Verwaltungsrecht

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Aktenzeichen  RN 13 K 21.30571

Datum:
23.11.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 52915
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom … 02.2021 wird in den Ziffern 4-6 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, für den Kläger das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich des Iraks festzustellen. 
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu 2/3 und die Beklagte zu 1/3 zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
IV. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Gläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über die Klage konnte entschieden werden, obwohl die Beklagte nicht zur mündlichen Verhandlung erschienen ist. Die Beteiligten waren ordnungsgemäß geladen und im Ladungsschreiben darauf hingewiesen worden, dass bei ihrem Ausbleiben auch ohne sie verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)).
Die zulässige Klage ist im Hinblick auf die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes begründet, im Übrigen aber unbegründet.
I. Der Kläger hat insoweit einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG. Das Bundesamt ist zu verpflichten, ein entsprechendes Abschiebungsverbot festzustellen und die Entscheidungen im streitgegenständlichen Bescheid aufzuheben, soweit sie dieser Feststellung entgegenstehen, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
1. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 14. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung nicht zulässig ist. Die Reichweite der Schutznormen des § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt. Unter Bezugnahme auf ein Urteil des EGMR vom 28. Juni 2011 im Verfahren Sufi und Elmi hat der Bayer. Verwaltungsgerichtshof im Beschluss vom 8. Januar 2018 – 20 ZB 17.30839 – u.a. dargelegt, dass in ganz außergewöhnlichen Fällen auch schlechte humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen könnten, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ seien. Hierbei sind indes auch die individuellen Umstände miteinzubeziehen. Auch eine unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK, die allein auf der humanitären Lage und den allgemeinen Lebensbedingungen beruht, ist in Einzelfällen denkbar.
Nach der Erkenntnislage des Gerichts besteht im gesamten Irak eine angespannte humanitäre Situation. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes zur Lage im gesamten Land kann der irakische Staat die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten. In den vom IS befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wiederhergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört. Die Stabilisierungsbemühungen und der Wiederaufbau durch die irakische Regierung werden intensiv von UNDP und internationalen Gebern unterstützt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 02.03.2020, S. 24 f.). Es ist außerdem nicht zu verkennen, dass auch die Region Kurdistan-Irak in Anbetracht der Veränderungen der letzten Jahre nicht mehr als wirtschaftlich prosperierend bezeichnet werden kann. Neben der dort herrschenden Finanzkrise gilt es auch die Versorgung der dort aufgenommenen (Binnen-) Flüchtlinge zu bewältigen. Die mehr als 900.000 Binnenflüchtlinge allein seit Anfang 2014 und die 250.000 syrischen Flüchtlinge haben nicht nur zu einer kritischen humanitären Versorgungslage der Flüchtlinge geführt (vgl. hierzu eingehend Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 52 ff.; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Security and humanitarian situation, März 2017, S. 33 ff.). Auch die lokale Bevölkerung wird durch die Bevölkerungszunahme in Bezug auf die Verteilung von Ressourcen, der stärkeren Konkurrenz um Arbeit und dem daraus entstehenden Druck auf die Löhne und damit das Haushaltseinkommen belastet (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, IRAK: Update: Sicherheitssituation in der KRG-Region, 28.3.2015, S. 2; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Stand 17.03.2020, Seite 134.).
Hinzutreten nunmehr die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie. Nach den Angaben des Bundesamts vom März 2020 verhängte die kurdische Regionalregierung Ausgangssperren. Der öffentliche Verkehr beschränke sich auf ein Minimum und Reisen zwischen den kurdischen sowie zwischen den kurdischen und irakischen Provinzen seien nur noch in Ausnahmefällen gestattet. Die Sicherheitskräfte seien autorisiert, Personen zu verhaften, die die Ausgangssperre nicht einhalten. In der Provinz Dohuk seien Ausgangssperren über alle Flüchtlings- und Vertriebenenlager verhängt worden. Konsequenzen seien zum einen der beinahe vollständige Stillstand des öffentlichen Lebens innerhalb der Camps, zum anderen die Einstellung der Bewegungen außerhalb der Camps. Dies bedeute, dass Tagelöhner ihre Arbeitsstellen nicht mehr erreichen könnten und kein Einkommen mehr hätten. Zudem sei die Arbeit von Hilfsorganisationen unterbrochen. Dadurch werde beispielsweise Essen nicht mehr geliefert (Bundesamt, Briefing Notes vom 30.03.2020, S. 3). Aufgrund steigender Infektionen wurde auch am 25.02.2021 ein Reiseverbot innerhalb aller Provinzen im Irak bekannt gegeben. Ausnahmen gibt es nur bei Reisen aus humanitären Gründen oder für staatliche Mitarbeiter, die sich auf Dienstreisen befinden (vgl. Bundesamt, Briefing Notes vom 01.03.2021, S. 6). Dass derartige Beschränkungen trotz dem Impfstart zwischenzeitlich aufgehoben worden sind, kann den aktuelleren Briefing Notes nicht entnommen werden.
Für den Fall der Rückkehr des Klägers wäre dieser aller Wahrscheinlichkeit mangels verfügbarem und bezahlbarem Wohnraums gezwungen, sich entweder bei seiner Familie in Zelten im Raum Shingal im inoffiziellen Flüchtlingslager … oder erneut in einem leerstehenden Haus … in der Grenzregion Dohuk/Ninewa niederzulassen, in welchem sein Bruder immer noch lebt. Das Gericht ist überzeugt, dass die Lage in den Flüchtlingslagern schwierig ist. Den Erkenntnismitteln kann zwar nicht entnommen werden, dass es in den Flüchtlingslagern in der Region Kurdistan-Irak generell an dem für ein menschenwürdiges Leben Erforderlichem mangelt. Vielmehr sind die meisten Flüchtlingslager der Region mit Elektrizität und Wasser versorgt (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Autonome Region Kurdistan: Lage von Rückkehrern aus dem Ausland: Schikanen, Diskriminierungen, Wohnraum, Kosten, Arbeitslosenrate, Erwerbsrestriktionen; Sozialsystem; Schwierigkeiten für Rückkehrer aus Europa, 29.3.2018). Es liegen auch keine Erkenntnisse zu fehlenden Unterbringungsmöglichkeiten, flächendeckenden Problemen bei der Nahrungsmittelversorgung oder zu hygienisch unhaltbaren Zuständen vor (vgl. zur allgemeinen Situation und Ausstattung der Flüchtlingslager unter anderem Danish Immigration Service, The Kurdistan Region of Iraq, Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation, April 2016, S. 115 f.; vgl. auch VG Düsseldorf, U. v. 25.10.2017, 20 K 1742/17.A, juris 79 ff.)
Das Gericht ist allerdings unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere aufgrund der Angaben des Klägers im Verwaltungs- und im gerichtlichen Verfahren sowie des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung, nicht zu der Überzeugung gelangt, dass es ihm im Falle einer Rückkehr gelingen würde, seinen Lebensunterhalt dauerhaft so weit zu sichern, dass ihm keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Es ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger dort mit Arbeitstätigkeiten das Existenzminimum für sich und seine Familie soweit sichern kann, dass es ihm gelingen könnte, das Flüchtlingslager in Shingal in absehbarer Zeit zu verlassen oder die Bauruine … zu einem zumutbaren Wohnhaus auszubauen.
Es ist im vorliegenden Einzelfall zu berücksichtigen, dass der Kläger, nachdem er seine Tätigkeit als Polizist nach 2014 nicht mehr ausüben konnte, keiner geregelten Arbeitstätigkeit mehr nachgegangen ist. Selbst wenn man unterstellt, dass er und sein zwischenzeitlich volljähriger Sohn Tätigkeiten im Niedriglohnsektor als Tagelöhner finden sollten, sind dies allenfalls Gelegenheitsarbeiten, mit welchen nicht der Lebensunterhalt für eine siebenköpfige Familie sichergestellt werden kann. Zudem ist die Situation am Arbeitsmarkt selbst in Kurdistan äußerst angespannt. Angesichts der Schwierigkeiten, die Flüchtlinge und IDPs in Irakisch-Kurdistan zu bewältigen haben, gerät oftmals aus dem Blick, dass die Aufnahme von Hunderttausenden auch für die irakischkurdische Bevölkerung – hier insbesondere für die ökonomische Unter- und Mittelschicht – erhebliche Härten mit sich bringt. Die Tatsache etwa, dass zahlreiche Flüchtlinge und IDPs ohne bzw. mit geringen Qualifikationen auf den Arbeitsmarkt drängen, bedeutet auch einen schlechteren Zugang geringqualifizierter irakischkurdischer Bürger zu vielen Jobs (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Stand 17.03.2020, Seite 134). Auch die Familie des Klägers lebt seit der Vertreibung und Zerstörung des Heimatorts im Jahr 2014 und seit dem Verlassen des Hauses in… in Zelten. Selbst zusammen mit seinem Bruder, der ihn immerhin bei der Ausreise unterstützt hat, ist es dem Kläger nicht gelungen, eine eigene Wohnung anzumieten oder die Bauruine in … zu einer zumutbaren, menschenwürdigen Unterkunft auszubauen. Das vorhandene Einkommen reicht nicht aus, dass sich der Kläger zusammen mit seiner Familie eine eigene Wohnung anmieten könnte und gleichzeitig genügend Einkommen vorhanden wäre, um sich die erforderlichen Nahrungsmittel zu leisten. Das Einkommen war augenscheinlich nicht einmal ausreichend, um das Haus … aus- bzw. umzubauen. Insoweit gibt der Kläger an, dass sie teilweise nur durch Spenden der anderen jesidischen Bürger haben überleben können. Die für den Kläger bereits für sich genommen unterdurchschnittlichen Chancen als Tagelöhner auf dem Arbeitsmarkt wurden durch die nunmehr aufgrund der Corona-Pandemie zugespitzte wirtschaftliche Krisensituation um ein Vielfaches reduziert, sodass nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass es auch dem Kläger in absehbarer Zeit gelingen könnte, sein Existenzminimum mit Gelegenheitsarbeiten soweit zu sichern, dass er mit seiner Familie das Camp in Shingal verlassen und sich eine Wohnung anmieten könnte.
Vor diesem Hintergrund ist dem Kläger im konkreten Einzelfall nationaler Schutz gem. § 60 Abs. 5 AufenthG zu gewähren, da er bei einer Rückkehr in den Irak aufgrund der drohenden dauerhaften Unterbringung in einem Flüchtlingslager tatsächlich Gefahr liefe, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden.
2. Wegen des einheitlichen Streitgegenstandes war über ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht mehr zu entscheiden.
Als Folge der Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbots waren nicht nur Ziffer 4, sondern auch Ziffern 5 und 6 des Bescheids des Bundesamts vom 22.02.2021 aufzuheben.
II. Im Übrigen ist die Klage abzuweisen. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, § 77 Abs. 1 Satz 1 Asylgesetz (AsylG), weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG, § 3 AsylG (vgl. unter 1.), noch liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 AsylG vor (vgl. unter 2.). Dies hat bereits das Bundesamt im angefochtenen Bescheid in nicht zu beanstandender Weise begründet. Der streitgegenständliche Bescheid ist daher rechtmäßig und verletzt den Kläger insoweit nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Ergänzend ist Folgendes auszuführen:
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG, § 3 Abs. 1 und 4 AsylG.
Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 die Rechtstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskommission – GFK) ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sind. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt gemäß § 3 Abs. 1 und 4 AsylG insbesondere voraus, dass der Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG vom Staat bzw. von Parteien oder Organisationen ausgehen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen oder aber von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten und dies unabhängig davon, ob im Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Die Flüchtlingseigenschaft wird zudem nicht zuerkannt, wenn im Herkunftsland eine interne Schutzmöglichkeit besteht, § 3e AsylG.
Es ist Sache des Schutzsuchenden, die Umstände, aus denen sich eine Verfolgung ergibt, in schlüssiger Form bei seinen Anhörungen beim Bundesamt und vor Gericht von sich aus vorzutragen, vgl. § 15 Abs. 1, § 25 Abs. 1 und 2 AsylG. Bezüglich der vom Ausländer im Asylverfahren geltend gemachten Umstände, die zu seiner Ausreise aus dem Heimatland geführt haben, genügt aufgrund der regelmäßig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Ausländers die Glaubhaftmachung. Die üblichen Beweismittel stehen ihm häufig nicht zur Verfügung, in der Regel können unmittelbare Beweise im Verfolgerland nicht erhoben werden. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Ausländers und dessen Würdigung eine gesteigerte Bedeutung zu. Dies bedeutet anderseits jedoch nicht, dass der Tatrichter einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist (vgl. z.B. BVerwG, Urteil vom 16. April 1985- 9 C 109/84). Eine Glaubhaftmachung in diesem Sinne setzt voraus, dass die Geschehnisse im Heimatland schlüssig, substantiiert und widerspruchsfrei geschildert werden. Erforderlich ist insbesondere eine anschauliche, konkrete und detailreiche Schilderung des Erlebten. Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann dem Ausländer nur geglaubt werden, wenn die Widersprüche und Ungereimtheiten überzeugend aufgelöst werden (vgl. z.B. BVerwG, Urteil vom 23. Februar 1988- 9 C 273/86). Das Gericht muss dabei die volle Überzeugung von der Wahrheit des behaupteten individuellen Schicksals und von der Richtigkeit der Prognose drohender Verfolgung gewinnen.
a) Nach den eigenen Ausführungen des Klägers ist er zusammen mit seiner Familie im Jahr 2014 aus Shingal vor dem IS geflüchtet und hat sich mit seiner Familie in Kurdistan niedergelassen. Zwar war der Hintergrund seiner Ausreise aus Kurdistan, dass er dort von den Asayish bedroht worden sei. Allerdings ist die Familie zwischenzeitlich wieder in die Region Shingal zurückgekehrt, sodass im Hinblick auf eine Verfolgung nicht auf die Fluchtalternative Kurdistan, sondern ausschließlich auf die Heimatregion Shingal abzustellen ist. Aufgrund der Rückkehr der Familie des Klägers in die Region Shingal kann auch nach den Ausführungen des Klägers in dieser Region nicht von einer unmittelbaren Verfolgung ausgegangen werden. Denn insoweit führt auch der Kläger aus, dass er mehrmals nach Shingal zurückgereist sei, beispielsweise um seinen Bruder zu beerdigen. Im Ergebnis bestehen damit keine Anhaltspunkte, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Shingal konkret unter Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal verfolgt werden würde.
b) Auch die dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel lassen im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eine Verfolgung des Klägers allein wegen der Zugehörigkeit zu der Glaubensgemeinschaft der Jesiden in Anknüpfung an ein Merkmal i. S. d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG bei einer Rückkehr in den Irak derzeit nicht als beachtlich wahrscheinlich erscheinen. Abzustellen ist grundsätzlich auf die Herkunftsregion des Klägers, in die er typischerweise zurückkehren werde (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013- 10 C 15/12 -, juris Rn. 13). Dies ist vorliegend Shingal in der Provinz Ninewa.
In Ansehung der hierzu ergangenen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung der jüngeren Zeit kann seit der Niederschlagung des IS nicht mehr davon ausgegangen werden, dass Jesiden
– im Nordirak (Autonome Region Kurdistan) allgemein (NdsOVG, U. v. 13.08.2019 – 9 LB 147/19 – juris Rn. 47; BayVGH, B. v. 09.01.2017 – 13a ZB 16.30689 – juris Rn. 4 f.; VG Augsburg, U. v. 04.06.2019 – Au 5 K 18.32006 – juris) bzw. in der Provinz Dohuk (VG Oldenburg, U. v. 07.06.2017 – 3 A 3731/16 – juris Rn. 35 ff.),
– allgemein in der Provinz Ninewa/Ninive (NdsOVG, U. v. 11.03.2021 – 9 LB 129/19 – juris Rn. 41 ff.; VG Karlsruhe, U. v. 04.07.2018 – A 10 K 17769/17 – juris Rn. 23 ff.; VG Gelsenkirchen, U. v. 04.03.2020 – 15a K 5013/18.A – juris  Rn. 27 ff.) bzw. konkret im Distrikt Shingal/Sinjar (NrwOVG; U. v. 10.05.2021 – 9 A 570/20.A, juris; NdsOVG, U. v. 30.07.2019 – 9 LB 133/19 – juris Rn. 52 ff.; VG Magdeburg, U. v. 16.10.2019 – 4 A 248/18 – juris Rn. 9 ff.)
noch eine beachtliche (Gruppen-)Verfolgung aufgrund ihrer Religions- bzw. Volkszugehörigkeit droht.
Gerade für den Distrikt Shingal führt das OVG Nordrhein-Westfalen im Urteil vom 10.05.2021 (Az. 9 A 570/20.A) wie folgt aus:
„Nach diesen Maßstäben ist der Senat unter Berücksichtigung der ihm vorliegenden Informationen zur aktuellen Lage im Irak zu der Überzeugung gelangt, dass eine Gruppenverfolgung von Yeziden im Distrikt Sindjar der Provinz Ninive derzeit nicht beachtlich wahrscheinlich ist. Angehörigen der Glaubensgemeinschaft der Yeziden droht dort aktuell weder durch den irakischen Staat (dazu a)) noch durch den IS (dazu b)) oder durch sonstige nichtstaatliche Dritte (dazu c)) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine an ihre Religion anknüpfende Verfolgung als Gruppe.
[…] Es sprechen zur Überzeugung des Senats stichhaltige Gründe dagegen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in den Distrikt Sindjar im Irak erneut von einer Gruppenverfolgung durch den IS bedroht wird.
Die tatsächlichen Verhältnisse im Irak und auch im Distrikt Sindjar haben sich insoweit zwischenzeitlich entscheidend verändert (dazu (1)). Die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte liegt nach Einschätzung des Senats im maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung nicht (mehr) vor (dazu (2)). Dass der IS zu einer Gruppenverfolgung der Yeziden im Sindjar in absehbarer Zeit erneut in der Lage wäre, ist im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats ebenfalls nicht zu erkennen (dazu (3)). So schon Nds. OVG, Urteil vom 30. Juli 2019 – 9 LB 133/19 -, juris Rn. 68 ff. (bezogen auf den damaligen Entscheidungszeitpunkt).
(1) Die Machtverhältnisse im Irak haben sich inzwischen maßgeblich verändert.
Der IS hat seine früheren Herrschaftsgebiete im Irak weitgehend verloren. Die von ihm kontrollierten Gebiete wurden nach und nach durch irakische Sicherheitskräfte und kurdische Peschmerga befreit. Die Stadt Sindjar wurde bereits im November 2015 zurückerobert. Im Juli 2017 wurde die seit Oktober 2016 andauernde Operation zur Befreiung Mosuls abgeschlossen.
Danach folgte die vergleichsweise schnelle Befreiung von Tal Afar, Hawija und der Grenzregion zu Syrien um al-Qaim. Vgl. AA, Lageberichte vom 18. Februar 2016 (Stand: Dezember 2015), S. 9, und vom 12. Februar 2018 (Stand: Dezember 2017), S. 4. Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den IS. Die Sicherheitslage im Irak hat sich seitdem verbessert. Vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Irak, 17. März 2020, S. 14.
Mit der Rückeroberung der vom IS besetzten Gebiete, namentlich auch der Region Sindjar, hat sich die Ausgangssituation im Vergleich zum Zeitpunkt der Vorverfolgung der Klägerin maßgeblich geändert und sprechen daher stichhaltige Gründe gegen eine Verfolgungswiederholung. Der Senat verkennt dabei nicht, dass der IS im Irak trotz seiner territorialen Zurückdrängung weiterhin aktiv ist. Allerdings lassen sich den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass der IS derzeit die yezidische Bevölkerung im Distrikt Sindjar (nach wie vor) als Gruppe verfolgt.
Schätzungen zufolge verfügt der IS im Irak über 3.500 bis 4.000 aktive und 8.000 passive Kämpfer, verteilt über elf regionale Sektoren im Irak. Etwa 2.000 der aktiven Kämpfer sollen in einigen wenigen, über das gesamte Land verteilten Gebieten (sog. „Triangles of Death“) konzentriert sein. Eines dieser „Todesdreiecke“ erstreckt sich über die Region südlich des Distrikts Sindjar. Vgl. Newline Institute for strategy and policy, ISIS 2020: New Structures and Leaders in Iraq Revealed, 19. Mai 2020. Auch weitere Quellen berichten von aktiven Zellen des IS, insbesondere auch in der Provinz Ninive. Im Süden dieser Provinz gibt es ausweislich einer Kartendarstellung von liveuamap einen Bereich, der sich offenbar unter der Kontrolle des IS befindet. Der Bereich erstreckt sich aber nicht auf den Distrikt Sindjar. 87 Vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Irak, 17. März 2020, S. 16; Kartendarstellungen auf www.southfront.org (Military situation in Iraq vom 20. Juli 2020 und vom 31. August 2020) und www.liveuamap.com; AA, Lagebericht vom 22. Januar 2021 (Stand: Januar 2021), S. 16; Knights/Almeida, Remaining and Expanding: The recovery of Islamic State Operations in Iraq in 2019-2020, in: CTC Sentinel (Volume 13, Issue 5), Mai 2020, S. 17.
Seit der Verkündung des territorialen Sieges des Irak über den IS hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt und ist vermehrt im Untergrund aktiv. Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes. Vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Irak, 17. März 2020, S. 16; AA, Lagebericht vom 22. Januar 2021 (Stand: Januar 2021), S. 6; Newline Institute for strategy and policy, ISIS 2020: New Structures and Leaders in Iraq Revealed, 19. Mai 2020; 90 Knights/Almeida, Remaining and Expanding: The recovery of Islamic State Operations in Iraq in 2019-2020, in: CTC Sentinel (Volume 13, Issue 5), Mai 2020, S. 17.
Die Taktik des IS umfasst Angriffe mit improvisierten Sprengvorrichtungen (improvised explosive device, IED) auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen. Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit IEDs durch. Er setzt nach wie vor auf Gewaltakte, aber vor allem gegen Regierungsziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter („strategy/war of attrition“). Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen. Vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Irak, 17. März 2020, S. 16 f; zu den sog. „mukhtar slayings“, nächtlichen Angriffen auf Dorfvorsteher, in Teilen der Provinz Ninive, siehe auch Knights/Almeida, Remaining and Expanding: The recovery of Islamic State Operations in Iraq in 2019-2020, in: CTC Sentinel (Volume 13, Issue 5), Mai 2020, S. 17 und 25; Joel Wing, Islamic State attacks decline in December 2020, 4. Januar 2021 (sämtliche Berichte von Joel Wing abrufbar unter www.musingsoniraq.blogspot.com).
Insbesondere in den beiden Provinzen Diyala und Kirkuk scheint der IS sein Fundament wieder aufzubauen. In der Provinz Ninive, die der IS vor allem als „Logistikroute“ nutzt, etwa um Material von Syrien in den Irak zu transportieren, gehen die IS-Aktivitäten dagegen tendenziell zurück. Offenbar bewegen sich die Aktivitäten leicht südwärts – was den IS auch näher an große Städte bringt. Vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Irak, 17. März 2020, S. 17; ACLED, A sudden surfacing of strength: Evaluation the possibility of an IS resurgence in Iraq and Syria, 24. Juli 2020, S. 6 f.; Joel Wing, Islamic State`s spring offensive in Iraq ends in June, 6. Juli 2020; EASO, Iraq – What is the security context and treatment of Yazidis in I…, 30. September 2020, S. 3.
Auf die Provinz Ninive entfielen im dritten Quartal ca. 11,5% der IS-Angriffe im Irak. Im vierten Quartal waren es ca. 12,3%, darunter Angriffe unmittelbar (süd-)westlich bzw. südlich der Stadt Sindjar. Vgl. Lead Inspector General Reports to the United States Congress, Operation Inherent Resolve, July 1, 2020 – September 30, 2020, S. 19, und October 1, 2020 – December 31, 2020, S. 14. Joel Wing erfasst in seinem Blog für das Jahr 2020 insgesamt 146 Aktivitäten des IS in der Provinz Ninive – mit einer vergleichsweise erhöhten Zahl von Vorfällen im April und Mai des Jahres. Vgl. Joel Wing, Islamic State Attacks Decline in December 2020, 4. Januar 2021 (Aktivitäten: Shootings, IEDs/Sticky Bombs, Gun Battles, Attacks on Checkpoints, Attacks on Mukhtars/Sheikhs, Kidnappings, Attacks on Towns, Suicide Bombers, Car Bombs). 99 Für Januar 2021 berichtet Joel Wing von neun Vorfällen in der Provinz Ninive unter Beteiligung des IS, für Februar 2021 von zwei Vorfällen. Vgl. Joel Wing, Violence continues to decline in Iraq winter 2020-21, 4. Februar 2021, und Security in Iraq, Feb 22-28, 2021, 2. März 2021. Aus der erhöhten Anzahl an Aktivitäten im Frühjahr 2020 („spring offensive“) liest Joel Wing zwei Tendenzen ab: Zum einen zeige die Offensive, dass die Stärke des IS zugenommen habe. Zum anderen lasse die Dauer der Offensive von nur zwei Monaten aber erkennen, dass der IS noch nicht zu einer ernsten Rückkehr in der Lage sei. Vgl. Joel Wing, Islamic State`s spring offensive in Iraq ends in June, 6. Juli 2020.
(2) Die Aktivitäten des IS gegenüber Yeziden im Distrikt Sindjar erfüllen bei der gebotenen wertenden Betrachtung aktuell nicht das Erfordernis der Verfolgungsdichte, so dass eine Gruppenverfolgung mit der Regelvermutung individueller Betroffenheit aller Yeziden nicht (mehr) angenommen werden kann.
Diesen Ausführungen schließt sich das Gericht auch vor dem Hintergrund der aktuellen Erkenntnismittel (bspw. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Irak – Lagebericht – 22.01.2021; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand 03.03.2021) vollumfänglich an. Unter Berücksichtigung, dass sich auch die Familie des Klägers in der Heimatregion Shingal aufhalte, ist daher im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht von einer zielgerichteten Verfolgung der Jesiden in diesem Gebiet auszugehen.
c) Im Ergebnis liegen damit die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht vor.
2. Dem Kläger steht auch kein Anspruch auf die hilfsweise begehrte Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 1 AsylG zu, da nach den Ausführungen des Klägers, diesem weder die Verhängung oder Vollstrekkung der Todesstrafe droht, noch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Insoweit wird vollumfänglich auf die obigen Ausführungen verwiesen.
Des Weiteren ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die, für die Betrachtung maßgebliche Herkunftsregion einer ernsthaften individuellen Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) ausgesetzt wäre.
Die Berufung auf die allgemeine Sicherheitslage im Irak ohne konkreten individuellen Bezug genügt insoweit nicht, um die Voraussetzungen von § 4 AsylG zu begründen. Der einen bestehenden Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt müsste ein derart hohes Niveau erreicht haben, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestünden, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in den Irak oder in die von einem bewaffneten Konflikt betroffene Region allein durch die dortige Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (BVerwG, U.v. 14.7.2009 – 10 C 09/08 – und U.v. 24.6.2008 – 10 C 43/07 – jeweils juris). Für die Beurteilung der Frage des Bestehens eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ist, sofern der Konflikt nicht landesweit besteht, auf die Herkunftsregion des Schutzsuchenden abzustellen, in die er typischerweise zurückkehren wird. Nach weitreichender Befreiung des Irak von der Terrormiliz IS besteht die für die Annahme eines subsidiären Schutzstatus erforderliche Gefahr eines ernsthaften Schadens in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konfliktes mit dem IS nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vorliegend generell nicht mehr fort.
Der Kläger stammt aus Shingal in der Provinz Ninewa.
Bei einem regional begrenzten Konflikt besteht ein Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aber nur dann, wenn der Schutzsuchende von ihm ernsthaft individuell bedroht ist und keine innerstaatliche Schutzalternative besteht. Das Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung kann als gegeben angesehen werden, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt nach der Beurteilung der zuständigen nationalen Behörden ein so hohes Niveau erreicht hat, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in die betroffene Region allein durch die Anwesenheit tatsächlich Gefahr läuft, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Liegen bei dem Betroffenen keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich; liegen gefahrerhöhende persönliche Umstände vor, genügt auch ein geringeres Niveau willkürlicher Gewalt (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.4.2010, 10 C 4/09, juris, Rn. 33). Zu diesen gefahrerhöhenden Umständen gehören in erster Linie solche persönlichen Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa, weil er von Berufs wegen – z.B. als Arzt oder Journalist – gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Dazu können aber auch solche persönlichen Umstände gerechnet werden, aufgrund derer der Antragsteller als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte – etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit – ausgesetzt ist.
Nach Auswertung der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnismittel besteht in der Provinz Ninewa kein internationaler oder innerstaatlicher Konflikt. Dies folgt bereits daraus, dass der IS durch die irakischen Streitkräfte landesweit fast vollständig zurückgedrängt wurde. Soweit der IS noch Selbstmordattentate und andere Anschläge verübt hat, bei denen Zivilpersonen verletzt oder getötet wurden (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Stand 03.03.2021, S. 23 f.) und soweit die Sicherheitslage in den vom IS zurückeroberten Gebieten noch prekär ist, da diese durch so genannte IEDs (improvisierte Sprengsätze) und Minen sowie durch Konflikte zwischen Milizen geprägt sind (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, a.a.O.), handelt es sich dabei um Einzelfälle, die jedenfalls kein solches Ausmaß erreichen, dass die Lage als innerstaatlicher Konflikt zu qualifizieren wäre (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 11.03.2021, 9 LB 129/19 – juris).
Letztlich kann aber sogar offenbleiben, ob ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vorliegt, da der Kläger jedenfalls keine individuellen gefahrerhöhenden Umstände geltend machen kann. Aus den aktuellen Erkenntnismitteln ergibt sich nicht, dass Jesiden derzeit bei einer Rückkehr nach Shingal nach der Verdrängung des IS einer gegenüber anderen Bewohnern der Region erhöhten Gefahr ausgesetzt wären. Nach den oben bereits im Zusammenhang mit der Frage nach dem Vorliegen einer Gruppenverfolgung getätigten Ausführungen stehen weder der Distrikt Shingal noch die Jesiden derzeit im Mittelpunkt der Aktivitäten des IS. Auch in Bezug auf die weiteren Handlungsakteure in der Region, insbesondere der schiitischen Milizen, ist dies nicht ersichtlich. Gezielte Übergriffe schiitischer Milizen gegenüber Jesiden in nennenswertem und im Verhältnis zu anderen Bewohnern des Distrikts überproportionalem Umfang sind den vorliegenden Erkenntnismitteln nicht zu entnehmen (vgl. dazu im Einzelnen ACCORD, ecoi.net-Themendossier zum Irak: Schiitische Milizen, 2.10.2020; NrwOVG; U. v. 10.05.2021 – 9 A 570/20.A, juris Rn. 221 ff)).
Nach alle dem war der Klage im tenorierten Umfang stattzugeben und selbige im Übrigen abzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO bzw. § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Klageanträge im Hinblick auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. des subsidiären Schutzes sind im Verhältnis zur Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten mit zwei Drittel zu bewerten, sodass die Klage lediglich zu einem Drittel erfolgreich ist.
Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit erging gemäß § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff Zivilprozessordnung (ZPO).


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