Verwaltungsrecht

Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots – Bestimmung der Länge der Frist

Aktenzeichen  10 B 14.1854

Datum:
12.7.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 51737
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 11 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3

 

Leitsatz

1 Es bedarf regelmäßig keiner getrennten Festlegung einer Befristung der Wirkung der Ausweisung und der Abschiebung. Für die Festsetzung unterschiedlicher Fristen ist weder ein Rechtsschutzbedürfnis noch materiell ein schützenswertes Interesse ersichtlich. (redaktioneller Leitsatz)
2 Über die Länge der Frist hat die Behörde nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, wobei sie bei einer Ausweisung zunächst das Gewicht des Ausweisungsgrundes und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck berücksichtigen muss; in einem zweiten Schritt ist die so ermittelte Frist an höherrangigem Recht zu überprüfen und gegebenenfalls zu verkürzen. (redaktioneller Leitsatz)
3 Verfügt die Behörde nur eine “bedingte Befristung”, ist dies nicht rechtmäßig, da der Adressat einen Anspruch darauf hat, dass auch für den Fall des Nichteintritts der Bedingung eine (dann längere) Befristung angeordnet wird. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

1 K 12.653 2012-09-25 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I.
Das Verfahren wird eingestellt.
II.
Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 25. September 2012 ist gegenstandslos geworden.
III.
Der Kläger und die Beklagte tragen die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen jeweils zur Hälfte.
IV.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe

Da der Kläger und die Beklagte den Rechtsstreit in der mündlichen Verhandlung vom 11. Juli 2016 übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren in entsprechender Anwendung von § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO durch Beschluss einzustellen und auszusprechen, dass das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 25. September 2012 nach § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO wirkungslos geworden ist.
Über die Kosten des Verfahrens ist gemäß § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes zu entscheiden. Billigem Ermessen entspricht es hier, die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen dem Kläger und der Beklagten jeweils zur Hälfte aufzuerlegen, weil die Beklagte bei einer Entscheidung in der Hauptsache (nur) zu einer Neuverbescheidung im Sinne des § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO zu verpflichten gewesen wäre und die Berufung damit (nur) teilweise Erfolg gehabt hätte.
Der Bescheid der Beklagten vom 23. August 2012 wäre aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten gewesen, über die Befristung der Wirkungen der Ausweisung und der Abschiebung des Klägers (Einreise- und Aufenthaltsverbot) unter Beachtung der Rechtsaufassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
1. Da für die rechtliche Beurteilung der Befristungsentscheidung die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichtshofs als Berufungsgericht maßgeblich ist, ist auf die Regelungen des § 11 AufenthG in der seit 24. Oktober 2015 geltenden Fassung abzustellen. Für einen Ausländer, der ausgewiesen oder abgeschoben worden ist, gilt nach § 11 Abs. 1 AufenthG ein Einreise- und Aufenthaltsverbot, dessen Dauer von Amts wegen nach Ermessen zu befristen ist (§ 11 Abs. 2 und 3 AufenthG).
2. Dabei bedarf es nach Ansicht des Senats regelmäßig keiner getrennten Festlegung einer Befristung der Wirkungen der Ausweisung und einer Befristung der Wirkungen der Abschiebung. Die Wirkungen beider Maßnahmen sind nach § 11 Abs. 1 AufenthG identisch (vgl. die Legaldefinition „Einreise- und Aufenthaltsverbot“ in § 11 Abs. 1 AufenthG). Die Frist beginnt nach § 11 Abs. 2 Satz 2 AufenthG mit der Ausreise (bzw. Abschiebung); mehrere gesonderte Fristen würden somit „parallel laufen“, ohne dass ein Unterschied zu erkennen wäre. Daher ist insoweit weder ein prozessuales Rechtsschutzbedürfnis noch materiell ein schützenswertes Interesse für die Festsetzung unterschiedlicher Fristen ersichtlich (offenbar anderer Ansicht, insoweit aber ohne Begründung: OVG Lüneburg, B.v. 25.6.2013 – 8 PA 98/13 – InfAuslR 2013, 336 Rn. 21).
3. Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG wird über die Länge der Frist nach pflichtgemäßem Ermessen entschieden. Der Senat teilt insoweit nicht die Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (U.v. 9.12.2015 – 11 S 1857/15 – InfAuslR 2016, 138 Rn. 27), wonach trotz des eindeutigen Gesetzeswortlauts die Entscheidung über die Länge der Frist für das Einreise- und Aufenthaltsverbot eine gebundene Entscheidung darstelle (siehe hierzu ausführlich das Urteil des Senats vom 12.7.2016 – 10 BV 14.1818). Die für die Bestimmung der Länge der Sperrfrist maßgeblichen Kriterien der prognostischen Einschätzung, wie lange das Verhalten des Betroffenen das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag, und der anschließenden Relativierung anhand höherrangiger Rechtsnormen, und damit die Ausrichtung am Zweck der Ermächtigung und die Einhaltung der gesetzlichen Grenzen des Ermessens (Art. 40 BayVwVfG), überprüft das Gericht vollständig (§ 114 Satz 1 VwGO). Doch verbleibt der Behörde mit dem vom Gesetzgeber eingeräumten Ermessen ein – wenn auch geringer – Spielraum bei der Festsetzung der Dauer der Sperrfrist, die sich an den verfassungs-, unions- und völkerrechtlichen Wertentscheidungen messen lassen muss.
4. Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen; es bedarf einer prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag, wie lange also die Gefahr besteht, dass der Ausländer weitere Straftaten oder andere Verstöße gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung begehen wird, wobei die Umstände des Einzelfalles anhand des Gewichts des Ausweisungsgrundes zu berücksichtigen sind. In einem zweiten Schritt ist die so ermittelte Frist an höherrangigem Recht, d. h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK, zu überprüfen und gegebenenfalls zu verkürzen (siehe hierzu ausführlich das Urteil des Senats vom 12.7.2016 – 10 BV 14.1818).
Bei der hier vorzunehmenden Gefahrenprognose besteht entgegen der Ansicht des Erstgerichts (UA. Rn. 17), keine Bindung an die Entscheidung des zuständigen Strafvollstreckungsgerichts, die Vollstreckung des Strafrestes der verhängten Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Dabei sind sie an die Feststellungen und Beurteilungen der Strafgerichte rechtlich nicht gebunden. Entscheidungen der Strafgerichte nach § 57 StGB sind zwar von tatsächlichem Gewicht und stellen bei der ausländerrechtlichen Prognose ein wesentliches Indiz dar; von ihnen geht aber weder eine Bindungswirkung noch eine Regelvermutung aus, selbst wenn zu ihrer Vorbereitung ein Sachverständigengutachten eingeholt wurde (vgl. ausführl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10/12 – NVwZ-RR 2013, 435 Rn. 17 ff. m. w. N.). Nach Überzeugung des Senats gilt nichts anderes für die insoweit gleichlaufende Gefahrenprognose im Rahmen der Bestimmung der Frist für das Einreise- und Aufenthaltsverbot.
Auch das vom Erstgericht hervorgehobene Verhalten des Klägers im Rahmen einer tätlichen Auseinandersetzung unter Dritten, bei dem er nach eigenem Vorbringen dem Opfer das Leben gerettet habe (UA Rn. 53), ist nach Meinung des Senats nicht von vornherein zugunsten des Klägers zu berücksichtigen. Insoweit handelt es sich eher um einen „neutralen“ Gesichtspunkt, der nur dann entscheidend zugunsten des Klägers sprechen würde, wenn sich daraus Rückschlüsse für eine relevante Verminderung der vom Kläger ausgehenden Gefahr der Begehung weiterer Straftaten ergeben würden.
Die Beklagte hat in dem streitgegenständlichen Bescheid vom 23. August 2012 zwar ausführliche Erwägungen insbesondere im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit der Frist angestellt, jedoch – der Rechtslage im Zeitpunkt des Bescheidserlasses entsprechend – kein Ermessen ausgeübt.
5. Nach § 11 Abs. 2 Satz 5 u. 6 AufenthG (eingeführt durch das Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung mit Wirkung zum 1. August 2015) kann die Befristung zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit einer Bedingung (Art. 36 Abs. 2 Nr. 2 BayVwVfG) versehen werden, insbesondere einer nachweislichen Straf- oder Drogenfreiheit; tritt die Bedingung bis zum Ablauf der Frist nicht ein, gilt eine von Amts wegen zusammen mit der „bedingten Befristung“ anzuordnende längere Frist. Die von der Beklagten in ihrem Bescheid vom 23. August 2012 vorgenommene Befristung unter der Bedingung der Vorlage eines Nachweises über die Straffreiheit war daher grundsätzlich zulässig (vom Erstgericht wurde dies im angefochtenen Urteil nicht mehr angesprochen; siehe hierzu ausführlich das Urteil des Senats vom 12.7.2016 – 10 BV 14.1818).
Gleichwohl verstieß die Regelung in Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids gegen § 11 Abs. 2 Satz 5 u. 6 AufenthG. Denn durch diese Fassung des Bescheids wurde nur eine „bedingte Befristung“ verfügt, nicht aber – worauf der Kläger einen Anspruch hat – eine „längere Befristung“ für den Fall, dass die Bedingung nicht eintritt (§ 11 Abs. 3 Satz 6 AufenthG). Damit gilt aber das Einreise- und Aufenthaltsverbot in dem Fall, dass die Bedingung nicht eintritt, im Ergebnis unbegrenzt, was gegen § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG verstößt.
6. Hätte die Beklagte nicht in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ihren Bescheid um diese „unbedingte“ Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ergänzt und wäre infolge dessen nicht der Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt worden, hätte der Senat nach alledem deswegen den streitgegenständlichen Bescheid aufheben und die Beklagte zur Neuverbescheidung unter der Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts verpflichten müssen (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO). Da damit eine Verpflichtung der Beklagten zur Festsetzung einer bestimmten Frist nicht in Betracht gekommen wäre, wäre das Urteil des Erstgerichts abzuändern gewesen, allerdings nicht in dem Umfang, dass die Klage – wie von der Beklagten erstrebt – insgesamt abzuweisen gewesen wäre. Die Berufung hätte damit (nur) teilweise Erfolg gehabt.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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