Verwaltungsrecht

Ausweisung eines im Bundesgebiet geborenen türkischen Staatsangehörigen

Aktenzeichen  10 ZB 21.58

Datum:
31.5.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 16275
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 2
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1

 

Leitsatz

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils iSd § 124 Abs. 2 NR. 1 VwGO bestehen dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage stellt. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 12 K 20.1165 2020-07-23 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 18. Februar 2020 (in der Gestalt der Änderung vom 23. Juli 2020) weiter, mit dem er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen und ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet wurde, das unter der Bedingung der Straffreiheit auf (zuletzt) fünf Jahre, andernfalls auf sieben Jahre befristet wurde; ferner wurde seine Abschiebung in die Türkei angeordnet bzw. bei nicht fristgerechter Ausreise nach Haftentlassung angedroht.
Anlass der Ausweisung waren mehrere Verurteilungen des Klägers wegen Betrugs in einer Vielzahl von Fällen, in denen der Kläger über Internet-Plattformen Waren zum Kauf anbot, jedoch seine Leistungswilligkeit und -fähigkeit vorspiegelte. Zuletzt wurde er vom Amtsgericht München wegen Betrugs in vier Fällen, ferner wegen gefährlicher Körperverletzung und Bedrohung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt; einbezogen wurde ein Urteil des Landgerichts München I vom 20. März 2018, mit dem er wegen gewerbsmäßigem Betrugs in fünf Fällen zu zwei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Zuvor war er – unter anderem – bereits am 3. Februar 2010 wegen Betrugs in zwei Fällen zu Jugendarrest, am 13. Januar 2011 wegen acht Fällen des Betrugs in einem besonders schweren Fall zu 12 Monaten Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung und am 21. Januar 2013 wegen gewerbsmäßigen Betrugs in 21 Fällen zu zwei Jahren Freiheitsstrafe zur Bewährung verurteilt worden.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich nicht die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne dieser Bestimmung bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; BVerfG, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.
1. Der Kläger bringt zunächst vor, das Verwaltungsgericht habe seiner Entscheidung fehlerhaften Sachverhalt zugrunde gelegt bzw. Sachverhalt unberücksichtigt gelassen.
a) Das Verwaltungsgericht sei davon ausgegangen, dass er die Sprache seines Heimatlandes jedenfalls insoweit beherrsche, dass er etwaige Defizite mit zumutbarer Anstrengung ohne weiteres ausgleichen könne, so dass dem Aufbau einer Existenz in der Türkei daher auch keine unüberbrückbare sprachliche Barriere entgegenstehe; auch Sitten und Gebräuche seines Heimatlandes seien ihm aus Besuchsaufenthalten in der Türkei bekannt und ihm sicherlich auch von seinen Eltern vermittelt worden. Diese Annahmen seien aber rein spekulativ. Das Gericht habe sich insbesondere nicht damit auseinandergesetzt, dass die Eltern des Klägers bereits Anfang der 1960er Jahre nach Deutschland eingereist seien und bei seiner Geburt bereits über 20 Jahre in Deutschland gewesen seien. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass diese ihm Kultur und Sprache der Türkei vermittelt hätten und dies geeignet wäre, seine Integration in der Türkei zu gewährleisten. Weiter gehe das Gericht davon aus, dass der Kläger sich aufgrund seiner guten deutschen Sprachkenntnisse in den Tourismusgebieten der Türkei eine neue Existenz aufbauen könne. Dies sei zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung völlig abwegig. Aufgrund der Corona-Pandemie sei der Tourismus in der Türkei eingebrochen; es bestehe eine Reisewarnung des Auswärtigen Amts. Unter diese Bedingungen sei es ausgeschlossen, dass der Kläger im Tourismussektor der Türkei Fuß fassen werde.
Der Kläger wendet sich damit gegen die Erwägungen, die das Verwaltungsgericht im Rahmen der Abwägung des öffentlichen Ausweisungs- und des privaten Bleibeinteresses (§ 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG) hinsichtlich der Situation, die der Kläger voraussichtlich in seinem Herkunftsland Türkei vorfinden wird, vorgenommen hat. Diese Ausführungen sind nicht spekulativ, vielmehr handelt es sich um Bewertungen auf der Grundlage der aktenkundigen und im erstinstanzlichen Verfahren vorgetragenen Erkenntnisse. Dabei sind die Angaben des Klägers in der Zulassungsbegründung bereits teilweise falsch, denn seine Eltern sind nicht „Anfang der 1960er Jahre“ nach Deutschland gekommen. Die Beklagte weist darauf hin, dass sein 1964 geborener Vater im September 1979 und seine 1969 geborene Mutter im September 1976 erstmals nach Deutschland eingereist seien; sie konnten also im Zeitpunkt der Geburt des Klägers nicht „bereits über 20 Jahre“ in Deutschland gewesen sein. Hinsichtlich der Sprachkenntnisse hat die frühere Bevollmächtigte in dem Schriftsatz vom 26. August 2019 (S. 270 der Behördenakte) im Rahmen der Anhörung angegeben, der Kläger sei mündlich der türkischen Sprache mächtig, könne sie allerdings nur rudimentär schreiben. Angesichts dessen ist der Vortrag, es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass seine Eltern ihm Kultur und Sprache der Türkei vermittelt hätten, in seiner pauschalen Form nicht glaubhaft. Das Verwaltungsgericht ist nachvollziehbar zu der Bewertung gekommen, der Kläger könne mit einiger zumutbarer Anstrengung gegebenenfalls noch vorhandene kulturelle Hürden überwinden und sich in sein Heimatland integrieren. Soweit es dabei darauf hingewiesen hat, dass er sich aufgrund seiner deutschen Sprachkenntnisse etwa in den Tourismusgebieten eine neue Existenz aufbauen könnte, ist dies ebenfalls nicht zu beanstanden. Dabei geht es nicht um die derzeitige Situation der türkischen Tourismuswirtschaft, sondern um die Situation, der sich der Kläger voraussichtlich bei seinem Eintreffen in der Türkei gegenübersehen wird. Die Beklagte weist insoweit zu Recht darauf hin, dass der Kläger inhaftiert ist und nach derzeitigem Stand frühestens zum sog. Zweidrittelzeitpunkt (25. Juli 2023) mit seiner Entlassung rechnen könne.
b) Weiter beanstandet der Kläger, das Verwaltungsgericht habe überhaupt nicht berücksichtigt, dass er derzeit in der Haft eine Ausbildung absolviere; eine Abschiebung in die Türkei würde den Abbruch dieser Ausbildung bedeuten. Dass der Kläger eine Ausbildung absolviere, war jedoch weder im Verwaltungsverfahren noch im erstinstanzlichen Verfahren vorgetragen oder sonst erkennbar; auch in den Berichten der Justizvollzugsanstalt ist dazu nichts ausgeführt. In der Begründung des Zulassungsantrags vom 4. Februar 2021 ist lediglich von „einer Ausbildung“ ohne jegliche näheren Angaben etwa hinsichtlich Art und Dauer die Rede; auch die Beklagte erklärt, dass ihr eine laufende Ausbildung erst seit dem 3. März 2021 bekannt sei, ohne dass sie nähere Angaben dazu habe. Eine fehlerhafte Gefahrenprognose oder ein Mangel in der Abwägung ist somit nicht erkennbar.
c) Ferner bringt der Kläger vor, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht eine Wiederholungsgefahr hinsichtlich von Körperverletzungsdelikten angenommen. Bei der Körperverletzung, wegen der er am 25. September 2018 verurteilt worden sei, habe es sich aber aufgrund seiner Alkoholisierung um eine völlige Ausnahmesituation gehandelt. Es sei zwar richtig, dass er bereits früher wegen Körperverletzungsdelikten verurteilt worden sei, die letzte Verurteilung habe jedoch mehr als zwölf Jahre vor der mündlichen Verhandlung beim Verwaltungsgericht zurückgelegen. Damit habe sich das Verwaltungsgericht nicht auseinandergesetzt.
Das Verwaltungsgericht hat jedoch eine Wiederholungsgefahr nicht nur oder in erster Linie im Hinblick auf Körperverletzungsdelikte angenommen. Seine Prognose, es bestehe eine erhebliche Wahrscheinlichkeit für die „Begehung weiterer Straftaten, insbesondere im Bereich der Eigentums- und Vermögensdelikte, aber auch im Bereich der Körperverletzungsdelikte“ (UA Rn. 53, S. 27-29), hat es unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände getroffen, die es ausführlich dargelegt hat. Es hat unter anderem darauf hingewiesen, dass der Kläger seit dem Jahr 2003 eine Vielzahl von Straftaten begangen hat, wegen derer er dreizehn Mal strafrechtlich verurteilt wurde, im Wesentlichen wegen einer Vielzahl von Fällen serienmäßig begangenen, teils gewerbsmäßigen Betrugs. Mehrmals wurde er während noch laufender Bewährung erneut mit der derselben „Betrugsmasche“ straffällig, in einem Fall sogar schon eine Woche nach der letzten Verurteilung. Er habe inzwischen Schulden in Höhe von 165.000 Euro, so dass die Gefahr bestehe, dass er erneut seine finanziellen Probleme durch Straftaten zu lösen versuche. Es bestehe auch eine Alkohol- und Spielsuchtproblematik; eine Therapie sei noch nicht einmal begonnen.
Neben dieser hohen Gefahr der Begehung weiterer Eigentums- und Vermögensdelikte hat für das Verwaltungsgericht die Gefahr weiterer Körperverletzungsdelikte eine untergeordnete Rolle gespielt. Gleichwohl hat es auch insoweit eine relevante Wiederholungsgefahr bejaht. Der Kläger räumt in der Begründung des Zulassungsantrags ein, dass er in früheren Jahren (2007 und 2008) wegen Körperverletzungsdelikten verurteilt worden ist. Bereits vor diesem Hintergrund lässt sich die Tat vom 30. Juli 2017, die – neben vier Fällen des Betrugs – Gegenstand der Verurteilung vom 25. September 2018 war, nicht als singuläres Ereignis bagatellisieren. Angesichts der Brutalität der Tat, die sich gegen an dem anlassgebenden Streit mit seiner Freundin völlig unbeteiligte Personen richtete und in einem Fall eine das Leben gefährdende Behandlung bedeutete (siehe die Feststellung sowie die Wiedergabe der Zeugenaussagen in dem Strafurteil vom 25.9.2018, S. 192-213 der Behördenakte), ist die Annahme eines Ausnahmefalls nicht gerechtfertigt. Im Übrigen weist auch die Justizvollzugsanstalt in ihrer Stellungnahme gegenüber der Staatsanwaltschaft vom 9. Juni 2020 (Bl. 133-135 VG-Akte) darauf hin, dass sie eine vom Kläger beantragte Aufnahme in die sozialtherapeutische Abteilung für Gewaltstraftäter ebenfalls für notwendig erachte, „um die impulsiv-aggressive Delinquenz des Verurteilten zu behandeln“; hilfsweise sei die Teilnahme an einem Anti-Gewalt-Training angezeigt. Da keine weiteren Unterlagen über eine (erfolgreiche) Teilnahme an derartigen Maßnahmen vorgelegt wurden, muss eine Wiederholungsgefahr auch im Hinblick auf Gewaltstraftaten bejaht werden.
2. Weiter ist der Kläger der Meinung, aufgrund der vorgenannten „tatsächlichen Fehler“ sei auch die Abwägung der Ausweisungs- und Bleibeinteressen „falsch ausgefallen“. Bei den Straftaten handele es sich überwiegend um Eigentumsdelikte, und die einzelnen Schadenssummen seien relativ niedrig. Dass sich die Strafen am Ende deutlich erhöht hätten, liege nicht an einer höheren Schadensintensität, sondern daran, dass der Kläger den Absprung nicht geschafft habe. Ihm werde nun faktisch seine Zukunft verbaut. Auch ein Fehlverhalten durch Straftaten bedürfe einer verhältnismäßigen Reaktion, die alterstypische Fehlentwicklungen berücksichtigen müsse. Die Ausweisung stelle eine unverhältnismäßige Entscheidung dar.
Dieses Vorbringen greift nicht durch. Dass die vom Kläger bei seinen Betrugsstraftaten verursachten Schadenssummen „relativ niedrig“ gewesen seien, ist nicht nachvollziehbar. In den Strafurteilen sind hinsichtlich der einzelnen Taten Schadensbeträge im drei- und vierstelligen Bereich angeführt; im Übrigen sind die Schadenssummen vor allem durch die serien- und gewerbsmäßige Begehung der Betrugstaten auch insgesamt sehr hoch. Der Kläger führt auch selbst zu Recht aus, dass gerade die Vielzahl der Taten und deren Begehung unter laufender Bewährung zu den hohen Haftstrafen geführt haben, indem er einräumt, er habe „den Absprung nicht geschafft“. Durch die Bagatellisierung seiner Straftaten kann der Kläger eine Unverhältnismäßigkeit seiner Ausweisung nicht belegen. Unklar bleibt, was mit „alterstypischen Fehlentwicklungen“ gemeint ist. Jedenfalls bei der Begehung der zuletzt abgeurteilten Straftaten war der Kläger um die 30 Jahre alt; und die serien- und gewerbsmäßige Begehung von Betrugstaten ist weder für dieses noch etwa für ein jüngeres Alter „alterstypisch“.
Soweit der Kläger die Entscheidung „Beljoudi“ (EGMR, U.v. 26.3.1992 – 12083/86 Beldjoudi/Frankreich – InfAuslR 1994, 86 = EuGRZ 1993, 556) heranzieht, hat die Beklagte durchaus zu Recht darauf verwiesen, dass in dem dortigen Fall die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit aufgrund der familiären Verhältnisse des dortigen Betroffenen anders ausfiel (der Betroffene war zuvor selbst französischer Staatsbürger gewesen, Eltern und Ehefrau waren Franzosen). Auch im Licht von Art. 8 EMRK ergibt sich somit keine Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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