Verwaltungsrecht

Ausweisung wegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung

Aktenzeichen  10 ZB 19.1614

Datum:
16.9.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 27455
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 5
AufenthG § 53 Abs. 3
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

Bei Straftaten, die ihre (Mit-)Ursache in einer Suchtmittelproblematik haben, ist bei der Gefahrenprognose davon auszugehen, dass nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung des Betreffenden geschlossen werden kann, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigt, solange eine entsprechende Therapie nicht abgeschlossen ist und er sich nach Therapieende hinreichend in Freiheit bewährt hat (BayVGH BeckRS 2019, 7299; BeckRS 2019, 17443; BeckRS 2019, 17625). (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 1 K 18.1894 2019-06-25 VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung, mit dem der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage gegen den Ausweisungsbescheid der Beklagten vom 30. Oktober 2018 weiterverfolgt, ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag (§ 124a Abs. 4 VwGO) ergeben sich weder die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO noch ist ein Verfahrensfehler im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO hinreichend dargelegt (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO).
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht hat die angefochtene Ausweisung gemäß §§ 53 ff. AufenthG als rechtmäßig erachtet, weil das persönliche Verhalten des Klägers gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich sei (§ 53 Abs. 3 AufenthG). Hinsichtlich der Wiederholungsgefahr stellt das Verwaltungsgericht neben der Anlasstat auf die zahlreichen vorangegangenen Verurteilungen des Klägers ab. Es verweist insoweit auf den streitgegenständlichen Ausweisungsbescheid. Die Führungsberichte aus der derzeit im Maßregelvollzug angeordneten Therapie sprächen letztlich nicht zu Gunsten des Klägers. Mittlerweile habe er sich nach einem Rückfall stabilisiert, deutlich positive Entwicklungstendenzen könnten aber auch dem zuletzt vorgelegten Führungsbericht vom 7. Mai 2019 nicht entnommen werden. Derzeit könne von einer wirklich positiven Entwicklung und alsbald abgeschlossenen Therapie der beim Kläger bestehenden Problematiken nicht ausgegangen werden. Das Ausweisungsinteresse überwiege das Bleibeinteresse. Der volljährige Kläger habe zwar praktisch sein gesamtes Leben hier verbracht und besitze wesentliche familiäre Anknüpfungspunkte. Er verfüge aber über keine Bindungen zur Kernfamilie. Ein Bruder halte sich in der Türkei auf. Zudem spreche er türkisch. Maßgebend sei vor allem die strafrechtliche Vergangenheit des Klägers.
Im Zulassungsverfahren bringt der Kläger demgegenüber vor, der Führungsbericht vom 15. Oktober 2018 sei auffallend positiv. Ihm sei inzwischen die Lockerungsstufe B2 gewährt worden. Die Anregung des Bezirkskrankenhauses, den Maßregelvollzug für erledigt zu erklären, habe das Landgericht Kempten mit Beschluss vom 3. Januar 2019 zurückgewiesen. Damit habe sich das Verwaltungsgericht nicht auseinandergesetzt. Es habe sich weder mit den Umständen der Straftat noch mit der familiären Situation des Klägers hinreichend befasst. Er habe vor seiner Verhaftung bei seinen Eltern gelebt und könne jederzeit wieder dort einziehen. Auch sei nicht berücksichtigt worden, dass die Straftat unter erheblichem Alkoholeinfluss begangen worden sei und nicht der Kläger die gewaltbereiten Tatbeiträge begangen habe. Auch die im Bundeszentralregisterauszug erfassten Straftaten seien überwiegend nicht der Gewaltkriminalität zuzuordnen. Die Taten habe der Kläger im Wesentlichen begangen, als er noch minderjährig gewesen sei. Auch habe das Verwaltungsgericht gegen seine Amtsermittlungspflicht verstoßen, weil es ein schriftsätzlich beantragtes Sachverständigengutachten zur Wiederholungsgefahr nicht eingeholt habe.
Damit wird die Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils jedoch nicht ernstlich in Zweifel gezogen. Das Verwaltungsgericht hat ohne Rechtsfehler eine nach wie vor bestehende Wiederholungsgefahr bejaht und diese mit dem ihr zukommenden Gewicht in die Abwägung nach § 53 Abs. 1 und 3 AufenthG eingestellt. Entgegen der Auffassung des Klägers hat das Verwaltungsgericht die Umstände der Anlasstat hinreichend gewürdigt, indem es insoweit auf den Ausweisungsbescheid der Beklagten vom 30. Oktober 2018 verwiesen hat. Dort wird auf das Strafurteil vom 12. Dezember 2017 Bezug genommen und ausgeführt, dass der Kläger die Gewaltausübung durch den Mittäter entsprechend dem gemeinsamen Tatplan gebilligt habe. Das Strafgericht hat den Umstand, dass der Kläger die Straftat unter erheblichem Alkoholeinfluss begangen hat, bei der Strafzumessung strafmildernd berücksichtigt. Inwiefern darüber hinaus im Rahmen der Ausweisungsentscheidung die erhebliche Alkoholisierung des Klägers bei der Begehung der Straftat zu seinen Gunsten berücksichtigt werden müsste, ergibt sich aus dem Zulassungsvorbringen nicht. Vielmehr ist nach ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. zuletzt BayVGH, B.v. 8.4.2019 – 10 ZB 18.2284 – juris Rn. 12 m.w.N.; B.v. 6.6.2019 – 10 C 19.801 – juris Rn. 7; U.v. 23.7.2019 – 10 B 18.2464 – juris Rn. 27; B.v. 26.7.2019 – 10 ZB 19.1207 – juris Rn. 25 m.w.N.) bei Straftaten, die ihre (Mit-)Ursache – wie beim Kläger – in einer Suchtmittelproblematik haben, bei der Gefahrenprognose davon auszugehen, dass nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung des Betreffenden geschlossen werden kann, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigt, solange eine entsprechende Therapie nicht abgeschlossen ist und er sich nach Therapieende hinreichend in Freiheit bewährt hat. Selbst wenn man zugunsten des Klägers von einem positiven Verlauf der derzeit zu absolvierenden Therapie ausgeht, ist vorliegend in den Blick zu nehmen, dass sich sein diesbezügliches Vorbringen auf die derzeitige Situation im Rahmen des Maßregelvollzugs bezieht und sich daraus noch keine belastbaren Aussagen darüber entnehmen lassen, wie sich der Kläger ohne die Protektivfaktoren einer stationären Unterbringung in der Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB verhalten wird. Allerdings attestiert der aktuelle Führungsbericht vom 7. Mai 2019 dem Kläger auch keine uneingeschränkt positive Entwicklung. Der im Zulassungsverfahren vorgelegte Bericht vom 15. Oktober 2018 ist insoweit überholt und wurde abgegeben, bevor es zu zwei Konsumrückfällen kam. Die Entscheidung des Landgerichts Kempten vom 3. Januar 2019 zur Fortsetzung des Maßegelvollzugs hat für die Beurteilung der vom Kläger ausgehenden Wiederholungsgefahr keine relevante Bedeutung, weil der Therapieverlauf in dem aktuellen Führungsbericht vom 7. Mai 2019, den das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, gewürdigt wird. Festzuhalten ist letztlich, dass der Kläger als formal angepasst wahrgenommen wird, die therapeutischen Gespräche mit ihm an der Oberfläche bleiben und er momentan nur „eingeschränkt über funktionale Erklärungsmodelle seiner Sucht- und Delinquenzentwicklung verfügt“. Die Wiederholungsgefahr entfällt auch nicht deshalb, weil die Straftaten des Klägers – wie er im Zulassungsvorbringen behauptet -im Wesentlichen nicht der Gewaltkriminalität zuzurechnen seien. Gerade bei den vor der Anlasstat begangenen Straftaten (Urteil des Amtsgerichts Augsburg vom 23.10 2013: Körperverletzung, Urteil des Amtsgerichts Augsburg vom 12.5.2014: gemeinschaftlicher Raub) handelt es sich um Gewaltdelikte. Zum Zeitpunkt der Tatbegehung war der Kläger auch nicht mehr minderjährig.
Das Verwaltungsgericht hat auch die familiären Bindungen des Klägers zutreffend gewürdigt und gewichtet. Bei volljährigen Ausländern stellen die Ehefrau und etwaige Kinder die Kernfamilie dar. Eine solche Kernfamilie hat der Kläger nicht begründet. Die Beziehungen zu anderen Familienmitgliedern genießen demgegenüber nur geringeren Schutz (BVerfG, B.v. 1.3.2004 – 2 BvR 1570/03 – juris Rn. 9). Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Betreffende auf familiäre Beistandsleistungen angewiesen ist (VGH BW, B.v. 28.3.2019 – 11 S 623/19 – juris Rn. 14). Dafür ergeben sich vorliegend keine Anhaltspunkte. Insbesondere stellen gelegentliche Besuche und eine Wohnmöglichkeit bei den Eltern keine solchen Beistandsleistungen dar.
Der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO liegt ebenfalls nicht vor. Das Verwaltungsgericht hat seine Amtsaufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO nicht verletzt. Die Prozessbevollmächtigten des Klägers haben zwar schriftsätzlich den Antrag gestellt, ein forensich-psychologisches Sachverständigengutachten zum Beweis dafür einzuholen, dass nach erfolgreichem Abschluss der Therapie mit einem deliktfreien Leben des Klägers zu rechnen ist. Ein schriftsätzlich gestellter Beweisantrag ist als bloße Anregung zu verstehen, im Rahmen der gerichtlichen Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) entsprechend zu ermitteln (BayVGH, B.v. 31.1.2018 – 10 ZB 17.2550 – juris Rn. 2 m.w.N.). Eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht bzw. der Verletzung des Rechts aus Art. 103 GG kommt nur in Betracht, wenn das Gericht der Beweisanregung nicht gefolgt ist, obwohl sich eine weitere Sachaufklärung hätte aufdrängen müssen (BVerwG, U.v. 21.12.2017 – 4 BN 16.17 – juris Rn. 7 m.w.N.). Dies ist jedoch vorliegend nicht der Fall. Für die Beurteilung, ob vom Kläger gegenwärtig noch eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung ausgeht,, kommt es nicht auf den Zeitpunkt des Abschlusses einer noch andauernden Therapie, sondern auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts an. Die beantragte Beweiserhebung war daher im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht entscheidungserheblich. Zudem musste das Verwaltungsgericht auch kein Sachverständigengutachten zur Frage, ob vom Kläger gegenwärtig noch die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten ausgeht, einholen. Bei der Prognoseentscheidung zur Wiederholungsgefahr bewegt sich das Gericht regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen, die Gerichten allgemein zugänglich sind. Die Frage der Wiederholungsgefahr nach strafrechtlichen Verurteilungen kann daher grundsätzlich von den Gerichten ohne Zuziehung eines Sachverständigen beurteilt werden (stRspr des Senats, vgl. BayVGH, B.v. 16.7.2019 – 10 ZB 19.1208 – juris Rn. 7 m.w.N.). Nur ausnahmsweise bedarf es der Zuziehung eines Sachverständigen, wenn die Prognose aufgrund besonderer Umstände nicht ohne spezielle fachliche Kenntnisse erstellt werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 5). Im Übrigen kann auch ein Sachverständigengutachten die Prognoseentscheidung des Tatrichters nicht ersetzen, sondern nur eine Hilfestellung bieten (BVerwG, U.v. 13.3.2009 – 1 B 20.08 – juris Rn. 5). Anhaltspunkte dafür, dass im Fall des Klägers die Prognoseentscheidung nicht ohne Sachverständigengutachten hätte getroffen werden können, sind nicht ersichtlich.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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