Verwaltungsrecht

Ausweisung nach dreißigjährigem Aufenthalt im Bundesgebiet

Aktenzeichen  10 ZB 19.1208

Datum:
16.7.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 15920
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 86, § 124 Abs. 2, § 154 Abs. 2
AufenthG § 53 Abs. 3, § 59 Abs. 3, § 60a Abs. 2c

 

Leitsatz

1 Eine von einem Ausländer begangene versuchte schwere Körperverletzung ist schon aufgrund ihres Strafrahmens regelmäßig als schwere Gewalttat zu qualifizieren und kommt damit als Ausweisungsanlass in Betracht (VGH München BeckRS 2009, 40701). (Rn. 5) (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Auch nach einer zweijährigen, stationären Suchttherapie lassen darauf beruhende Verhaltensänderungen, die ärztlicherseits als “nachhaltig” eingestuft werden, noch nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel des betroffenen Ausländers schließen, der ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde, wenn die Therapie insgesamt noch nicht abgeschlossen ist und sich der Betroffene nach Therapieende nicht hinreichend bewährt hat (vgl. VGH München BeckRS 2019, 7299). (Rn. 6) (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Für die erfolgreiche Geltendmachung einer Verletzung der Sachaufklärungspflicht aus § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO iVm § 86 VwGO bedarf es bei unterbliebener Beweisantragstellung im erstinstanzlichen Verfahren der Darlegung, dass sich dem Verwaltungsgericht die Einholung eines (weiteren) Sachverständigengutachtens zur Frage, ob von dem betroffenen Ausländer derzeit noch die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten ausgeht, hätte aufdrängen müssen. (Rn. 7) (red. LS Clemens Kurzidem)
4 Die Frage der Wiederholungsgefahr nach strafrechtlichen Verurteilungen kann grundsätzlich von den Gerichten ohne Zuziehung eines Sachverständigen beurteilt werden. Nur wenn die Prognose aufgrund besonderer Umstände ohne spezielle Fachkenntnisse nicht erstellt werden kann, bedarf es ausnahmsweise der Hinzuziehung eines Sachverständigen; das Sachverständigengutachten ersetzt in diesem Fall nicht die Prognoseentscheidung des Tatrichters, sondern bietet ihm hierfür lediglich eine Hilfestellung (VGH München BeckRS 2019, 991). (Rn. 7) (red. LS Clemens Kurzidem)

Verfahrensgang

M 9 K 18.5637 2019-04-10 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 31. Oktober 2018, mit dem er aus dem Bundesgebiet ausgewiesen worden ist, weiter.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich nicht die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestünden nur dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (vgl. BVerfG, B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – juris Rn. 17; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Dies ist hier nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, dass auch im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür bestehe, dass der Kläger weiterhin Straftaten begehen werde. Er sei seit seiner Einreise vor ca. 30 Jahren wiederholt strafrechtlich in Erscheinung getreten. Überschlägig habe er rund 50 Straftaten begangen, nicht alles Gewaltdelikte, jedoch zuletzt häufig unter Einfluss von Drogen und Alkohol. Der Kläger werde seit 2009 betreut und habe bereits 2013 eine Alkoholtherapie durchgeführt. Ungeachtet der (teilweise nicht nachvollziehbaren) gutachterlichen Angaben zur Therapie des Klägers sei diese noch nicht abgeschlossen und werde voraussichtlich noch mehrere Jahre lang dauern. Der Kläger solle zunächst auf Probe entlassen werden. Für weitere fünf Jahre seien eine forensische ambulante Betreuung und Kontrolle in einem Wohnheim vorgesehen. Demnach stehe der Kläger noch nicht einmal am Anfang eines eigenständigen Lebens nach abgeschlossener Therapie, so dass die prognostische Einschätzung der Beklagten hinsichtlich einer fortbestehenden Gefährlichkeit wegen erheblicher Wiederholungsgefahr weiterhin zutreffend sei. Auf der Grundlage des vorgelegten Gutachtens sei die Beklagte auch zu Recht davon ausgegangen, dass die Gefährlichkeit des Klägers und konkrete Wiederholungsgefahr alkohol- und drogensuchtbedingt seien und nicht etwa von einer (angeblich diagnostizierten) PTBS in der Jugend oder als Erwachsener herrührten. Trotz des Vorliegens eines besonders schwerwiegenden Bleibeinteresses und des rund dreißigjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet erweise sich die Ausweisung angesichts der fehlenden Integration des Klägers als verhältnismäßig.
Der Einwand des Klägers, das Verwaltungsgerichts habe seiner Entscheidung einen falschen Sachverhalt zugrunde gelegt, weil es unzutreffend ausgeführt habe, dass die vom Kläger begangenen „Gewaltdelikte“ dem „Bereich der Schwerkriminalität“ zuzuordnen seien, obwohl er überwiegend zu geringen Geldstrafen nicht nur wegen Gewalt-, sondern auch aufgrund anderer Delikte verurteilt worden sei, begründet keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils. Entgegen dem Vorbringen im Zulassungsantrag hat das Verwaltungsgericht in den vom Kläger in Bezug genommenen Passagen des Urteils nicht alle von ihm begangenen Delikte ausschließlich dem Bereich der „Gewaltdelikte“ bzw. „Schwerkriminalität“ zugeordnet, wie sich bereits aus den vom Gericht gewählten Formulierungen wie bspw. „regelmäßig Gewaltdelikte“ oder „ca. 50 Straftaten …, nicht alles Gewaltdelikte,“ entnehmen lässt (s. UA Rn. 29). Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht die gegenwärtige schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 53 Abs. 3 AufenthG, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die eine Ausweisung zur Wahrung dieses Interesses unerlässlich macht, auch unter Bezugnahme auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheids (UA Rn. 27) und damit unter Berücksichtigung der dort angeführten (und unstreitig vorliegenden) strafrechtlichen Verfehlungen des Klägers (s. dort S. 4 und 5; im Polizeilichen Informationssystem INPOL/SIS sind am 13.5.2015 47 Einträge festgehalten, Behördenakte S. 675-681) sowie aufgrund eigener Wahrnehmung des Verhaltens des Klägers in der mündlichen Verhandlung (s. UA Rn. 37) bejaht. Hierzu verhält sich das Zulassungsvorbringen indes nicht. Hinzu kommt, dass die vom Kläger zuletzt begangene versuchte gefährliche Körperverletzung schon aufgrund ihres Strafrahmens regelmäßig als schwere Gewalttat zu qualifizieren ist (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Jan. 2019, § 53 Rn. 165 m.w.N.) und damit als Ausweisungsanlass in Betracht kommt (vgl. BayVGH, B.v. 30.1.2006 – 24 CS 06.16 – juris Rn. 22 f.; VGH BW, B.v. 5.10.1994 – 11 S 1202/94 – juris Rn. 6).
Nicht gefolgt werden kann dem Vorbringen des Klägers, dass das Gericht „mit nicht nachvollziehbaren Argumenten“ die Aussage der als sachverständige Zeugen einvernommenen Ärzte Dr. P.-M. und Dr. S. „unberücksichtigt“ gelassen habe. Vielmehr hat sich das Verwaltungsgericht eingehend mit der gutachterlichen Stellungnahme des kbo-Isar-Amper-Klinikums München Ost vom 7. Juni 2018, der hierzu vorgelegten ergänzenden Stellungnahme vom 15. März 2019 sowie den Erläuterungen durch die in der mündlichen Verhandlung einvernommenen Ärzte auseinandergesetzt. Gleichwohl hat es bei seiner Gefahrenprognose unter Bezugnahme auf die ständige Rechtsprechung des Senats (vgl. zuletzt BayVGH, B.v. 8.4.2019 – 10 ZB 18.2284 – juris Rn. 12 m.w.N.; B.v. 6.6.2019 – 10 C 19.1081 – Rn. 7; B.v. 8.7.2019 – 10 ZB 19.1044 – Rn. 4) auf die noch nicht abgeschlossene Therapie und die fehlende hinreichende Bewährungszeit nach Therapieende verwiesen. Es hat vor diesem Hintergrund zu Recht festgestellt, dass der Kläger noch nicht einmal am Anfang eines eigenständigen Lebens nach abgeschlossener Therapie stehe und weiterhin viele Jahre lang nicht nur engmaschig betreut und versorgt, sondern auch kontrolliert werden müsse. Auch wenn aufgrund der mindestens zweijährigen Therapie im Klinikum die darauf beruhenden Verhaltensänderungen ärztlicherseits als „nachhaltiger“ eingestuft werden, so kann damit noch nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung des Klägers geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde. Der Kläger, der seine Auffassung auf die positivere Einschätzung der ihn behandelnden Ärzte stützt, übersieht, dass sich diese auf die derzeitige Situation in der Therapie beziehen und keine Aussage darüber enthalten, wie sich der Kläger ohne die auch im ambulanten Bereich weiterhin für erforderlich gehaltenen Protektivfaktoren verhalten wird.
Soweit der Kläger anführt, das Gericht hätte zur Frage, ob noch eine hinreichend konkrete Wiederholungsgefahr besteht, ein Sachverständigengutachten einholen müssen, würde dies auch unter dem Aspekt eines (hier nicht ausdrücklich gerügten) Verfahrensmangels nicht die Zulassung der Berufung rechtfertigen. Der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO i.V.m. § 86 Abs. 2 VwGO läge nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht einen unbedingten Beweisantrag zur Einholung eines Sachverständigengutachtens abgelehnt hätte und sich hierfür im Prozessrecht keine Stütze finden würde. Der Kläger hat jedoch einen entsprechenden Beweisantrag nicht gestellt. Für die erfolgreiche Geltendmachung einer Verletzung der Sachaufklärungspflicht aus § 124 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 86 Abs. 1 VwGO hätte es der Darlegung bedurft, dass sich dem Verwaltungsgericht die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens zur Frage, ob vom Kläger derzeit noch die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten ausgeht, hätte aufdrängen müssen. Bei der Prognoseentscheidung zur Wiederholungsgefahr bewegt sich das Gericht jedoch regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen, die Gerichten allgemein zugänglich sind. Die Frage der Wiederholungsgefahr nach strafrechtlichen Verurteilungen kann daher grundsätzlich von den Gerichten ohne Zuziehung eines Sachverständigen beurteilt werden (stRspr des Senats, vgl. BayVGH, B.v. 4.1.2019 – 10 ZB 18.2036 – juris Rn. 9 m.w.N.; B.v. 14.6.2019 – 10 ZB 19.723 – Rn. 10). Nur ausnahmsweise bedarf es der Zuziehung eines Sachverständigen, wenn die Prognose aufgrund besonderer Umstände nicht ohne spezielle fachliche Kenntnisse erstellt werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 5). Im Übrigen kann auch ein Sachverständigengutachten die Prognoseentscheidung des Tatrichters nicht ersetzen, sondern nur Hilfestellung bieten (BVerwG, U.v. 13.3.2009 – 1 B 20.08 – juris Rn. 5). Anhaltspunkte dafür, dass im Fall des Klägers die Prognoseentscheidung nicht ohne ein weiteres Sachverständigengutachten hätte getroffen werden können, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
Schließlich hat das Verwaltungsgericht bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Ausweisungsverfügung, anders als der Kläger meint, nicht ausschließlich auf den Zeitpunkt des Bescheiderlasses abgestellt, sondern auch die danach eingetretene Entwicklung in den Blick genommen (s. UA Rn. 28, 44). Ebenso wenig hat das Gericht den erhöhten Ausweisungsschutz des Klägers als anerkannter Asylberechtigter außer Acht gelassen.
Die Nrn. 2 und 3 des angefochtenen Bescheids sind ebenfalls nicht zu beanstanden. Dem Erlass einer Abschiebungsandrohung unter Bestimmung einer Ausreisefrist stünde nach § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG das Vorliegen von Abschiebungsverboten nicht entgegen (vgl. BayVGH, B.v. 16.10.2017 – 19 C 16.1719 – juris Rn. 23; B.v. 6.6.2019 – 10 C 19.1081 – Rn. 10). Auf eine „Unzumutbarkeit“ der Rückkehr des Klägers in seine Heimat etwa aus gesundheitlichen Gründen kommt es demzufolge insofern nicht an. Abgesehen davon hat das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt, dass die vorgelegten ärztlichen Unterlagen schon nicht geeignet sind, eine einer Abschiebung entgegenstehende Erkrankung glaubhaft zu machen (vgl. § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG). Soweit sie das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung betreffen, hat das Verwaltungsgericht im Einklang mit der Rechtsprechung (u.a. BVerwG, U.v. 11.9.2007 – 10 C 8.07 – juris Rn. 15) ausgeführt, dass der Klägervortrag den Anforderungen an die Substantiierung zum Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung, die sich – wie hier – auf traumatisierende Erlebnisse im Heimatland stützt und deren Symptome erst längere Zeit nach der Ausreise aus dem Heimatland vorgetragen werden, nicht genügt und seine Rechtsauffassung umfassend und nachvollziehbar begründet. Danach beruhen die vom Kläger vorgelegten therapeutischen Berichte und fachärztlichen Atteste hinsichtlich der darin zugrunde gelegten Auslösekriterien auf einem unglaubhaften, weil widersprüchlichen Vortrag des Klägers und damit auf unzureichenden tatsächlichen Grundlagen. Diese Bewertung durch das Verwaltungsgericht ist nicht zu beanstanden (vgl. BayVGH, B.v. 4.11.2016 – 9 ZB 16.30468 – juris Rn. 15; B.v. 17.1.2018 – 10 ZB 17.30723 – juris Rn. 5 m.w.N.) und wurde vom Kläger im Zulassungsverfahren auch nicht (substantiiert) angegriffen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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