19.10.2020 – 13a ZB 18.30891 – juris Rn. 4f.).
Auch insoweit wird auf die Ausführungen der 19. Kammer des VG Münchens in der Entscheidung vom 28. Oktober 2020 (a.a.O.) verwiesen:
„Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 4. November 2014 im Fall einer Familie mit minderjährigen Kindern entschieden, dass die Schweizer Behörden die Abschiebung der Familie nach Italien nicht vornehmen dürfen, ohne vorher individuelle Garantien von den italienischen Behörden erhalten zu haben, dass die Antragsteller in Italien in einer dem Alter der Kinder adäquaten Art und Weise behandelt werden und die Familie zusammenbleiben darf (EGMR, U.v. 4.11.2014 – Tarakhel ./. Schweiz, Nr. 29217/12 – NVwZ 2015, 127, Rn. 114 ff.). Die allgemeine Situation der Asylbewerber in Italien war zwar nicht mit der Griechenlands vergleichbar und hatte nicht jegliches Überstellen von Asylbewerbern nach Italien verhindert (vgl. EGMR, U.v. 4.11.2014, a.a.O. Rn. 114 ff.). Es konnte aber nicht ausgeschlossen werden, dass eine erhebliche Anzahl von Asylbewerbern keine Unterkunft findet oder in überbelegten Einrichtungen auf engstem Raum oder in gesundheitsschädlichen oder gewalttätigen Verhältnissen untergebracht war. Um sicherstellen zu können, dass die Aufnahmebedingungen an die Bedürfnisse von besonders schutzbedürftigen Personen angepasst sind, mussten vor deren Abschiebung die vorgenannten individuellen Garantien eingeholt wer-den, (vgl. EGMR, U.v. 4.11.2014, a.a.O. Rn. 120, 122).
Auch der Europäische Gerichtshof (EuGH), der mit seinen Urteilen vom März 2019 (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – Rs. „Ibrahim u.a.“, juris Rn. 90 f.; U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – Rs. „Jawo“, juris Rn. 92 ff.) die Maßstäbe für Rückführungen im Dublinraum präzisierte und tendenziell eher verschärfte (vgl. Rn. 34, 35), erkennt das Erfordernis einer Differenzierung zwischen gesunden und arbeitsfähigen Flüchtlingen einerseits und Antragstellern mit besonderer Verletzbarkeit andererseits an (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a – Rs. „Ibrahim u.a.“, juris Rn. 93).
In gleicher Weise forderte auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, B.v. 31.7.2018 – 2 BvR 714/18 – juris Rn. 19 f.; B.v. 8.5.2017 – 2 BvR 157/17 – juris Rn. 16; B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 939/14 – juris Rn. 16), dass jedenfalls bei der Abschiebung von Familien mit Neugeborenen (vgl. Art. 16 Abs. 1 der Dublin-III-VO) und Kleinstkindern bis zum Alter von drei Jahren in Abstimmung mit den Behörden des Zielstaats sicherzustellen ist, dass die Familie bei der Übergabe an diese eine gesicherte Unterkunft erhält, um erhebliche konkrete Gesundheitsgefahren in dem genannten Sinne für die in besonderem Maße auf ihre Eltern angewiesenen Kinder auszuschließen.
Die italienischen Behörden reagierten auf die „Tarakhel“ Rechtsprechung des EGMR mit Erklärungen vom 2. Februar 2015, 15. April 2015 und 8. Juni 2015, in denen sie allgemein zusicherten, dass Familien mit (Klein-) Kindern zukünftig ausschließlich in den für Familien geeigneten SPRAR-Unterkünften untergebracht werden. Daraufhin relativierte der EGMR im Jahr 2016 sein Urteil insofern, als von dem Erfordernis der konkret-individuellen Zusicherung wieder abgesehen wurde (EGMR, E.v. 4.10.2016, Ali v. Switzerland and Italy, Nr. 30474/14, https://dejure.org, Rn. 34). Zu diesem Zeitpunkt sicherten die allgemeinen Zusicherungen Italiens jedoch noch eine grundsätzliche Unterbringung von Familien mit (Klein-) Kindern in SPRAR-Unterkünften zu.
Dies änderte sich jedoch seit den Umstrukturierungen durch das Salvini-Dekret vom Oktober 2018 in entscheidungserheblicher Weise, die die vorliegend getroffene Maßgabe-Entscheidung erforderlich macht. Das neue Unterbringungssystem Italiens differenziert nun zwischen einer Erstaufnahme („prima accoglienza“) und einer sekundären Versorgungsschiene („Sistema di protezione per titolari di protezione internazionale e per minori stranieri non accompagnati“ – SIPROIMI). Asylsuchende – auch Dublin-Rückkehrer – werden in den Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht und verbleiben während des Asylverfahrens dort. In den SIPROIMI (bis Ende 2018 SPRAR), den Aufnahmeeinrichtungen der zweiten Ebene, werden ausschließlich unbegleitete Minderjährige sowie international Schutzberechtigte untergebracht. Unstreitig ist damit, dass die vom EGMR in Bezug genommenen besser ausgestatteten SPRAR-Unterkünfte, die jetzigen SIPROIMI, den Dublin-Rückkehrern und somit auch Familien mit (Klein-) Kindern nicht mehr zur Verfügung stehen. Davon, dass die übrigen Unterkünfte für Asylsuchende (CAS und CARA) eine kind- und familiengerechte Unterbringung gewährleisten, kann jedoch nicht ohne Weiteres ausgegangen werden.
Der allgemeinen Zusicherung der italienischen Behörden vom 8. Januar 2019 ist zunächst die Unterbringung vulnerabler Personen in den Erstaufnahmeeinrichtungen zu entnehmen. Darüber hinaus kann aus ihr nicht die hinreichende Gewissheit gewonnen werden, dass, wo und wie, die italienischen Behörden eine dem Alter und der Situation einer Familie mit Säugling angemessene Unterbringung tatsächlich ermöglichen können (vgl. BVerfG, B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 23). Denn den durch den EGMR aufgestellten Anforderungen an die Unterbringungsgarantien bezüglich Familien und schwer erkrankten Asylsuchenden kann dieses allgemeine Schreiben vom 8. Januar 2019 hinsichtlich der dargestellten, weitreichenden Änderungen des italienischen Unterbringungssystems nicht mehr standhalten (vgl. Schweizer Bundesverwaltungsgericht, BVGer, U.v. 17.12.2019 – E-962/2019 – abrufbar unter https://www.bvger.ch/bvger/de/home/rechtsprechung/referenzurteile/asyl/dublin-italien.html; AIDA – Italy, Update 2019, Stand: 27.5.2020, a.a.O. S. 62).
Den geänderten Verhältnissen bezüglich der Unterbringung vulnerabler Personen Rechnung tragend, ist damit bei dieser Personengruppe eine hinreichend belastbare Versorgungszusicherung zu fordern (vgl. BVerfG, B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 23 f.; VGH Bad.-Würt., U.v. 29.7.2019 – A 4 S 749/19 – juris Rn. 41; BayVGH, B.v. 5.11.2019 – 7 AS 19.50020 – juris Rn. 17 f.). Dieser obergerichtlichen Rechtsprechung folgend, geht das Gericht daher derzeit davon aus, dass für den Kläger als besonders schutzbedürftige Person eine Verletzung von Art. 3 EMRK bei der Rückführung nach Italien nur dann ausgeschlossen ist, wenn zuvor entsprechende individuelle Garantien eingeholt werden, dass eine angemessene Unterbringung und Versorgung und gegebenenfalls Gesundheitsversorgung sichergestellt sind.
Die in den zuletzt verfügbaren Erkenntnismitteln geäußerten Bedenken, dass nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden kann, dass selbst vulnerable Personen sofort nach ihrer Ankunft in Italien Zugang zu einer angemessenen Unterkunft haben werden (SFH Januar 2020, a.a.O. S. 16, 102; Italy, Update 2019, Stand: 27.5.2020, S. 61), können auch weder durch den Bericht des Bundesamts vom April 2020 (BAMF, Bericht zur Aufnahmesituation von Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Dublin-Überstellung in Italien, 2.4.2020) noch durch die Erläuterungen des Bundesamts in der mündlichen Verhandlung ausgeräumt werden.“
2.4 In Anlehnung an die Tarakhel-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) besteht damit ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis, weil es an einer konkret-individuellen Zusicherung Italiens dahingehend fehlt, dass die Familie bei ihrer Ankunft in Italien in Einrichtungen und unter Bedingungen aufgenommen wird, die dem Alter der Kinder angemessen sind.
Dem Erfordernis einer konkret-individuellen Zusicherung Italiens steht dabei nicht entgegen, dass es sich vorliegend um zwei dem Kleinkind-Alter bereits entwachsene Kinder im Alter von fast 9 und 13 Jahren handelt.
Der Tarakhel-Entscheidung des EGMR vom 4. November 2014 (a.a.O.) lässt sich keine Unterscheidung innerhalb der Gruppe der „minderjährigen Kinder“ nach „Kleinkindern“, „Kleinstkindern“ oder „Säuglingen/ Neugeborenen“ entnehmen (so bereits: VG München, B.v. 28.3.2018 – M 3 S 18.50081). Die Tarakhel-Entscheidung betraf ein Elternpaar mit sechs Kindern, die zwischen 1999 und 2012 geboren wurden und im Entscheidungszeitpunkt somit zwischen 2 und 15 Jahre alt gewesen sein dürften. In dem Urteil hat der EGMR betont, dass „Minderjährige“ bzw. „Kinder“ besondere Bedürfnisse haben und extrem verwundbar sind (Rn. 99, 119). Dies gelte auch wenn Kinder als Asylbewerber von ihren Eltern begleitet würden. Die Aufnahmebedingungen für „minderjährige Asylbewerber“ müssten also an ihr Alter angepasst sein, um sicherzustellen, dass keine Situation von Anspannung und Angst mit besonders traumatisierenden Wirkungen für die Psyche der Kinder entstehe. Andernfalls werde die Schwere erreicht, die erforderlich sei, um unter das Verbot in Art. 3 EMRK zu fallen (Rn. 119). Auch die spätere Entscheidung des EGMR vom 4. Oktober 2016 (30474/17 – „Ali vs. Switzerland and Italy“ – juris in engl. Vollversion) betraf den Fall einer alleinerziehenden Mutter mit einer im Entscheidungszeitpunkt wohl 13-jährigen Tochter und stellt auf den Begriff des „minor child“, also des „minderjährigen Kindes“ ab.
Die in der bisherigen Praxis des Bundesamts vorgenommene Differenzierung, wonach eine konkret-individuelle Zusicherung nur bei Familien mit „Kleinstkindern“ für erforderlich erachtet wurde, dürfte wohl maßgeblich auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 17. September 2014 (2 BvR 732/14 – juris) zurückzuführen sein. In dem – noch vor der Tarakhel-Entscheidung ergangenen Nichtannahmebeschluss – hat das BVerfG jedoch lediglich klargestellt, dass jedenfalls bei der Abschiebung von Familien mit Neugeborenen und Kleinstkindern bis zum Alter von 3 Jahren in Abstimmung mit den Behörden des Zielstaats sicherzustellen sei, dass die Familie bei der Übergabe an diese eine gesicherte Unterkunft erhalte, um erhebliche konkrete Gesundheitsgefahren in dem genannten Sinne für diese in besonderem Maße auf ihre Eltern angewiesen Kinder auszuschließen. In einem Kammerbeschluss vom 29. August 2017 (2 BvR 863/17 – juris) hat das BVerfG im Falle der Dublin-Überstellung einer alleinerziehenden Mutter mit vier minderjährigen Kindern zwischen 4 und 16 Jahren angemahnt, dass den Belangen von Familien mit Kindern besonders Rechnung getragen werden müsse (juris Rn. 16 f.) und die Grundsätze der Tarakhel-Entscheidung in der Konstellation einer allein erziehenden Mutter von vier Kindern „erst recht“ zu beachten seien. Soweit das BVerfG in einem neueren Kammerbeschluss vom 10. Oktober 2019 (2 BvR 1380/19 – juris) das Erfordernis einer konkret-individuelle Zusicherungen bei der Überstellung von Asylsuchenden mit „(Klein-)Kindern“ nach Italien bejaht, betraf die Entscheidung den Fall einer Mutter mit einem knapp 6 Monate alten Säugling. Auch durch den Verweis auf den früheren Beschluss vom 17. September 2014 (2 BvR 732/14 – juris) wird deutlich, dass das BVerfG das Erfordernis konkret-individueller Zusicherungen nicht auf Kleinkinder beschränken wollte, sondern in diesen Fällen eine entsprechende Zusicherung jedenfalls für erforderlich hält.
Vor diesem Hintergrund dürfte generell eine dem jeweiligen Alter eines minderjährigen Kindes entsprechende Unterbringung mit einer entsprechenden konkret-individuellen Zusicherung der italienischen Behörden zu fordern sein. Soweit entsprechende Erkenntnisse und Zusicherungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht vorliegen und nicht eingeholt werden können, ist es zur Sicherung effektiven Rechtsschutzes geboten, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen (BVerfG, B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 16).
Der Überstellung stehen damit rechtliche Gründe entgegen, ohne dass es noch entscheidungserheblich auf die vorgetragenen Erkrankungen der Antragstellerin zu 1) und des Antragstellers zu 2) ankäme.
Den Anträgen ist mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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