Verwaltungsrecht

Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen

Aktenzeichen  M 25 K 14.1364

Datum:
2.3.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53 Abs. 3 AufenthG
AufenthG § 53 Abs. 1 AufenthG
AufenthG § 11 AufenthG

 

Leitsatz

1. Eine nach bis zum 31. Dezember 2015 anwendbarem Recht verfügte (Ermessens-) Ausweisung wird nach Inkrafttreten der §§ 53 bis 55 AufenthaltG in ihrer Neufassung am 1. Januar 2016 nicht rechtsfehlerhaft, wenn sie den ab diesem Zeitpunkt geltenden gesetzlichen Anforderungen entspricht (vgl. BayVGH BeckRS 2016, 44267). (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Ausweisung kann ihren ordnungsrechtlichen Zweck sowohl unter spezialpräventiven als auch unter generalpräventiven Gesichtspunkten auch dann erreichen, wenn sie nicht zu einer Abschiebung des Ausländers in sein Heimatland, sondern nur zu einer Verschlechterung seiner aufenthaltsrechtlichen Position im Bundesgebiet führt. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein wichtiges Indiz für das Vorliegen einer hinreichend konkreten Wiederholungsgefahr weiterer Straftaten und somit einer gegenwärtigen schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit  iSd § 53 Abs. 3 AufenthG ist ein Beschluss der Strafvollstreckungskammer, durch welchen sie die Höchstfrist für die Führungsaufsicht angeordnet und zahlreiche Auflagen verhängt hat, da eine künftige Straffreiheit ohne diese Maßnahmen nicht zu erwarten sei. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
4. Das Verbüßen einer erstmaligen langjährigen Haftstrafe spricht nicht gegen das Vorliegen einer Wiederholungsgefahr weiterer Straftaten. (Rn. 41) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige, insbesondere fristgerecht erhobene Klage ist nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom … März 2014 in der Fassung der beiden Ergänzungen vom … März 2016 ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (vgl. BVerwG, U. v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 12) rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
1. Die Ausweisung des Klägers ist rechtmäßig, da das persönliche Verhalten des Klägers gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, sodass die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist (§ 53 Abs. 3 AufenthG) und die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Klägers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (§ 53 Abs. 1 AufenthG). Eine nach bis zum 31. Dezember 2015 anwendbarem Recht verfügte (Ermessens-)Ausweisung wird nach Inkrafttreten der §§ 53 bis 55 AufenthaltG in ihrer Neufassung am 1. Januar 2016 nicht rechtsfehlerhaft, wenn sie den ab diesem Zeitpunkt geltenden gesetzlichen Anforderungen entspricht (bei VGH, B. v. 3.3.2016 – 10 ZB 14.844).
1.1. Dem Kläger wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. Mai 2015 die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings nach § 3 AsylG zuerkannt. Er kann daher gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG nur aus spezialpräventiven Gründen ausgewiesen werden unabhängig davon, ob ihm dieser Status im Hinblick auf § 60 Abs. 8 AufenthG rechtmäßig zuerkannt wurde. Die Beklagte hat ihre Ausweisung auf spezialpräventive Gründe gestützt.
1.2. Eine Ausweisung ist auch grundsätzlich zulässig, obwohl der Kläger aufgrund der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht abgeschoben werden darf (vgl. BVerwG, U. v. 30.7.2013 – 1 C 9/12 – juris Rn. 24; BVerwG, U. v. 31.8.2004 – 1 C 25/03 – juris Rn. 20). Eine Ausweisung kann ihren ordnungsrechtlichen Zweck sowohl unter spezialpräventiven als auch unter generalpräventiven Gesichtspunkten auch dann erreichen, wenn sie nicht zu einer Abschiebung des Ausländers in sein Heimatland, sondern nur zu einer Verschlechterung seiner aufenthaltsrechtlichen Position im Bundesgebiet führt.
1.3. Das persönliche Verhalten des Klägers stellt gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
1.3.1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Dabei sind sie an die Feststellungen und Beurteilungen der Strafgerichte rechtlich nicht gebunden. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Für die Feststellung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr gilt ein differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wonach an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18). Der Rang des bedrohten Rechtsguts kann nicht außer Acht gelassen werden, denn dieser bestimmt die mögliche Schadenshöhe. Das bedeutet aber nicht, dass bei hochrangigen Rechtsgütern bereits jede auch nur entfernte Möglichkeit einer Wiederholungsgefahr genügt. An die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts dürfen keine zu geringen Anforderungen gestellt werden (BVerwG, U. v. 10.7.2012, a.a.O.).
1.3.2. Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist die Kammer zu der Überzeugung (§ 108 Abs. 1 VwGO) gelangt, dass eine hinreichend konkrete Wahrscheinlichkeit für eine erneute Verletzung des Rechtsguts der körperlichen Unversehrtheit und entsprechender schwerer Straftaten durch den Kläger vorliegt. Es besteht damit also gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und damit die Ausweisung unerlässlich macht.
1.3.2.1. Es würde eine hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellen, wenn der Kläger erneut eine Straftat begehen würde, die mit der der Ausweisung zugrunde liegenden vergleichbar ist (vgl. BayVGH, U.v. 3.2.2015 – 10 BV 13.421 – juris Rn. 57). Der Kläger hatte aus nichtigem Anlass, weil er sich aus der Gruppe, der der Geschädigte angehörte, heraus beleidigt gefühlt hatte, die körperliche Auseinandersetzung mit dem Geschädigten begonnen. Nach den Feststellungen des Landgerichtes war diese körperliche Auseinandersetzung bereits beendet, als der Kläger den Geschädigten mit einem Taschenmesser angriff; er handelte also nicht aus einer Notwehrsituation heraus. Die drei Schnittverletzungen, die der Kläger dem Geschädigten zugefügt hatte, waren nach Auffassung des Sachverständigen, der sich das Landgericht anschloss, jeweils für sich genommen bereits als abstrakt lebensgefährlich einzustufen (S. 24 ff. des Urteils). Der Kläger leugnete die Verwendung eines Taschenmessers, zeigte sich insoweit auch nicht geständig. Er war zur Tatzeit alkoholisiert, aber nach Angaben des Sachverständigen nicht in seiner Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkt, wobei eine alkoholbedingte Enthemmung nicht ausgeschlossen werden könne; auch diesen Ausführungen des Sachverständigen schloss sich das Landgericht … an (Urteil S. 29).
1.3.2.2. Ein wichtiges Indiz für das Vorliegen einer hinreichend konkreten Wiederholungsgefahr ist, dass die Strafvollstreckungskammer in ihrem Beschluss vom 8. Januar 2016 nicht nur nicht auf die Anordnung einer Führungsaufsicht verzichtet, sondern sogar die Höchstfrist für diese Führungsaufsicht angeordnet und zahlreiche Auflagen verhängt hat, nicht zuletzt auch die Durchführung eines Antigewalttrainings und Nachweise der Alkoholfreiheit. Begründet wurde diese Entscheidung damit, dass nicht zu erwarten sei, dass der Kläger auch ohne diese Maßnahme künftig straffrei leben werde. Die Strafvollstreckungskammer geht also von einer Wiederholungsgefahr aus.
1.3.2.3. Das von der Vollstreckungskammer eingeholte psychiatrische Gutachten vom … Juni 2015 steht der Annahme einer konkreten Wiederholungsgefahr nicht entgegen. Der Gutachter kommt darin unter sehr vorsichtigen Annahmen zum Ergebnis, dass es verantwortet werden könne, den Kläger unter zahlreichen Weisungen vorzeitig aus der Haft zu entlassen. Fraglich ist aber bereits, ob die vom Gutachter unterstellten Voraussetzungen für die Entlassung überhaupt so geschaffen hätten werden können, da diese u.a. unter dem Vorbehalt eines dauerhaften Aufenthaltstitels in Deutschland standen. Das Gutachten hat weiter schon deshalb nur sehr begrenzt Aussagekraft für die hier zu beantwortende Frage der konkreten Wiederholungsgefahr, da der Gutachter von unzutreffenden Angaben des Klägers ausging. So hatte dieser dem Gutachter mitgeteilt, dass er abgesehen von der abgeurteilten Tat nie gewalttätig oder in Schlägereien verwickelt gewesen sei (vgl. S. 22 des Gutachtens). Daran bestehen jedoch erhebliche Zweifel. Das Amtsgericht … stellte mit Beschluss vom … November 2013 ein Verfahren gegen den Kläger nach § 154 Abs. 2 StPO ein, dem eine Anklage wegen gefährlicher Körperverletzung und wegen Bedrohung vorangegangen war. Die Verfahrenseinstellung erfolgte nicht aus Mangel an Beweisen, sondern weil nach Angaben des Gerichts die zu erwartende Ahndung neben der rechtskräftigen Verurteilung nicht beachtlich ins Gewicht falle. Gegenstand der Anklageerhebung war ein Überfall des Klägers, seines älteren Bruders und eines Dritten auf einen Mann, wobei der Kläger den Geschädigten mit dem Fuß mehrmals in das Gesicht trat und hierbei die Tritte jeweils wie „Elfmeter-Kicks“ ausführte. Der Kläger äußerte hierzu in der mündlichen Verhandlung zwar, er selber habe seinen Bruder und den Geschädigten auseinanderhalten wollen. Diesem Vortrag schenkt das Gericht ebenso wie das Strafgericht keinen Glauben. Der Gutachter ging weiter von der Angabe des Klägers aus, dass er der Einzige in der Familie sei, der in nennenswertem Maß mit dem Gesetz in Konflikt geraten sei (vgl. S. 14 des Gutachtens). Dies ist zumindest zweifelhaft, da nach der genannten Anklageschrift vom 20. Dezember 2011 auch dem Bruder … eine massive Körperverletzungsstraftat vorgeworfen wurde.
Der Kläger zeigte damit sogar noch in seinen Äußerungen gegenüber dem Gutachter am … April 2015 und am … Juni 2015, dass er sich noch zu wenig mit seinem bisherigen Verhalten auseinandergesetzt hatte. Er leugnete gegenüber dem Gutachter seine Beteiligung an der Körperverletzungstat im Jahr 2011 (Gutachten S. 22). Zudem zeigte er auch nach Aussagen des Gutachters Tendenzen zur Verharmlosung seines Tatbeitrages hinsichtlich der abgeurteilten Tat (Gutachten S. 24).
1.3.2.4. Auch die Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 2. März 2016 zur Tat vom … Juli 2011 zeigen, dass der Kläger nach wie vor nicht die Verantwortung für sein Handeln übernehmen will. Soweit der Kläger hierzu ausgeführt hat, er habe auf den Geschädigten nicht eingeschlagen und habe nur seinen Bruder und den Geschädigten getrennt, stellt dies eine fortwährende Leugnung der Tat vom … Juli 2011 dar.
1.3.2.5. Das Verhalten des Klägers seit der abgeurteilten Tat stützt die Annahme einer fortbestehenden Wiederholungsgefahr. Zwar sind beim Kläger erfreuliche Entwicklungen festzustellen. Er hat in der Justizvollzugsanstalt eine Ausbildung im Druckergewerbe begonnen und will sich bemühen, diese fortzusetzen und zu beenden. Weiter hat der Kläger in der Justizvollzugsanstalt an einer Schuldenpräventionsmaßnahme mit fünf Gruppensitzungen und einem Anti-Aggressions-Training im Umfang von 15 Stunden teilgenommen. Der Kläger gibt weiter an, seit seiner Verhaftung keinen Alkohol getrunken zu haben und dies auch künftig nicht vorzuhaben.
Eine Bewährung der insoweit gewonnenen neuen Einsichten in Freiheit steht derzeit jedoch noch aus. Zudem war das Verhalten des Klägers in der Haft keineswegs beanstandungsfrei. Ein Strafverfahren wegen Beleidigung eines Mithäftlings im Januar 2014 wurde nicht aus Mangel an Beweisen eingestellt, sondern nach § 154 Abs. 2 StPO im Hinblick auf die abgeurteilte Straftat. Bei einem Vorfall im Juli 2015 weigerte sich der Kläger, den Speisesaal zu verlassen, obwohl ihn die Justizvollzugsbeamtin dazu aufforderte, und musste mit einer Disziplinarmaßnahme (3 Wochen Türsperre) belegt werden. Bei einem weiteren Vorfall im September 2015 leistete er den Anordnungen einer Justizvollzugsbeamtin keine Folge; in der Folge kam es zu einem Strafverfahren gegen den Kläger wegen Beleidigung, das mit einem Freispruch des Klägers endete. Nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung hatte er die Aufforderungen der Justizvollzugsbeamtin, sich umzuziehen, erst beim dritten Mal vollständig befolgt.
1.3.2.6. Die Tatsache, dass der Kläger erstmals eine langjährige Haftstrafe verbüßt hat, spricht nicht gegen das Vorliegen einer Wiederholungsgefahr. Zwar kann die erstmalige Verbüßung einer längeren Haftstrafe, insbesondere als erste massive Einwirkung auf einen jungen Menschen, unter Umständen seine Reifung fördern und die Gefahr eines neuen Straffälligwerdens mindern (st. Rspr.; vgl. BayVGH, B. v. 3.3.2016 – 10 ZB 14.844). Der Kläger hat sich aber außerhalb der Justizvollzugsanstalt noch nicht über einen längeren Zeitraum bewährt und durch gesetzeskonformes Verhalten gezeigt, dass er auch ohne den Druck des Strafvollzugs vor allem in Krisensituationen in der Lage ist, nicht erneut straffällig bzw. gewalttätig zu werden. Eine keineswegs beanstandungsfreie Führung in der Haft und die Teilnahme an zwei Kursen (Schuldenprävention, Anti-Aggressionstraining) reichen insoweit jedenfalls noch nicht.
1.3.2.7. In familiärer Hinsicht hat sich keine wesentliche Veränderung ergeben, die zum Wegfall der Wiederholungsgefahr geführt hätte.
Zwar befindet sich nach Angaben der Klägerseite nunmehr die Familie des Klägers vollständig im Bundesgebiet. Allerdings konnten ihm seine Geschwister bisher nicht den erforderlichen Halt bieten, um ihn von Straftaten abzuhalten. Zudem ist mindestens der älteste Bruder …, bei dem der Kläger seit Haftentlassung wohnt, bereits strafrechtlich in Erscheinung getreten. Die Angaben des Klägers lassen zudem den Schluss zu, er habe von seiner Familie nicht die für ein friedliches Zusammenleben erforderliche Prägung erhalten. Der Kläger gab gegenüber dem Gutachter im Hinblick auf die abgeurteilte Tat an (Gutachten S. 21), dass er unter anderen deswegen so gehandelt habe, weil er keine Ahnung von Recht und Gesetz in Deutschland gehabt habe. In seinem Land habe er mitbekommen, dass ein Mann einen anderen mit der Machete schwer verletzt habe und nach einem kurzen Verhör bei der Polizei wieder auf freien Fuß gesetzt und dann nicht weiter belangt worden sei. In der Schule habe es Banden von Jugendlichen gegeben, die oftmals durch Gewalt aufgefallen seien, ohne Konsequenzen zu erfahren (Gutachten S. 21). Der Gutachter zitiert weiter aus einem Schuldfähigkeitsgutachten, das im Strafverfahren eingeholt worden war, und demzufolge der Kläger angegeben habe, „im Irak sei es keine große Sache, wenn man einen Menschen mit einem Messer steche. Er habe nicht gewusst, dass es so schlimm sei, habe aber gewusst, nicht mit einem Messer gestochen zu haben“ (Gutachten S. 10). Nach seinen eigenen Angaben hat der Kläger damit von seiner Familie keine Prägung dahingehend erfahren, dass das Leben und die Gesundheit anderer Personen nicht verletzt werden dürfen. Es ist daher nicht davon auszugehen, dass durch das Zusammenleben mit seiner Familie die Wiederholungsgefahr ohne weiteres entfällt.
Die Beziehung des Klägers zu seiner Freundin, die ihn in der Haft etwa alle zwei Monate besucht hatte, bestand bereits vor der Straftat und hat den Kläger nicht von der Tat abhalten können; durch die Besuche ist eine Festigung in der Weise, dass nun durch diese Partnerschaft von einem Entfallen der Wiederholungsgefahr ausgegangen werden könnte, nicht eingetreten. Der Kläger hat nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung derzeit 29.000,- Euro Schulden. Er hat noch keinen Ausbildungsplatz. Da er nach eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung seine Ausbildung fortsetzen will, ist nicht davon auszugehen, dass er die ihm nach eigenen Angaben im Klageverfahren offenstehende Arbeitsstelle bei einer Gebäudereinigungsfirma annehmen will.
1.4. Auch unter Berücksichtigung der persönlichen Belange des Klägers erweist sich die angegriffene Ausweisung für die Wahrung des genannten Grundinteresses der Gesellschaft als unerlässlich. Entgegen dem klägerischen Vorbringen ist die Ausweisung des Klägers weder unter Berücksichtigung der in § 53 Abs. 2 AufenthG – allerdings nicht abschließend – aufgeführten Umstände noch mit Blick auf die Anforderungen der wertentscheidenden Grundsatznorm des Art. 6 Abs. 1 GG und des Art. 8 EMRK unverhältnismäßig. Die Behörde hat sämtliche entscheidungsrelevanten Gesichtspunkte berücksichtigt. Der Kläger ist mittlerweile 25 Jahre alt und bedarf der Pflege oder Zuwendung seiner Familie nicht. Bereits zum Zeitpunkt der Tatbegehung hielt sich der Kläger ohne Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet auf und war lediglich geduldet. Seine Prägung hat der Kläger im Heimatland erhalten; er spricht nach eigenen Angaben sowohl Kurdisch als auch Arabisch und ist mit den Verhältnissen im Heimatland vertraut. Seine Eltern und alle Geschwister leben zwar nach Angaben des Klägers derzeit im Bundesgebiet. Daraus ergibt sich für den volljährigen Kläger jedoch kein Bleiberecht. Der Kläger selbst hält sich erst seit März 2011 im Bundesgebiet auf, hat hier nur kurz einen Sprachkurs besucht und lediglich in der Haft eine Ausbildung begonnen. Von einer Verfestigung seines Aufenthaltes in der Weise, dass von einer Ausweisung abzusehen ist, kann daher nicht ausgegangen werden. Dass grundsätzlich eine Ausweisung auch dann zulässig ist, wenn die Ausreise des Betroffenen wegen der Zuerkennung eines Flüchtlingsstatus nicht durchsetzbar ist, wurde bereits oben dargestellt.
2. Auch die zuletzt von der Beklagten im Bescheid vom … März 2016 verfügte Befristung der Wirkung der Ausweisung auf 7 Jahre ab Ausreise im Falle des Nichtbekanntwerdens weiterer Ausweisungsgründe sowie der Straffreiheit und Alkoholfreiheit, andernfalls von 9 Jahren ab Ausreise ist rechtlich nicht zu beanstanden.
2.1. Über die allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzende Frist hat die Beklagte gemäß der seit 1. August 2015 verbindlichen Fassung des § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach Ermessen zu entscheiden. Sie hat dies unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu tun und darf hierbei 5 Jahre nur überschreiten, wenn der Kläger aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht; sie soll aber auch in diesen Fällen zehn Jahre nicht überschreiten. Im Rahmen dieser Ermessensentscheidung ist in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes sowie der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Hierbei bedarf es der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die sich an der Erreichung des Ausweisungzwecks orientierende Sperrfrist muss sich aber an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wert-entscheidungen und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK messen und gegebenenfalls relativieren lassen. Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und den Gerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen (BVerwG, U. v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris Rn. 42).
2.2. Gemessen an diesen Vorgaben erweist sich die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 7 bzw. 9 Jahre ab dem Zeitpunkt der Ausreise als ermessensfehlerfrei. Die Beklagte war bei der Festsetzung der Frist nicht an die Fünfjahresgrenze des § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG gebunden, weil der Kläger strafrechtlich verurteilt worden ist und seine Ausweisung darauf beruhte. Die mit einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten abgeurteilte Tat war gegen das Leben und die Gesundheit eines anderen Menschen gerichtet, also gegen ein besonders hochrangiges Rechtsgut. Es besteht gegenwärtig weiterhin eine konkrete Wiederholungsgefahr. Zum Schutz der Gesundheit anderer Personen ist derzeit nach wie vor eine lange Wiedereinreise- und Titelerteilungssperre erforderlich. Auch unter Berücksichtigung der persönlichen und familiären Interessen des volljährigen und unverheirateten Klägers, der derzeit noch keinen Arbeits- oder Ausbildungsplatz innehat, war die von der Beklagten festgesetzte Wiedereinreise- und Titelerteilungssperre erforderlich, angemessen und verhältnismäßig. Die Behörde hat diese Sperre daher ermessensfehlerfrei festgesetzt. Die von der Beklagten verfügte Bedingung, bei deren Nichteintritt eine längere Wiedereinreise- und Titelerteilungssperre gelten soll, dient der Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung und hält sich im Rahmen der Ermächtigung des § 11 Abs. 2 Satz 5 AufenthG.
2.3. Im Übrigen kann der Kläger jederzeit einen Antrag auf Verkürzung der von der Beklagten festgesetzten Frist nach § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG stellen, wenn sich die für die Festsetzung maßgeblichen Kriterien nachträglich ändern sollten.
3. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 173 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. der Zivilprozessordnung (ZPO).


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