Verwaltungsrecht

Ausweisung eines faktischen Inländers bedarf der Abwägung

Aktenzeichen  19 ZB 17.952

Datum:
10.7.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 119325
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
EMRK Art. 8
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, § 124a Abs. 4 S. 4
GG Art. 6
AufenthG § 53 Abs. 1

 

Leitsatz

1. In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist anerkannt, dass selbst schwerwiegende Beeinträchtigungen familiärer Beziehungen nicht stets das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung verdrängen. Vielmehr ist anhand der sog. “Boultif-Kriterien“ ein gerechter Ausgleich der gegenläufigen Interessen zu finden. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Stellung als “faktischer Inländer“ verhindert die Ausweisung nicht von vornherein, sondern erfordert lediglich eine Abwägung der besonderen persönlichen Umstände des Betroffenen und des Allgemeininteresses im jeweiligen Einzelfall (vgl. u.a. EGMR BeckRS 2012, 10582). (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

AN 5 K 15.2501 2015-03-16 Urt VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung, mit dem der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 9. Dezember 2015 mit der darin u.a. verfügten Ausweisung weiterverfolgt, bleibt ohne Erfolg.
Dahinstehen kann, ob der Kläger mit dem innerhalb der Zulassungsbegründungsfrist am 12. Mai 2017 eingegangenen, undatierten Schriftsatz seiner Bevollmächtigten, der zur Begründung des Antrags lediglich den Satz ausführt, dass aufgrund des sehr langen Aufenthalts des Klägers, der Tatsache, dass sein Sohn in Deutschland lebe und er im ursprünglichen Heimatland keine Bindungen habe, ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestünden, seiner Darlegungspflicht gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO genügt (1.). Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat ausschließlich unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich nicht die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (2.).
1. Nach Auffassung des Senats bestehen bereits Zweifel, ob der allein geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) dem Darlegungserfordernis nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entspricht.
Nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils darzulegen. Das Gebot der Darlegung im Sinne dieser Vorschrift erfordert eine substantiierte Auseinandersetzung mit der angegriffenen Entscheidung, durch die der Streitstoff durchdrungen und aufbereitet wird. Neben der konkreten Benennung eines Zulassungsgrundes bedarf es der näheren Erläuterung, aus welchen Gründen der geltend gemachte Zulassungsgrund vorliegen soll. Erforderlich ist daher in Bezug auf den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils, dass ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird. Eine bloße Wiederholung des erstinstanzlichen Vorbringens kann keine Auseinandersetzung mit dem Urteil darstellen und genügt daher diesen Anforderungen nicht (vgl. BayVGH, B.v. 5.9.2016 – 10 ZB 16.998 – juris; vgl. Roth in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand 4/2017, § 124a VwGO, Rn. 62-71, beck-online m.w.N.).
Zwar benennt das Zulassungsvorbringen den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils. Zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes muss sich aber die Zulassungsantragsbegründung mit dem angefochtenen Urteil konkret und fallbezogen auseinandersetzen. Der pauschale Hinweis auf den langen Aufenthalt des Klägers, seinen in Deutschland lebenden Sohn und die fehlenden Bindungen im Heimatland stellt jedoch keine substantiierte Auseinandersetzung mit der angegriffenen Entscheidung dar, sondern erschöpft sich vielmehr in der bloßen Wiederholung des bereits in erster Instanz knapp gefassten Klagevortrags, der im Urteil vom 16. März 2016 (wie auch schon im angegriffenen Bescheid vom 9.12.2015) hinreichend gewürdigt worden ist. Bloße Wiederholungen des Klagevorbringens ohne Eingehen auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung können dem Darlegungserfordernis, einer substantiierten Auseinandersetzung mit den tragenden Gründen der Entscheidung nicht genügen (vgl. BayVGH, B.v. 14.3.2017 – 9 ZB 17.93 – juris Rn. 5). Das Zulassungsvorbringen des Klägers wird den Anforderungen nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO somit wohl nicht gerecht.
2. Unbeschadet einer Nichterfüllung der Darlegungsanforderungen liegt der geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) auch nicht vor. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsverfahren ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestünden nur dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Solche schlüssigen Gegenargumente liegen bereits dann vor, wenn im Zulassungsverfahren substantiiert rechtliche oder tatsächliche Umstände aufgezeigt werden, aus denen sich die gesicherte Möglichkeit ergibt, dass die erstinstanzliche Entscheidung unrichtig ist (BVerfG, B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – NVwZ 2011, 546). Dies ist hier jedoch nicht der Fall.
Soweit der Kläger mit seinem Hinweis auf den langjährigen Aufenthalt und seinen in der Bundesrepublik lebenden Sohn sinngemäß geltend macht, seine Ausweisung sei entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts unverhältnismäßig und verletze daher Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK, zeigt er keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung auf.
Das Verwaltungsgericht ist bei der unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmenden Abwägung der gegenläufigen Interessen (§ 53 Abs. 1 und 2 AufenthG) zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt und die Ausweisung somit nicht unverhältnismäßig ist. Zutreffend ist das Verwaltungsgericht von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit der Begehung weiterer Straftaten, insbesondere von Gewaltdelikten ausgegangen, da der Kläger seit seiner Einreise fortlaufend massiv strafrechtlich in Erscheinung getreten ist. Unter Berücksichtigung der nicht erfolgreich therapierten Drogensucht (der Maßregelvollzug ist wegen Rückfallgefährdung / fehlender Aussicht auf Heilung abgebrochen worden), der Schwere der vom Kläger verübten Straftaten (Betrügereien, Diebstahl, Hehlerei und mehrfache Körperverletzungsdelikte), der Rückfallhäufigkeit und des Bewährungsversagens ist von einer weiterhin bestehenden, beachtlichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG auszugehen. Dem Kläger ist auch eine Strafrestaussetzung zur Bewährung nicht gewährt worden; im Rahmen der Strafvollstreckung ist somit davon ausgegangen worden, dass keine reale Chance einer Resozialisierung besteht. Das Verwaltungsgericht hat weder das Gewicht des im Fall des Klägers streitenden (gesetzlich typisierten) besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses (§ 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) noch das Gewicht des besonders schwerwiegenden Bleibeinteresses (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) verkannt, noch bei der umfassenden Gesamtabwägung (§ 53 Abs. 2 AufenthG) besonders schutzwürdige Bleibeinteressen im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK nicht beachtet oder fehlgewichtet. In nicht zu beanstandender Weise hat das Verwaltungsgericht festgestellt, dass eine nach Art. 6 Abs. 1 GG schützenswerte Vater-Kind-Beziehung nicht besteht. Dem tritt das Zulassungsvorbringen mit dem pauschalen Hinweis auf einen in der Bundesrepublik lebenden Sohn nicht substantiiert entgegen. In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist anerkannt, dass selbst schwerwiegende Beeinträchtigungen familiärer Beziehungen nicht stets das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung verdrängen. Vielmehr ist anhand der sog. „Boultif-Kriterien“ ein gerechter Ausgleich der gegenläufigen Interessen zu finden (vgl. z.B. EuGH, U.v. 18.10.2006 – Nr. 46410/99 juris Rn. 57 ff.) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist zu berücksichtigen, dass Art. 6 GG keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt gewährt und allein aufgrund formal-rechtlicher Bindungen ausländerrechtliche Schutzwirkungen nicht entfaltet; vielmehr sei zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für eine gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte (vgl. BVerfG, B.v. 1.12.2008 – 2 BvR 1830/08 – juris). Mit dem pauschalen Hinweis des Klägers auf die Existenz eines Sohnes in der Bundesrepublik werden weder eine gelebte Eltern-Kind-Beziehung noch die sich aus einer Trennung ergebenden Folgen substantiiert aufgezeigt. Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass in Anbetracht des bereits in der Vergangenheit bestehenden losen Kontaktes des Klägers zu seinem 10-jährigen Sohn trotz der geäußerten Absicht, den Kontakt künftig zu intensivieren, keine gelebte, schutzwürdige Eltern-Kind-Beziehung besteht. Die Aufrechterhaltung der Beziehung zum Sohn mittels Brief- und Telefonkontakten oder über neue Medien erscheint daher zumutbar.
Entgegen dem Zulassungsvorbringen hat das Verwaltungsgericht den langjährigen Aufenthalt des Klägers, der seit dem Alter von 3 Jahren in der Bundesrepublik lebt, zutreffend gewürdigt. Dahinstehen kann, ob der Kläger insoweit als „faktischer Inländer“ anzusehen ist. „Faktischer Inländer“ ist ein Ausländer, der sich lange im Bundesgebiet aufgehalten und seine wesentliche Prägung und Entwicklung hier erfahren hat (BayVGH, B.v. 13.5.2016 – 10 ZB 15.492 – juris Rn. 21). Jedoch verhindert die Stellung als „faktischer Inländer“ die Ausweisung nicht von vornherein, sondern erfordert lediglich eine Abwägung der besonderen Umstände des Betroffenen und des Allgemeininteresses im jeweiligen Einzelfall (vgl. EGMR, U.v. 13.10.2011 – Nr. 41548/06, Trabelsi – juris Rn. 53; BayVGH, B.v. 1.2.2017, a.a.O., juris Rn. 7; B.v. 26.1.2015 – 10 ZB 13.898 – juris Rn. 37). Diese Abwägung (insbesondere unter Berücksichtigung der vom Kläger ausgehenden massiven Sicherheitsgefahren und des Maßes der wirtschaftlichen und sozialen Integration des Klägers) hat das Verwaltungsgericht fehlerfrei vorgenommen. Es ist nicht zu beanstanden, dass das Verwaltungsgericht unter Berücksichtigung der Vermittlung der Kultur des Heimatlandes durch seine Eltern eine Reintegration des Klägers in das Heimatland für zumutbar erachtet hat. Mit dem pauschalen Vorbringen, im Heimatland bestünden keinerlei Bindungen, vermag der Kläger dem nicht mit Erfolg entgegen zu treten.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
Herrmann König Dr. Wendelin


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