Verwaltungsrecht

Ausweisung, assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht, illegaler Handel mit Betäubungsmitteln, Wiederholungsgefahr

Aktenzeichen  M 24 K 20.3269

Datum:
5.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 10786
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53 Abs. 1, 2 und 3
ARB 1/80 Art. 7 S. 1
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

Tenor

I.Die Klage wird abgewiesen.
II.Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
III.Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.  

Gründe

Die Klage bleibt ohne Erfolg.
Soweit der Kläger die Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung eines Aufenthaltstitels begehrt, ist die Klage unzulässig, da es am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis fehlt. Ein vorheriger Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels wurde bei der Beklagten nicht gestellt. Der Kläger war bis zum Erlass des Ausweisungsbescheids Inhaber einer unbefristeten Niedererlassungserlaubnis. Wird der Ausweisungsbescheid aufgehoben, weil er sich als rechtswidrig erweist, wird die Niederlassungserlaubnis des Klägers nicht zum Erlöschen gebracht bzw. lebt ohne Weiteres wieder auf (vgl. auch § 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Es ist daher auch nicht erkennbar, inwiefern der zweite Hauptantrag die Rechtsstellung des Klägers verbessern könnte.
Im Übrigen ist die Klage zulässig, aber unbegründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 19. Juni 2020 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 15. September 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger daher nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf eine kürzere Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots oder auf die Verpflichtung der Beklagten, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut hierüber zu entscheiden (§ 113 Abs. 5, Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der angefochtenen Ausweisung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (stRspr., vgl. z.B. BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 -juris Rn. 11; BayVGH, U.v. 27.10.2017 – 10 B 16.1252-juris Rn. 25). Nach der gegenwärtigen Sach- und Rechtslage erweist sich die Ausweisung gemessen an ihren rechtlichen Grundlagen (§ 53 Abs. 1, 2 und 3 AufenthG) als rechtmäßig. Das persönliche Verhalten des Klägers stellt auch gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (1.1.). Die Ausweisung ist auch unter Berücksichtigung der Interessen des Klägers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet (1.2.) für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich und verhältnismäßig (1.3.).
1.1. Die Ausweisung ist an den gegenüber dem Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG erhöhten Ausweisungsvoraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG zu messen, weil der Kläger als Familienangehöriger seines dem regulären Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland angehörenden (türkischen) Vaters ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht gemäß Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erworben hat.
1.1.1. Die Annahme der Beklagten, das persönliche Verhalten des Klägers, das seiner Verurteilung durch das Amtsgericht München vom 15. Juli 2019 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten wegen vorsätzlichen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in zwei sachlich zusammentreffenden Fällen in Tateinheit mit einem Fall von Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in einem Fall mit Besitz von Betäubungsmitteln in Tatmehrheit mit gewerbsmäßigem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in Tatmehrheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln zugrunde lag, stelle unter Berücksichtigung der zahlreichen strafrechtlichen Vorverurteilungen des Klägers eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre, ist rechtlich nicht zu beanstanden. Die Beklagte ist in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung, u.a. des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (vgl. BayVGH, B.v. 7.3.2019 – 10 ZB 18.2272 – juris Rn. 7; B.v. 10.4.2019 – 19 ZB 17.1535 – juris Rn. 11 jew. m.w.N.), zu Recht davon ausgegangen, dass die Gefahren, die vom illegalen Handel des Klägers mit Betäubungsmitteln ausgehen, schwerwiegend sind und ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren.
Mit dieser Verurteilung hat der Kläger ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse geschaffen. Nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG wiegt das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG u. a. dann besonders schwer, wenn der Ausländer wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist. Dies ist beim Kläger der Fall.
1.1.2. Das Gericht ist aufgrund des Verhaltens des Klägers in der Vergangenheit und seiner derzeitigen Lebenssituation, wie sie sich aus den Akten und dem Vortrag der Beteiligten ergeben, davon überzeugt (§ 108 Abs. 1 VwGO), dass diese Gefahr vom Kläger auch gegenwärtig noch ausgeht.
Die Beurteilung hat anhand einer eigenständigen tatrichterlichen Prognose unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls zu erfolgen (BVerwG, U.v. 13.12.2012 – 1 C 20.11 -, juris Rn. 23). Zu den relevanten Umständen, die bei der Prognose zu berücksichtigen sind, können die Höhe der verhängten Strafe gehören, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt, eine Sozialprognose, die einer etwaigen Entscheidung über die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung zugrunde liegt, die in der Tat zum Ausdruck kommende kriminelle Energie, ob der Kläger in dasselbe soziale Umfeld, aus dem heraus er die Tat begangen hat, zurückgekehrt ist oder zurückkehren wird und welche Auswirkungen dies gegebenenfalls auf die Wahrscheinlichkeit einer Wiederholungsgefahr hat (vgl. BVerwG, U.v. 16.11.2000 – 9 C 6.00 -, juris Rn. 19). Für die im Rahmen der Prognose festzustellende Wiederholungsgefahr gilt ein mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts; an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BVerwG, U. v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 -, juris Rn. 18).
Hierbei ist zugunsten des Klägers zu berücksichtigen, dass er sich ausweislich des Führungsberichts der JVA in der Haft überwiegend gut geführt hat, dort gearbeitet und sich um einen Therapieplatz bemüht hat und weiterhin bemüht. Zudem lebt der Kläger in einer offensichtlich stabilen Beziehung mit seiner langjährigen Lebensgefährtin, die er nach eigenem Bekunden zu heiraten beabsichtigt. Schließlich war der Kläger im Zeitraum nach seiner Entlassung aus dem Maßregelvollzug im April 2014 bis Mai 2018 straffrei geblieben.
Zu Lasten des Klägers und für eine konkrete, erhebliche Wiederholungsgefahr sprechend ist aber zu sehen, dass der Kläger seit mehr als zwei Jahrzehnten straffällig ist und bei ihm eine langjährige Suchtproblematik besteht, wovon er auch selbst ausgeht. Der Kläger konsumiert seit seinem Jugendalter Alkohol und Betäubungsmittel in erheblichen Mengen und verspürt auch nach längeren Abstinenzzeiten offensichtlich immer wieder einen übermächtigen Konsumwunsch. Die begangenen Straftaten stehen ganz überwiegend im Zusammenhang mit dem Konsum von Alkohol und Betäubungsmitteln. Der Kläger hat trotz dreier im Rahmen des Maßregelvollzugs bereits erfolgreich beendeter Therapien die der Anlassverurteilung zugrundeliegenden Straftaten begangen. Derzeit befindet er sich nicht in Therapie. Selbst wenn er aber – wie von ihm ernsthaft beabsichtigt – zeitnah eine Therapie beginnt, ändert dies nichts am Bestehen der Wiederholungsgefahr. Zum einen liegt im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch nicht einmal ansatzweise eine abgeschlossene Therapie vor, die jedoch Voraussetzung für das Entfallen einer Wiederholungsgefahr wäre (vgl. BayVGH, B. v. 17.12.2015 – 10 ZB 15.1394 – juris Rn. 17; B. v. 26.11.2015 – 10 ZB 14.1800 – juris Rn. 7 m. w. N.; VG München, U.v. 21.4.2016 – M 12 K 16.649 – juris Rn. 41). Zum anderen besteht angesichts der drei bereits erfolgreich absolvierten Therapien, die – anders als die nunmehr geplante ambulante Therapie in Freiheit – unter den strengen Regeln des Maßregelvollzugs absolviert wurden, die konkrete und erhebliche Befürchtung, dass auch diese weitere Therapie keinen nachhaltigen Erfolg zeitigen, der Kläger nicht dauerhaft vom Betäubungsmittelkonsum Abstand nehmen und im Zusammenhang hiermit sodann erneut Straftaten begehen wird.
Auch die nach Angaben des Klägers bereits seit dem Jahr 2007 bestehende Beziehung zu seiner Lebensgefährtin und der Rückhalt, den er dort erfährt, konnten ihn nicht nachhaltig von der Begehung weiterer Betäubungsmitteldelikte abhalten. Auch das Landgericht München I -Strafvollstreckungskammerhat dementsprechend mit Beschluss vom 12. Februar 2020 eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung nach Verbüßung von 2/3 der verhängten Freiheitsstrafe abgelehnt. Von einem dauerhaften Einstellungswandel und einer längerfristigen Bewährung in Freiheit auch ohne den Druck und die Unterstützung der Führungsaufsicht kann demgemäß aktuell nicht ausgegangen werden (stRspr, vgl. z.B. BayVGH, U.v. 23.7.2019 – 10 B 18.2464 – juris Rn. 27). Eine nicht nachhaltig gelungene berufliche Integration (nach den Feststellungen des Strafgerichts in der Anlassverurteilung und der in der Behördenakte befindlichen Rentenversicherungsübersicht hatte der Kläger zuletzt ALG II bezogen) sowie erhebliche Schulden des Klägers erschweren eine erfolgreiche Bewährung zusätzlich.
Nach alledem bestehen gewichtige, eine erfolgreiche weitere Bewährung infrage stellende Indizien bzw. Risikofaktoren, die angesichts der schwerwiegenden Betäubungsmittelstraftaten in der Gesamtschau die Annahme einer konkreten Wiederholungsgefahr rechtfertigen.
1.2. Der konkreten, schwerwiegenden Gefahr für die Sicherheit und Ordnung, die zugleich ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse begründet, steht ein besonders schwerwiegendes Interesse des Klägers am weiteren Verbleib im Bundesgebiet nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gegenüber, um hier sein Berufs-, Privat- und Familienleben (Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 6 GG, Art. 8 EMRK) fortsetzen zu können. Der Kläger ist in der Bundesrepublik Deutschland geboren, hat fast sein ganzes Leben hier verbracht und hat dementsprechend hier seine wesentliche Prägung und Entwicklung erfahren. Seine Geschwister und deren Familien, zu denen er nach Aktenlage intensiven Kontakt pflegt, sowie seine langjährige Lebensgefährtin leben ebenfalls hier. Der Kläger ist zudem während erheblicher Zeiträume im Bundesgebiet einer Erwerbstätigkeit nachgegangen und hat auch in der Haft gearbeitet.
1.3. Auch unter Berücksichtigung des besonders schwerwiegenden Bleibeinteresses überwiegt das öffentliche Interesse an der Ausreise des Klägers und ist die Ausweisung für die Wahrung des bereits dargestellten Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich.
Dabei ist im Rahmen der Prüfung der Unerlässlichkeit zu beachten, dass die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sein müssen, wobei sämtliche konkreten Umstände, die für die Situation des Betroffenen kennzeichnend sind, zu berücksichtigen sind (vgl. BayVGH, U.v. 28.6.2016 – 10 B 13.1982 – juris Rn. 44 m.w.N.). Auch im Rahmen des § 53 Abs. 3 AufenthG ist unter Berücksichtigung des besonderen Gefährdungsmaßstabs für die darin bezeichneten Gruppen von Ausländern eine Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls nach § 53 Abs. 1 (i.V.m. Abs. 2) AufenthG durchzuführen (vgl. dazu die Gesetzesbegründung zu § 53 Abs. 3, BT-Drs. 18/4097 S. 50; BayVGH, U.v. 28.6.2016 – 10 B 13.1982 – juris Rn. 44; U.v. 8.3.2016 – 10 B 15.180 – juris Rn. 37). In die erforderliche Abwägung nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG sind sämtliche Umstände des Einzelfalls einzustellen, insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Klägers, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat. Auch die Gefahrenprognose kann im Rahmen der Gesamtabwägung unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit von Bedeutung sein. Ferner sind stets die grund- und konventionsrechtliche Stellung des Ausländers und seiner Familie sowie die sich daraus ergebenden Gewichtungen in den Blick zu nehmen (BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 -, juris Rn. 18 f). Danach besteht zwar auch für sogenannte faktische Inländer kein generelles Ausweisungsverbot. Bei der Ausweisung hier geborener beziehungsweise als Kleinkinder nach Deutschland gekommener Ausländer ist aber im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen. Dies schließt es aus, selbst bei Begehung schwerwiegender Straftaten schematisch auf ein Überwiegen des öffentlichen Ausweisungsinteresses zu schließen. Vielmehr sind der der Verurteilung zugrundeliegende konkrete Sachverhalt, die Zeitdauer seit Begehung der Tat, das Nachtatverhalten des Ausländers sowie der Verlauf der Strafhaft einschließlich etwaiger Therapien zu berücksichtigen (BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 -, juris Rn. 19; EGMR, U.v. 25.4.2017, Nr. 41697/12 , Rn. 46).
Die unter Berücksichtigung sämtlicher berührter Belange und Einzelfallumstände, insbesondere der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien, vorzunehmende Abwägung ergibt, dass das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt. Dabei waren die von Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 6 GG und Art. 8 EMRK geschützten Belange auf Achtung des Privat- und Familienlebens und der freien Entfaltung der Persönlichkeit entsprechend ihrem Gewicht und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen. Die Ausreise des Klägers ist unerlässlich, um ein Grundinteresse der Gesellschaft zu wahren. Die Ausweisung steht auch mit Art. 8 EMRK im Einklang, da sie gesetzlich vorgesehen ist (§ 53 Abs. 1 AufenthG) und einen in dieser Bestimmung aufgeführten legitimen Zweck, nämlich die Verteidigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und die Verhinderung von Straftaten, verfolgt. Die Ausweisung ist die geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahme, um den beabsichtigten Zweck durchzusetzen. Durch ein anderes, milderes Mittel kann der mit ihr verfolgte Zweck vorliegend nicht erreicht werden. Im Ergebnis ist die Ausweisung des Klägers daher verhältnismäßig und rechtmäßig und zur Wahrung des mit ihr verfolgten Interesses unerlässlich.
Hinsichtlich des Ausweisungsinteresses ist zunächst auf die Tatausführungen der Anlassverurteilung hinzuweisen. Der Kläger hat Ende Mai / Anfang Juni 2018 in dichter zeitlicher Folge mit einer erheblichen Menge auch harter Drogen gehandelt. Ins Gewicht fällt des Weiteren die enorme Anzahl der strafrechtlichen Verurteilungen, deren Summe der tatsächlich verbüßten Haft- und Unterbringungszeiten sich auf circa elf Jahre Gesamtdauer beläuft. Zu sehen ist, dass die Strafdelinquenz zwar keine Schwerkriminalität umfasst. Vorliegend sind jedoch das sich über das gesamte Jugendlichen- und Erwachsenenleben durchgängig durchziehende straffällige Leben des Klägers und dessen parallele Drogensucht als wesentliches Motiv seiner Beschaffungskriminalität ausschlaggebend. Über mehr als 25 Jahre hinweg haben den Kläger weder Geldstrafen, Jugendstrafen, Erstverbüßungen, Bewährungswiderrufe, seine mehrmaligen Inhaftierungen und die mehrmaligen Drogentherapien, noch das in der Bundesrepublik geordnet geführte Leben seiner Geschwister mit ihren Familien als Halt und Vorbild gebende Verbindung davon abgehalten, weiter straffällig zu sein. Auch die Beziehung zu seiner Lebensgefährtin vermochte den Kläger nie nachhaltig zu stabilisieren.
Hinsichtlich der Bewertung des Bleibeinteresses des Klägers war zu bedenken, dass er sich 41 Jahre und damit fast Zeit seines Lebens in Deutschland aufhält und in der Bundesrepublik den Status eines „faktischen Inländers“ genießt. Wenngleich der Kläger sein gesamtes Leben in der Bundesrepublik verbrachte, ist allerdings zu sehen, dass er während des Lebensanteils als Jugendlicher und Erwachsener, also ab Beginn der Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Lebensführung, nicht rechtstreu in der Bundesrepublik lebte. Von einer sozialen und beruflichen / wirtschaftlichen Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse kann nicht gesprochen werden. Der Kläger hat die Hauptschule bis zur 9. Klasse besucht. Einen Qualifizierenden Berufsschulabschluss oder Lehrabschlüsse von Ausbildungs- oder sonstigen Berufen kann er aber nicht vorweisen. Zwar ist der Kläger auch in Freiheit immer wieder auch für längere Zeit einer Erwerbstätigkeit nachgegangen; es ist ihm aber letztendlich nicht gelungen, sich durch eine nachhaltige, unbefristete Beschäftigung eine stabile berufliche Perspektive zu schaffen, so dass er zuletzt auf den Bezug staatlicher Transferleistungen angewiesen war. Auch jetzt nach Haftentlassung hätte er seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung zufolge noch keine konkrete berufliche Perspektive in Deutschland. Hierdurch relativieren sich auch die fehlenden wirtschaftlichen Beziehungen in der Türkei.
Der erwachsene Kläger ist kinderlos und hat keine Kernfamilie gegründet. Die Beziehung zu seinen Geschwistern und deren Familien genießt den Schutz des Art. 6 GG und des Art. 8 EMRK; ihr kann aber vor dem Hintergrund der seit langem bestehenden Volljährigkeit sowie des Umstands, dass die Beteiligten ihre Verbindung mittels Telefon, moderner Kommunikationsmittel sowie Besuchen in der Türkei aufrechterhalten können, im Konkreten Fall kein besonderes Gewicht beigemessen werden. Die Beziehung zu der Lebensgefährtin, die nach Aktenlage die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, ist ebenfalls vor dem Hintergrund des Schutzes gemäß Art. 8 EMRK, jedoch nicht vor dem Hintergrund des Art. 6 GG in die Abwägung einzustellen. Sie unterfällt nicht dem besonderen Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG, da eine unmittelbar bevorstehende Eheschließung nicht substantiiert dargetan ist (eine Anmeldung beim Standesamt wurde nicht vorgelegt; vgl. auch BayVGH, B.v. 28.11.2016 – 10 CE 16.2266 – juris Rn. 10 f). Zudem wäre das Gewicht dieser Ehe nach der ständigen Rechtsprechung des BayVGH, der das Gericht folgt, relativiert, weil die Ehe erst im Wissen um die Straftaten und die bereits erfolgte Ausweisung, somit im Wissen um eine unsichere Aufenthaltsperspektive, geschlossen würde (BayVGH, B.v. 5.11.2018 – 10 ZB 18.1710 – juris Rn. 18 m.w.N.). Dass die Lebensgefährtin nach schweren Operationen im Januar 2019 tatsächlich auf die Pflege des Klägers angewiesen ist und nicht auf familiäre Unterstützung verwiesen werden kann, wurde auch nach Abschluss des gerichtlichen Eilverfahrens nicht substantiiert dargelegt oder gar mittels ärztlicher Atteste bzw. eines Gutachtens oder Bescheids zur Zuerkennung eines Pflegegrades glaubhaft gemacht. Im Übrigen ist dies auch nicht ersichtlich, da der Kläger angesichts seiner Inhaftierung auch nach den Operationen seiner Lebensgefährtin im Zeitraum Januar 2019 bis Ende Januar 2021 nicht in der Lage war, ihr entsprechende Hilfe zu leisten. Auch die Beziehung zu seiner Lebensgefährtin kann der Kläger von der Türkei aus aufrechterhalten, auch wenn dies mit erhöhten Schwierigkeiten verbunden ist. Aus besonderen Gründen oder in Härtefällen kann auch eine Betretenserlaubnis nach § 11 Abs. 8 AufenthG beantragt werden.
Dem Kläger ist sowohl in wirtschaftlicher als auch sozialer Hinsicht eine Integration im Land seiner Staatsangehörigkeit zumutbar. Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger der zweiten Generation, der im Haushalt seiner erstzugewanderten Eltern aufgewachsen ist. Mithin ist er in einem türkischstämmigen Haushalt in der Bundesrepublik Deutschland in seiner Kinder- und Jugendzeit geprägt und sozialisiert worden. Angesichts dessen sowie aufgrund des Akteninhalts ist das Gericht auch zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger über hinreichende Kenntnisse der türkischen Sprache verfügt, wobei ihm im Übrigen ohne Weiteres zuzumuten ist, diese zu vertiefen. So wurde im Rahmen der im Zusammenhang mit der Anlassverurteilung durchgeführten strafrechtlichen Ermittlungen, i.e. der Überwachung der Telekommunikation eines Mittäters, festgestellt, dass der Kläger auf Türkisch Telefongespräche führt und Chatnachrichten in türkischer Sprache verfasst (Bl. 762 ff, 776 der Behördenakte). Vor diesem Hintergrund ist es dem Kläger zuzumuten, sich eine eigene Existenz in der Türkei aufzubauen, selbst wenn er die deutsche Sprache besser beherrscht als die türkische Sprache. Aber auch in der Türkei kommen ihm seine deutschen Sprachkenntnisse zugute, denn diese kann er im zu suchenden Arbeitsfeld nutzen und viele Türken, vornehmlich in den Metropol- und Tourismusregionen, sprechen auch deutsch. Zweifelsohne sind dem Kläger die Lebensumstände in der Bundesrepublik vertrauter; gleichwohl führte dieser Aspekt nicht dazu, dass er die hiesigen Lebensumstände so wertschätzte, dass er hier sein Leben rechtskonform führte. Zu sehen ist, dass der Kläger als 16-jähriger am 26. Februar 1988 den für Ausländer höchsten Aufenthaltsverfestigungsgrad der Niederlassungserlaubnis (seinerzeit noch unbefristete Aufenthaltserlaubnis) erhielt. Die erste Inhaftierung erfolgte im November 1989 und die nachfolgende strafrechtliche Verurteilung zu einer Jugendstrafe im Jahr 1990. Der Kläger hat die ihm ehedem offenstehende Möglichkeit des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit durch die allein von ihm selbst zu verantwortende anhaltende Straffälligkeit selbst vernichtet.
Dass der Kläger wegen der chronischen Hepatitis-B-Erkrankung derzeit der medikamentösen Behandlung bedarf, wurde nicht dargelegt. Unabhängig hiervon ist ihm eine solche aber auch in der Türkei zugänglich. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG ist es nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist.
Die Ausweisung ist nach alldem auch verhältnismäßig. Dem Kläger ist es zumutbar, sich in der Türkei aufzuhalten. Die Ausweisung ist somit auch unter Berücksichtigung des Art. 6 GG, Art. 2 GG und Art. 8 EMRK rechtmäßig.
2. Auch die hilfsweise erhobene Verpflichtungsklage bleibt in der Sache ohne Erfolg.
Die in Nr. 2 des streitgegenständlichen Bescheids enthaltene, durch Änderungsbescheid vom 15. September 2020 modifizierte und im Ermessen der Behörde stehende Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots erweist sich als rechtmäßig; der Kläger hat keinen Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut über die Befristung zu entscheiden. Die Befristung der Wirkungen der Ausweisung auf fünf Jahre bei nachgewiesener Straf-, Alkohol- und Drogenfreiheit und bei Nichterfüllung dieser Bedingung auf sieben Jahre weist keine Ermessensfehler auf.
Das im Falle einer Ausweisung gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 AufenthG zwingend zu erlassende Einreise- und Aufenthaltsverbot ist von Amts wegen zu befristen, § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG. Diese unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzende Befristung kann gemäß § 11 Abs. 2 Satz 5 AufenthG zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit einer Bedingung versehen werden, insbesondere einer nachweislichen Straf- oder Drogenfreiheit. Tritt die Bedingung bis zum Ablauf der Frist nicht ein, gilt die längere Befristung, § 11 Abs. 2 Satz 6 AufenthG.
Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist über die Länge der Frist nach Ermessen zu entscheiden. Sie darf gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 5 AufenthG fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht.
Da es sich um eine behördliche Ermessensentscheidung handelt, kann gerichtlich nach § 114 Satz 1 VwGO nur überprüft werden, ob überhaupt Ermessen ausgeübt wurde, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Gemessen an diesem Maßstab hat die Beklagte ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt und insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet.
Die Beklagte hat bei der Bestimmung der Länge der Frist das Gewicht des Ausweisungsgrundes und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck berücksichtigt. Im Rahmen einer prognostischen Einschätzung des Einzelfalls und unter Berücksichtigung höherrangigen Rechts, also verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK kam sie in nicht zu beanstandender Weise zu der in dem angegriffenen Bescheid in Gestalt des Änderungsbescheids verfügten Fristsetzung. Dabei durfte sie nach § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eine Frist von über fünf Jahren festsetzen, da der Kläger auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist und von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Die Beklagte berücksichtigte im Einzelnen, dass der Kläger schwere Straftaten begangen hat und von ihm eine massive Gefahr ausgeht. Unter Berücksichtigung dessen ist es auch in Abwägung mit dem besonders schwerwiegenden Bleibeinteresse des Klägers, insbesondere dessen Status eines faktischen Inländers, nicht zu beanstanden, dass die Beklagte im Rahmen ihres Ermessens bei nachgewiesener Straffreiheit einen Zeitraum von fünf Jahren für erforderlich hielt, um dem hohen Gefahrenpotential des Klägers hinreichend Rechnung tragen zu können. Ebenso wenig ist es zu beanstanden, dass die Beklagte im Rahmen ihres Ermessens bei Nichterfüllung der Bedingung i.S.d. § 11 Abs. 2 Satz 5 AufenthG eine Sperrfrist von sieben Jahren ab Ausreise festsetzte. Diese Fristen sind auch gemessen an den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben des Art. 8 EMRK angesichts der Bedeutung der bedrohten Rechtsgüter und der erheblichen Wiederholungsgefahr nicht zu beanstanden. Gegebenenfalls bestehende besondere Härten können durch die Ausnahmegenehmigung nach § 11 Abs. 8 AufenthG gemildert werden.
3. Auch die Androhung der Abschiebung des Klägers aus der Haft heraus gemäß § 59 Abs. 5 Satz 1 AufenthG i.V.m. § 58 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG ist rechtlich nicht zu beanstanden, hat sich aber mittlerweile infolge der Haftentlassung des Klägers erledigt. Die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung für den Fall, dass die Abschiebung während der Haft nicht durchgeführt werden kann, sind ebenfalls rechtmäßig im Sinne des § 59 AufenthG. Der Kläger ist gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig; durch die Ausweisung ist sein Aufenthaltstitel erloschen (§ 51 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG).
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff ZPO.


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