Verwaltungsrecht

Berufungszulassung wegen der Frage, ob Angehörige militärdienstpflichtiger Personen aus Syrien von Sippenhaft bedroht sind

Aktenzeichen  21 ZB 17.30470

Datum:
8.11.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 132520
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3a Abs. 1, Abs. 2, § 78 Abs. 3 Nr. 1

 

Leitsatz

Ob Angehörige von militärdienstpflichtigen Personen im Falle einer Rückkehr nach Syrien deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unter dem Blickwinkel der „Sippenhaft“ Eingriffe im Sinne des § 3a Abs. 1 und 2 AsylG zu befürchten haben, weil sich ihr Verwandter der Einberufung zum Militärdienst entzogen hat, stellt eine Grundsatzfrage dar, für die ein allgemeiner Klärungsbedarf besteht und die entscheidungserheblich ist. (Rn. 2 und 6) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

W 2 K 16.31392 2017-03-27 Urt VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg vom 27. März 2017 wird zugelassen.
II. Die Kostenentscheidung bleibt der Berufungsentscheidung vorbehalten.

Gründe

Die Berufung ist auf Antrag der Beklagten wegen einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) zuzulassen.
Es ist die obergerichtlich noch nicht entschiedene Frage zu klären, ob Angehörige von militärdienstpflichtigen Personen im Falle einer Rückkehr nach Syrien deshalb mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unter dem Blickwinkel der „Sippenhaft“ Eingriffe im Sinn des § 3a Abs. 1 und 2 AsylG zu befürchten haben, weil sich ihr Verwandter der Einberufung zum Militärdienst entzogen hat.
Der Zulassungsantrag der Beklagten setzt sich mit den Gründen der angegriffenen Entscheidung auseinander und legt zutreffend dar, dass ein allgemeiner Klärungsbedarf bezüglich dieser Grundsatzfrage besteht. Die Auskunftslage zur Sippenhaft ist insoweit uneinheitlich und teilweise auch widersprüchlich; der Zulassungsantrag legt das unter anderem mit Verweis auf eine Schnellrecherche der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (Länderanalyse) zu „Syrien: Reflexverfolgung“ vom 25. Januar 2017 dar.
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe zitiert aus einem Bericht von Human Rights Watch zur Menschenrechtssituation in Syrien vom 29. Januar 2015, wonach die syrischen Sicherheitskräfte Familienangehörige von „gesuchten“ Personen festnehmen würden. Demgegenüber ergeben die von der finnischen Einwanderungsbehörde (Finnish Immigration Service) wiedergegebenen Aussagen verschiedener Auskunftspersonen ein uneinheitliches Bild (vgl. Fact-Finding Mission Report, Syria: Military Service, National Defense Forces, Armed Groups Supporting Syrian Regime and Armed Opposition, 23.8.2016). So bekundete Sari Hanafi, Professor an der „American University of Beirut“, es könnten die Brüder eines Wehrdienstflüchtigen bis zu dessen Rückkehr inhaftiert werden; weibliche Familienmitglieder könnten ebenfalls verhaftet werden. Mitarbeiter der Heinrich Böll Stiftung in Beirut äußerten sich gegenüber der finnischen Einwanderungsbehörde dahingehend, häufig werde der Vater in Haft genommen, das könne aber auch der Mutter widerfahren. Mitarbeiter einer internationalen Organisation in Beirut gaben demgegenüber an, der Vater oder der Bruder eines „Deserteurs“ würden möglicherweise an dessen Stelle eingezogen. Ein Wissenschaftler am Carnegie Middle East Center wusste schließlich zu berichten, dass die Familie eines Wehrdienstflüchtlings oder eines Deserteurs zu dessen Aufenthalt befragt werde; wüssten die Familienmitglieder nichts über dessen Aufenthalt, drohten ihnen keine Konsequenzen. Schließlich verweist der Zulassungsantrag zu Recht darauf, dass die im Bericht von Amnesty International genannten Beispiele für sippenhaftartige Inanspruchnahmen keine Wehrdienstflüchtlinge, sondern andere Risikoprofile betreffen.
Vor dem Hintergrund dieser Quellenlage ist es offensichtlich, dass das Urteil des Verwaltungsgerichts dem Klärungsbedarf nicht gerecht wird. Es stützt seine Prognose, die Klägerin werde wegen einer Wehrdienstentziehung ihrer Söhne im Falle einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit festgenommen oder misshandelt, ohne die erforderliche Auseinandersetzung mit aktuellen Erkenntnisquellen lediglich auf die „UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“ vom November 2015 und zitiert daraus, die Sicherheitskräfte würden dazu übergehen, die Familienangehörigen einschließlich der Kinder festzunehmen oder zu misshandeln, wenn die Fahndung nach einem gesuchten tatsächlichen oder vermeintlichen Regierungsgegner erfolglos geblieben sei. Dabei geht das Verwaltungsgericht, das ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, zudem nicht darauf ein, ob es sich bei der betreffenden Person um einen Deserteur oder Wehrdienstflüchtling handelt, noch darauf, ob nach dieser Person bereits gefahndet wird oder nicht.
Die aufgeworfene Grundsatzfrage war für das Verwaltungsgericht entscheidungserheblich. Es hat die Herkunft der Klägerin aus Aleppo und die (angebliche) Wehrdienstentziehung ihrer Söhne jeweils als gefahrerhöhend betrachtet, und angenommen, dass sie sich jedenfalls aufgrund der Kumulation dieser Umstände signifikant aus der Masse der möglichen Rückkehrer heraushebe. Die Entscheidung macht nicht deutlich, dass das Verwaltungsgericht jedes gefahrerhöhende Moment gesondert für die Annahme ausreichen lässt, die Klägerin werde bei einer Rückkehr nach Syrien in das Blickfeld der Sicherheitskräfte geraten.
Das Antragsverfahren wird als Berufungsverfahren fortgesetzt, der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht (§ 78 Abs. 5 Satz 3 AsylG).


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