Verwaltungsrecht

Dublin-Verfahren, Zielstaat Kroatien, Änderungsantrag, Ärztliches Attest, Schwangerschaft, Posttraumatische Belastungsstörung, Behandelbarkeit psychischer Erkrankungen

Aktenzeichen  M 5 S7 21.50744

Datum:
28.12.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 43251
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 7
AufenthG § 60a Abs. 2c S. 3

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragsteller haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Den Antrag auf aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung des Bescheids des Bundesamts vom … Oktober 2021 lehnte das Bayerische Verwaltungsgericht München mit Beschluss vom 11. November 2021 (M 5 S 21.50670) ab. Hinsichtlich des Sachverhalts wird in entsprechender Anwendung von § 77 Abs. 2 Asylgesetz (AsylG) und § 117 Abs. 3 und 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) auf die Ausführungen des Gerichts unter Nummer I des Beschlusses vom 11. November 2021 verwiesen und wie folgt ergänzt:
Mit Schreiben vom 1. Dezember 2021 beantragte der Bevollmächtigte der Antragsteller,
den Beschluss vom 11. November 2021 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung der Klage M 5 K 21.50669 anzuordnen.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, dass bereits im Eilverfahren geltend gemacht wurde, dass der Antragsteller zu 4) schwer traumatisiert sei und in ärztliche Behandlung sei. Zum damaligen Zeitpunkt konnte noch kein ärztliches Attest vorgelegt werden, da noch keine Untersuchung durch einen Arzt stattgefunden habe. Mittlerweile würde ein auf den … November 2021 datiertes ausführliches Attest bzw. ärztliches Gutachten vom Sozialpädiatrischen Zentrum L … vorliegen. Es sei anzunehmen, dass die medizinische Versorgung in Kroatien nur eine Grundversorgung oder Notversorgung umfassen würde. Eine weitergehende psychische Behandlung des Antragstellers zu 4) sei nicht abgedeckt, vor allem, wenn die Akteure in diesem Lande, also die Polizei zu den ersten Feindbildern des Kindes gehören würden. Es würde ein Selbsteintrittsrecht der Bundesrepublik Deutschland vorliegen, welches in diesem Fall ausgeübt werden solle und auch die Eltern des Antragstellers zu 4) sowie den Antragsteller zum 3) umfassen solle.
Mit Schriftsatz vom … Dezember 2021 wurde weiter vorgetragen, dass die Antragstellerin zu 2) im Ende des zweiten Schwangerschaftsmonats sei und bei ihr der Verdacht auf Schwangerschaftsdiabetes vorliegen würde. Zudem bestünde der Verdacht einer Lungentuberkulose.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend Bezug genommen auf die Gerichtssowie die beigezogene Behördenakte.
II.
Der zulässige Antrag ist unbegründet.
1. Weder rechtfertigen veränderte oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachte Umstände eine Änderung der im Beschluss vom 11. November 2021 getroffenen Entscheidung (§ 80 Abs. 7 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung/VwGO), noch sieht das Gericht einen Anlass, diese Entscheidung von Amts wegen zu ändern (§ 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO).
Nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung eines Beschlusses nach § 80 Abs. 5 VwGO wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen. Der Änderungsantrag ist zulässig, wenn das Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO rechtskräftig abgeschlossen ist und veränderte oder im vorangegangenen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachte Umstände vorgetragen werden, die ein Abweichen von der ursprünglichen Entscheidung rechtfertigen können (Eyermann, VwGO, Stand: 15. Auflage 2019, § 80 Rn. 134). Das Abänderungsverfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO darf nicht als Rechtsmittelverfahren zu einer vorhergehenden Entscheidung verstanden werden. Es dient allein der Möglichkeit, einer nachträglichen Änderung der Sach- und Rechtslage Rechnung zu tragen. Prüfungsmaßstab für die Entscheidung ist daher allein, ob nach der jetzigen Sach- und Rechtslage die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage geboten ist (vgl. BVerwG, B.v. 25.8.2008 – 2 VR 1/08 – juris; VGH BW, B.v. 6.12.2001 – 13 S 1824/01 – NVwZ-RR 2002, 908, juris; OVG NW, B.v. 7.2.2012 – 18 B 14/12 – juris). Dasselbe gilt bei einer Veränderung der Prozesslage, etwa aufgrund neuer Erkenntnisse. Darüber hinaus müssen die geänderten Umstände geeignet sein, eine andere Entscheidung herbeizuführen (vgl. VG Augsburg, B.v. 30.9.2013 – Au 5 S 13.30305 – juris Rn. 10).
2. Auch unter den nunmehr vorgetragenen Umständen ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) von der Rechtmäßigkeit der im Bescheid der Antragsgegnerin vom … Oktober 2021 verfügten Abschiebungsanordnung auszugehen. Eine Änderung oder Aufhebung des Beschlusses vom 11. November 2021 kommt somit nicht in Betracht.
Die Antragsteller tragen keine Gründe vor, die zielstaatsbezogene oder inlandsbezogene Abschiebungshindernisse begründen könnten oder die Antragsgegnerin zur Ausübung ihres Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO verpflichten würden. Insbesondere liegt auch nach den nunmehr vorgetragenen Umständen zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK oder nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor.
a) Die Antragstellerin zu 2) hat durch Vorlage des Mutterpasses nachgewiesen, dass sie (zum …11.2021 in der 7 SSW; aktuell somit in der 14 bis 15 SSW) schwanger ist. Die Schwangerschaft der Antragstellerin zu 2) außerhalb der Mutterschutzzeiten begründet jedoch kein Abschiebeverbot. Die Bestimmungen über die Mutterschutzfristen im Mutterschutzgesetz (vgl. § 3 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 MuSchG) sind bei der Frage der rechtlichen Durchführbarkeit einer Abschiebung entsprechend heranzuziehen. Damit besteht im Zeitraum von sechs Wochen vor bis acht Wochen nach der Entbindung grundsätzlich ein Abschiebungshindernis. Hierdurch sollen Gefahren für Mutter und Kind aufgrund der mit einer zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung verbundenen physischen und psychischen Belastung vermieden werden. Die Wertungen des Mutterschutzgesetzes sind im Rahmen der Durchführbarkeit von Abschiebungen zu berücksichtigen. Mit dem Beschäftigungsverbot innerhalb der Mutterschutzfrist korreliert ein Abschiebungsverbot, da die psychische und physische Belastung einer Schwangeren in dieser Zeit derart enorm ist, dass es durch eine zwangsweise Aufenthaltsbeendigung zu einer ernsthaften Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit der Mutter wie auch des (ungeborenen) Kindes kommen kann (vgl. VG München, B.v. 23.5.2019 – M 19 E 18.53032 – juris Rn. 17).
b) Soweit hinsichtlich der Antragstellerin zu 2) auf gesundheitliche Beschwerden hingewiesen wurde (Verdacht auf Schwangerschaftsdiabetes und Verdacht einer Lungentuberkulose) begründet dies kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach Kroatien. Zum einen fehlt es insoweit an – gemäß § 60a Abs. 2c i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG erforderlichen – ausreichend substantiierten ärztlichen Bescheinigungen. Zudem besteht in Kroatien eine hinreichende medizinische (Not-) Versorgung, die den Antragstellern auch zugänglich sein wird.
c) Auch die gesundheitlichen Beschwerden des Antragstellers zu 4) begründen kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach Kroatien. Das auf den … November 2021 datierte ärztliche Attest des Sozialpädiatrischen Zentrum L… diagnostiziert beim Antragsteller zu 4) eine sekundäre Enuresis nocturna sowie eine Posttraumatische Belastungsstörung.
Gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG soll von einer Abschiebung in einen anderen Staat dann abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden, § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG. Die Gefahr muss konkret sein, was voraussetzt, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustands alsbald nach der Rückkehr in das Heimatland eintreten würde (vgl. BVerwG, U.v. 25.11.1997 – 9 C 58/96 – BVerwGE 105, 383, juris). Eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes liegt nicht schon dann vor, wenn von einer Heilung der Erkrankung im Zielland der Abschiebung wegen der dortigen Verhältnisse nicht auszugehen ist, die Erkrankung sich aber auch nicht gravierend zu verschlimmern droht. Das Abschiebungsverbot dient nämlich nicht dazu, dem ausreisepflichtigen erkrankten Ausländer die Heilung seiner Erkrankung im Rahmen des sozialen Systems der Bundesrepublik Deutschland zu eröffnen; vielmehr stellt es alleine den Schutz vor einer gravierenden Beeinträchtigung von Leib und Leben im Zielland einer Abschiebung oder Rückkehr sicher. Der Ausländer muss sich grundsätzlich auf den Behandlungsstandard, der in seinem Herkunftsland für die von ihm geltend gemachten Erkrankungen allgemein besteht, verweisen lassen, wenn damit keine grundlegende Gefährdung verbunden ist (OVG NW, B.v. 15.9.2003 – 13 A 2597/03.A – juris). Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist, § 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist, § 60 Abs. 7 S. 4 AufenthG. Die Erkrankung, muss durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung im Sinne des § 60a Abs. 2c AufenthG nachgewiesen werden, der auch auf § 60 Abs. 7 AufenthG anwendbar ist (vergleiche z.B. BayVGH, B.v. 13.12.2018 – 13a ZB 18.33056 – juris).
aa) Die vorgelegte fachärztliche Bescheinigung genügt schon nicht den Anforderungen an eine qualifizierte fachärztliche Bescheinigung nach § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG.
In der fachärztlichen Bescheinigung des Sozialpädiatrischen Zentrum L … vom … November 2021 ist angegeben, dass der Antragsteller zu 4) an einer sekundären Enuresis nocturna sowie an einer Posttraumatische Belastungsstörung leide. Es wird u.a. eine Anbindung an Refugio München, der Eintritt in eine Kita, sowie der Beginn einer Psychotherapie empfohlen.
Angaben zum Schweregrad der Erkrankung sowie den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 fehlen teilweise. Auch Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Antragsteller zu 4) in ambulanter oder stationärer ärztlicher Behandlung befunden hat, sind in der Bescheinigung nicht enthalten. Schließlich sind auch die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, nicht aufgeführt. Dies sind jedoch zwingende Merkmale einer qualifizierten ärztlichen Bescheinigung nach § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG.
bb) Darüber hinaus sind beide Krankheitsbilder in Kroatien behandelbar (siehe Ausführungen zur Behandelbarkeit auch psychischer Erkrankungen in Kroatien im Beschluss vom 11.11.2021 – M 5 S 21.50670 – Rn. 19 mit weiteren Nachweisen).
Somit ist auch unter den nunmehr vorgetragenen Umständen zum gegenwärtigen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) von der Rechtmäßigkeit der im Bescheid der Antragsgegnerin vom … Oktober 2021 verfügten Abschiebungsanordnung auszugehen. Eine Änderung oder Aufhebung des Beschlusses vom 11. November 2021 kommt somit nicht in Betracht.
Der Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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