Verwaltungsrecht

Ausweisung, Gefahrenprognose, Interessenabwägung

Aktenzeichen  10 CS 22.454

Datum:
18.2.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 3125
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3
VwGO § 80 Abs. 5

 

Leitsatz

Verfahrensgang

M 2 S 21.6462 2022-02-17 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller, ein türkischer Staatsangehöriger, verfolgt mit der Beschwerde seinen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner beim Bayerischen Verwaltungsgericht München anhängigen Klage (M 2 K 21.6459) gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 16. November 2021, mit dem er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen, ein befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen und seine Abschiebung angeordnet bzw. angedroht wurde, weiter. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag mit dem angefochtenen Beschluss vom 17. Februar 2022 (das zunächst angegebene Beschlussdatum 18. Februar 2021 wurde mittlerweile durch Beschluss des Verwaltungsgerichts berichtigt) abgelehnt.
Zur Begründung der Beschwerde, mit der kein konkreter Antrag gestellt wurde, wird vorgetragen, es bestehe beim Antragsteller bereits keine Wiederholungsgefahr mehr. Das Verwaltungsgericht habe die bei Jugendlichen und Heranwachsenden wirkenden Reifungsprozesse verkannt sowie „die Bewährungsentscheidung“ ignoriert. Außerdem wäre es dem Beschwerdeführer bei einer Abschiebung in Türkei verwehrt, an seinen bisherigen Bildungsweg anzuknüpfen und eine Ausbildung abzuschließen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
II.
Die zulässige Beschwerde bleibt erfolglos. Die zur Begründung dargelegten Gründe, auf die der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO seine Prüfung zu beschränken hat, rechtfertigen nicht die Aufhebung oder Abänderung des angefochtenen Beschlusses.
Der Antragsteller bestreitet nicht, dass das Verwaltungsgericht den zutreffenden rechtlichen Maßstab nach § 53 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 AufenthG zugrunde gelegt hat, sondern wendet sich in erster Linie gegen die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Gefahrenprognose, die er unter zwei Gesichtspunkten für fehlerhaft hält.
Zum einen trägt er vor, das Verwaltungsgericht verkenne „die Reifungsprozesse, die in Jugendlichen und Heranwachsenden wirken“. Es gehe zwar zutreffend davon aus, dass bei Jugendlichen ein Abbruch deliktischen Verhaltens wahrscheinlicher sei als bei Erwachsenen. Es stütze die Tatsache, dass dies beim Beschwerdeführer nicht zu erwarten sei, aber nur darauf, dass Besonderheiten im Reifungsprozess des Antragstellers in den Berichten der Justizvollzugsanstalt (JVA) nicht erwähnt würden, und dass er mit dem Abschluss einer Berufsausbildung in der Haft die Reifeentwicklung möglicherweise hätte dokumentieren können. Der Antragsteller habe aber nur deshalb in der JVA die Ausbildung nicht abgeschlossen, weil er – zu Recht – von einer vorzeitigen Entlassung ausgegangen sei. Es entspreche wohl einer vernünftigen und erwachsenen Entscheidung, keine Ausbildung in der JVA zu beginnen, wenn diese ohnehin zeitlich nicht zu Ende geführt werden könne.
Damit stellt der Antragsteller die Gefahrenprognose und diesbezüglichen Ausführungen des Verwaltungsgerichts (BA Rn. 55-56) aber nicht durchgreifend in Frage. Es trifft nicht zu, dass das Erstgericht nur darauf abgestellt habe, dass er keine Berufsausbildung aufgenommen habe. Es ist vielmehr davon ausgegangen, dass der Grundsatz zutreffe, dass ein Abbruch deliktischen Verhaltens bei Jugendlichen wahrscheinlicher sei als bei Erwachsenen. Es hat aber darauf hingewiesen, dass das bisherige Verhalten des Antragstellers keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür biete, von einem solchen „Deliktsabbruch“ auszugehen. In den Berichten der JVA seien Besonderheiten im Reifungsprozess des Antragstellers nicht erwähnt, vielmehr werde mitgeteilt, dass der Abschluss der Berufsausbildung nicht vorangetrieben worden sei. Gerade damit aber hätte er möglicherweise dokumentieren können, dass ein früheres Reifedefizit inzwischen ausgeglichen worden sei.
Der Senat teilt nicht die Meinung, die Weigerung des Antragstellers, seine Berufsausbildung fortzusetzen bzw. abzuschließen, zeuge von einer „vernünftigen und erwachsenen Entscheidung“, weil eine baldige vorzeitige Entlassung zu erwarten gewesen sei. Die JVA ist einer vorzeitigen Entlassung mehrfach, zuletzt noch in ihrem Bericht vom 26. Oktober 2021, entgegengetreten. Bereits in ihrem Bericht vom 6. September 2021 hatte die JVA mitgeteilt, anfangs habe der Antragsteller angegeben, „Geselle zu sein“, also eine abgeschlossene Berufsausbildung zu haben, und habe diese Unwahrheit erst später zugegeben; eine Fortsetzung der Ausbildung sei sinnvoll, aber bisher nicht zustande gekommen. Auch in dem Bericht vom 26. Oktober 2021 heißt es, er wolle die Ausbildung in der Haft nicht beenden, da er auf eine vorzeitige Entlassung hoffe, auch wolle er möglicherweise einen anderen Beruf ergreifen; zum damaligen Zeitpunkt war eine vorzeitige Entlassung jedoch noch nicht absehbar. Diesem Verhalten des Antragstellers lassen sich nach alldem entgegen dem Beschwerdevorbringen keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass es bei ihm zu einer Änderung seiner Lebenseinstellung im Hinblick auf ein zukünftig verantwortungsbewusstes, straffreies, eben „reiferes“ Leben gekommen sein könnte.
Auch der Antragsteller selbst legt in der Beschwerdebegründung keine (sonstigen) Gesichtspunkte dar, die eine solche Beurteilung rechtfertigen könnten; allein aus der Tatsache der vorzeitigen Haftentlassung auf Bewährung folgt dies jedenfalls noch nicht.
Zum anderen bringt der Antragsteller gegen die Richtigkeit der Gefahrenprogose des Verwaltungsgerichts vor, dieses habe den Beschluss des Amtsgerichts Bamberg (Vollstreckungsleiter) vom 2. Februar 2022 über die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung „völlig ignoriert“. Mit dem Vollstreckungsleiter und der JVA hätten sich zwei Instanzen des Jugendstrafvollzugs dafür ausgesprochen, dass eine Bewährungsentscheidung vertretbar sei. Das Verwaltungsgericht habe für seine Entscheidung auch keine breitere Tatsachengrundlage; es mache dazu keine Angaben. Das der Ausweisungsentscheidung zugrundeliegende Strafurteil und die Berichte der JVA hätten auch bei der Entscheidung des Amtsgerichts Bamberg vorgelegen.
Das Verwaltungsgericht hat die Entscheidung des Amtsgerichts aber gerade nicht „völlig ignoriert“. Es ist vielmehr auf diese Entscheidung eingegangen (BA Rn. 57) und hat unter Anwendung der in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze (vgl. zuletzt BVerfG, B.v. 6.12.2021 – 2 BvR 860/21 – juris) dargelegt, warum es von dieser Entscheidung abweicht (BA Rn. 58 bis 59). Zuzustimmen ist dem Verwaltungsgericht, dass der Aussetzungsbeschluss lediglich auf schmaler Tatsachengrundlage beruht; er enthält keinerlei Begründung, lediglich in Nr. 1 des Beschlusstenors die formelhafte Wendung „… da der Verurteilte einen Teil der Strafe verbüßt hat und dies im Hinblick auf die Entwicklung des Verurteilten, auch unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit, verantwortet werden kann, § 88 JGG“. Es gibt in dem Beschluss keinerlei Hinweis darauf, auf welcher Tatsachengrundlage er beruht. Auch der Antragsteller hat im Beschwerdeverfahren hierzu nichts weiter vorgetragen (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO).
Anzunehmen ist, dass dem Amtsgericht die Berichte der JVA vom 6. September 2021, vom 26. Oktober 2021 und vom 12. Januar 2022 vorgelegen haben, wovon auch das Verwaltungsgericht ausgegangen ist. Diesem ist darin zuzustimmen, dass sich daraus zwar ergibt, dass sich der Antragsteller in der Haft im Wesentlichen gut geführt hat – allerdings wird auch erwähnt, dass er disziplinarisch belangt werden musste, gegen ihn noch ein Ermittlungsverfahren und ein strafgerichtliches Verfahren anhängig waren sowie dass er mit seinen Mitgefangenen im Betrieb nur „in der Regel“ gut auskommt -, dass dies aber eine zu schmale Tatsachengrundlage darstellt, um davon auszugehen, dass von ihm keine relevante (Wiederholungs-)Gefahr mehr ausgeht. Die JVA ist in ihren Berichten vom 6. September 2021 und vom 26. Oktober 2021 einer vorzeitigen Entlassung nach § 88 JGG noch entgegengetreten. In dem letzteren hat sie dies damit begründet, dass der Inhaftierte durch eine Vielzahl gleichgelagerter, über einen langen Zeitraum begangener Straftaten aufgefallen ist, eine im Vorfeld der aktuellen Verurteilung gegebene Bewährungschance nicht genutzt habe und wieder einschlägig straffällig geworden sei und schließlich noch zu Beginn der Inhaftierung von seinen bisherigen Verhaltensweisen nicht habe abrücken können und sich mit Unwahrheiten den Haftaufenthalt zu erleichtern versucht habe. Erst in der Stellungnahme vom 12. Januar 2022 ist die JVA wegen der weiterhin guten Führung einer vorzeitigen Entlassung zur Bewährung gemäß § 88 JGG zum Zwei-Drittel-Zeitpunkt nicht mehr entgegengetreten.
Nach alldem hat das Verwaltungsgericht zu Recht festgestellt, dass diese schmale Tatsachengrundlage nicht genügt, um die Prognose zu rechtfertigen, vom Antragsteller gehe keine relevante Gefahr mehr aus, weil dabei Umstände, die für die ausländerrechtliche Gefahrenprognose relevant sind, außer Betracht blieben (BA Rn. 58). Um welche weiteren Umstände es sich dabei handelt, hat es – im Gegensatz zur Darstellung in der Beschwerdebegründung – durchaus dargelegt. Es hat eingehend und ausführlich begründet, warum das bisherige Verhalten des Antragstellers die wahrscheinliche Annahme begründet, dass der Antragsteller in Zukunft weitere vergleichbar schwere Straftaten begehen wird (BA Rn. 51 bis 59), und ist dabei beispielsweise darauf eingegangen, dass die Tatausführungen zu einem großen Teil auf ein planmäßiges und geübtes Vorgehen und damit erhebliche kriminelle Energie schließen lassen, wobei er auch spontane Gelegenheiten und Zufälle für Straftaten genutzt habe (BA Rn. 53). Ferner habe er im Lauf des Strafverfahrens – durch seine Entlassung aus der Untersuchungshaft – eine Gelegenheit zur „faktischen Bewährung“ nicht genutzt, sondern sei erneut einschlägig und wiederholt straffällig geworden (BA Rn. 56). Auf diese und die weiteren tatsächlichen Umstände, auf die das Verwaltungsgericht seine für den Antragsteller negative Gefahrenprognose stützt, geht die Beschwerdebegründung nicht ein (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO).
Soweit der Antragsteller ergänzend (hilfsweise) darauf hinweist, dass es ihm bei einer Abschiebung nicht möglich wäre, an seinen bisherigen Bildungsweg anzuknüpfen, und dass er Schwierigkeiten haben werde, sich in den türkischen Arbeitsmarkt zu integrieren, will er sich damit offenbar gegen das Abwägungsergebnis im Sinn des § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG wenden bzw. die Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung („Unerlässlichkeit“) geltend machen. Auch hier kann er aber die entscheidungstragenden Erwägungen des Verwaltungsgerichts (BA Rn. 60 bis 67) nicht in Frage stellen. Substantiierte Ausführungen zur Untermauerung seiner Behauptung trägt er nicht vor. Er bestreitet nicht, dass er die türkische Sprache beherrscht und sie lediglich vervollkommnen bzw. einüben müsste. Dass er sich mit Gelegenheitsjobs „über Wasser halten“ müsste, ist ihm letztlich zumutbar, es entspricht der allgemeinen Lebenssituation in der Türkei und ist dem Umstand geschuldet, dass er keine abgeschlossene Berufsausbildung hat.
Weitere Einwendungen gegen die die Entscheidung tragenden Gründe in dem Beschluss des Verwaltungsgerichts werden mit der Beschwerde nicht vorgetragen. Dies gilt insbesondere auch für die Begründung des besonderen Vollzugsinteresses im Sinn des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4, Abs. 3 Satz 1 VwGO, das vom Verwaltungsgericht nicht beanstandet worden ist. Der Antragsteller weist zwar darauf hin, dass das Verwaltungsgericht insoweit – richtigerweise – auf den Zeitraum bis zur Entscheidung in der Hauptsache abgestellt hat, obwohl das Amtsgericht eine Bewährungszeit von drei Jahren festgesetzt hat. Aus den nicht ohne weiteres nachvollziehbaren Ausführungen ist jedenfalls nicht ansatzweise zu erkennen, weshalb die behördliche Vollzugsanordnung den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO im Allgemeinen oder den vom Verwaltungsgericht zutreffend wiedergegebenen besonderen verfassungsrechtlichen Anforderungen im Falle einer Ausweisung (BA Rn. 69) nicht genügen sollte. Damit genügt das Beschwerdevorbringen auch insofern nicht den Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 4 VwGO.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 und 2 GKG in Verbindung mit dem Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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