Verwaltungsrecht

Dispositivität der Ablehnung eines Asylantrags

Aktenzeichen  W 2 K 16.32324

Datum:
12.5.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 17, Art. 20
AsylG AsylG § 3, § 29 Abs. 1 Nr. 2
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 1 S. 2
VwVfG VwVfG § 47

 

Leitsatz

1 Die Ablehnung eines Asylantrags gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG steht nicht zur Disposition der Behörde. Ein Selbsteintrittsrecht wie Art. 17 Dublin III-VO es vorsieht, besteht gerade nicht. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2 Da sich die Rechtsfolgen eines gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnten Asylantrags sowohl im Hinblick auf den Rechtsschutz als auch die Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung erheblich von einem als unbegründet abgelehnten Asylantrag unterscheiden, kann die Ablehnung als unzulässig nicht im Wege einer Umdeutung gem. § 47 VwVfG aufrecht erhalten werden. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
3 Entsprechend dem in Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO zum Ausdruck kommenden Rechtsgedanken der asylrechtlichen Akzessorietät der rechtlichen Behandlung von nachgeborenen Kindern erstreckt sich die Rechtswidrigkeit und die Rechtsverletzung des Bescheides eines Asylantrags eines Elternteils auch auf dessen nachgeborene Kinder. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. November 2016 wird bezüglich der Kläger zu 2) bis 4) aufgehoben und bezüglich des Klägers zu 1) in Ziffer 4 und 5 aufgehoben.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Gemäß § 101 Abs. 2 VwGO kann das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Entsprechende Einverständniserklärungen liegen mit dem Schreiben des Klägerbevollmächtigten vom 7. April 2017 und der allgemeinen Prozesserklärung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 25. Februar 2016 mit Ergänzung vom 24. März 2016 vor.
Gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz Asylgesetz (AsylG) i.d.F. d Bek. vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), zuletzt geändert durch Gesetz vom 13. April 2017 (BGBl. I S. 872), ist für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage der Zeitpunkt der Entscheidungsfindung maßgeblich.
Zu diesem Zeitpunkt ist die Klage insgesamt zulässig und begründet.
Der angefochtene Bescheid vom 8. November 2011 ist bezüglich der Kläger zu 2 bis 4 insgesamt rechtswidrig und die Kläger dadurch in ihren Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 VwGO.
Der formal rechtmäßige Bescheid vom 8. November 2011 ist bezüglich der Kläger zu 2) bis 4) insgesamt materiell rechtswidrig. Da der Klägerin zu 2) nach ihrem plausiblen Vortrag bereits internationaler Schutz in Italien gewährt wurde, ist ihr Asylantrag bereits gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig. Es hätte keine Sachentscheidung über ihren Asylantrag ergehen dürfen.
Die Ablehnung eines Asylantrags gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG steht nicht zur Disposition der Beklagten. Ein Selbsteintrittsrecht wie Art. 17 der Dublin III VO es vorsieht, besteht gerade nicht. Aus § 37 Abs. 1 AsylG folgt nichts anderes. Dieser regelt lediglich die behördliche Fortsetzung des Asylverfahrens im Fall einer stattgebenden Gerichtsentscheidung im einstweiligen Rechtsschutz. Er gibt dem Bundesamt nicht die Befugnis zu einer Sachentscheidung unter Außerachtlassung von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Auch die Frage, ob § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG dahingehend verfassungskonform auszulegen ist, dass er nur Anwendung findet, wenn in dem Mitgliedstaat, der den internationalen Schutz verliehen hat, dem Ausländer keine durch systemische Mängel der Aufnahmebedingungen bedingte Verletzung von Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EU-Grundrechtscharta vorliegen (vgl. unter dem Az. 1 C 37.16 beim Bundesverwaltungsgericht anhängige Revision zum Urteil des VGH Hessen vom 4. November 2016 – dortiges Az. 3 A 1292/16.A) lässt – eine solche Auslegung unterstellt – jedenfalls nicht den Schluss zu, dass das Bundesamt einseitig über die Anwendung von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG disponieren könnte.
Da sich die Rechtsfolgen eines gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnten Asylantrags sowohl im Hinblick auf den Rechtsschutz als auch die Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung erheblich von einem als unbegründet abgelehnten Asylantrag unterscheiden, kann die Ablehnung als unzulässig auch nicht im Wege einer Umdeutung gem. § 47 VwVfG aufrecht erhalten werden.
Schon weil die Ablehnung des Asylantrags gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zur Übernahme des Abschiebungsschutzes bezüglich Nigeria gem. § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG führt, ist die Klägerin zu 2 durch die Ablehnung ihres Asylantrags als unbegründet auch tatsächlich in ihren Rechten verletzt.
Nach der sich aus den Akten ergebenden Sach- und Rechtslage hat das Gericht keinen Anlass zu Zweifeln, dass der Klägerin in Italien internationaler Schutz gewährt wurde. Sofern die Beklagte die Möglichkeit eines Widerrufes aufgrund der kurzzeitigen Rückkehr der Klägerin im Jahr 2010 in den Raum stellt, handelt es sich um eine Mutmaßung, der sie im Rahmen der erneuten Verbescheidung der klägerischen Asylanträge nachzugehen hat. Auch im Lichte der gerichtlichen Amtsermittlungspflicht besteht kein Anlass, die Ermittlungen der Beklagten im Hinblick auf einen möglichen Widerruf des in Italien gewährten internationalen Schutzes abzuwarten. Die im Rahmen der Anfechtungsklage begehrte Aufhebung des Bescheides ist entscheidungsreif. Das Gericht ist nicht gehalten, die im behördlichen Verfahren unterbliebenen Ermittlungen der Beklagten im Rahmen des Gerichtsverfahrens abzuwarten. Es bleibt der Beklagten unbenommen, sich aufgrund der nachträglich eingeleiteten Ermittlungen neu ergebende Erkenntnisse im Rahmen einer erneuten Verbescheidung der Asylanträge der Kläger zu 2) bis 4) zu berücksichtigen.
Entsprechend dem in Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO zum Ausdruck kommenden Rechtsgedanken der asylrechtlichen Akzessorietät der rechtlichen Behandlung von nachgeborenen Kindern erstreckt sich die Rechtswidrigkeit und die Rechtsverletzung auch auf die Kläger zu 3) und 4), die als nachgeborene Kinder der Klägerin zu 2) deren asylrechtliches Schicksal teilen. Damit war der Bescheid vom 8. November 2016 in Bezug auf die Kläger zu 2) bis 4) insgesamt aufzuheben.
Im Hinblick auf den Kläger zu 1) sind die Ziffern 4 und 5 des verfahrensgegenständlichen Bescheides im Lichte von Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK rechtswidrig. Die Beklagte hätte bei der Wahl des Zielstaats der Abschiebung das gem. § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG für die Kläger zu 2) bis 4) zu übernehmende Abschiebungsverbot nach Nigeria berücksichtigen müssen. In Bezug auf den Kläger zu 1) sind deshalb die Ziffern 4 und 5 des Bescheides vom 8. November 2016 aufzuheben. Auch hier bleibt es der Beklagten unbenommen, im Zusammenhang mit einer erneuten Verbescheidung der Anträge der Kläger zu 2) bis 4) einen Ergänzungsbescheid für den Kläger zu 1) zu erlassen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO. Das Gerichtsverfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11 und 711 ZPO.


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