Verwaltungsrecht

Einstweiliger Rechtsschutz, Erteilung eines Aufenthaltstitels, besondere Erteilungsvoraussetzungen, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Nichtvorliegen eines Ausweisungsinteresses, Duldung, schützenswerte familiäre Bindungen, krankheitsbedingtes Abschiebungshindernis, Suizidgefahr, qualifizierte ärztliche Bescheinigung

Aktenzeichen  10 CS 21.2481

Datum:
22.10.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 33542
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 42 Abs. 1
VwGO § 80 Abs. 5 S. 1
VwGO § 123 Abs. 1
AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2
AufenthG § 25 Abs. 4
AufenthG § 28 Abs. 1
AufenthG § 60a Abs. 2 Satz 1, Abs. 2c
GG Art. 2 Abs. 2 S. 1
GG Art. 6 Abs. 1
EMRK Art. 8 Abs. 1

 

Leitsatz

Verfahrensgang

M 25 SE 21.4370 2021-09-13 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.750,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit der Beschwerde verfolgt der Antragsteller seinen vor dem Verwaltungsgericht erfolglosen Eilantrag weiter, die aufschiebende Wirkung seiner Klage hinsichtlich der mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 19. Juli 2021 erfolgten Ablehnung seiner Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels anzuordnen bzw. hilfsweise seine Abschiebung vorübergehend auszusetzen.
Die zulässige Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Die dargelegten Gründe, auf die der Verwaltungsgerichtshof seine Prüfung nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, rechtfertigen keine Abänderung des angefochtenen Beschlusses.
Das Verwaltungsgericht hat den Eilantrag im Wesentlichen mit der Begründung abgelehnt, der zulässige Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO bleibe ohne Erfolg, weil dem Antragsteller ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht zustehe. Es fehle bereits an der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1, § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG), weil der Antragsteller seit April 2020 Arbeitslosengeld II beziehe und ein konkretes Arbeitsplatzangebot nicht vorliege. Zudem begründeten die strafrechtlichen Verurteilungen des Antragstellers wegen vielfacher Beleidigungen, Nötigungen und Verstöße gegen das Gewaltschutzgesetz ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse (§ 5 Abs. 1 Nr. 2, § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG), das der Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis ebenfalls entgegenstehe. Darüber hinaus lägen auch die besonderen Erteilungsvoraussetzungen für die begehrte Aufenthaltserlaubnis nicht vor. Eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 bzw. Satz 4 AufenthG komme nicht in Betracht, weil der Antragsteller keine Personensorge für sein deutsches Kind ausübe und auch eine familiäre Gemeinschaft nicht gelebt werde. Auch ein Anspruch nach § 31 AufenthG komme beim Antragsteller, der zuletzt im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug zu seinem Kind gewesen sei, nicht in Betracht. Schließlich bestehe auch mangels unzumutbarer Härte kein Anspruch nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG. Der Antragsteller habe – wenn auch nach seinen Angaben unfreiwillig – in den letzten Jahren keinen Kontakt zu seinem Kind gehabt. Eine Rückkehr in den Kosovo sei ihm möglich und zumutbar, da er dort aufgewachsen sei, die Sprache spreche und sich auch nach der Ausreise im Kosovo aufgehalten und dort zum Beispiel im Jahr 2011 geheiratet habe. Den für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung erforderlichen Anordnungsanspruch auf Erteilung einer Duldung habe der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht. Die gesetzliche Vermutung gemäß § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG, dass seiner Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen, habe er nicht durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung widerlegt. Die vorgelegten Bescheinigungen vom 7. Mai 2004 und 30. September 2005 sowie ein im familiengerichtlichen Verfahren erstelltes psychologisches Fachgutachten vom 16. Januar 2018 könnten keinen Nachweis über eine aktuelle Erkrankung erbringen. Die vorgelegte Stellungnahme des Kinderschutzbundes vom 10. August 2021 sowie das Attest vom 16. August 2021 bestätigten lediglich, dass der Antragsteller in Behandlung (Verhaltenstherapie) sei, erfüllten jedoch nicht die Anforderungen an eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung gemäß § 60a Abs. 2c AufenthG. Der Antragsteller sei auch nicht unverschuldet an der Vorlage einer solchen Bescheinigung gehindert gewesen. Im Übrigen seien posttraumatische Belastungsstörungen und depressive Störungen auch im Kosovo behandelbar. Eine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ergebe sich auch nicht aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK. Der Antragsteller lebe mit seinem Kind nicht in familiärer Gemeinschaft und habe derzeit auch keine Umgangskontakte. Er sei erst im Alter von 19 Jahren in das Bundesgebiet eingereist und habe trotz seines langen Aufenthalts in Deutschland nicht jeglichen Kontakt zum Kosovo verloren. Er sei auch nicht vollständig in Deutschland integriert.
Demgegenüber macht der Antragsteller im Beschwerdeverfahren im Wesentlichen geltend, das Verwaltungsgericht habe das Ausweisungsinteresse gegenüber dem Bleibeinteresse falsch gewichtet. Es habe das Ausweisungsinteresse ausschließlich unter Verweis auf die strafrechtlichen Verurteilungen in der Vergangenheit gestützt und keine eigenständige Prognose über eine andauernde Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung angestellt. Die beim Antragsteller geahndeten Straftaten stünden alle im Zusammenhang mit familiengerichtlichen Auseinandersetzungen mit seiner geschiedenen Ehefrau bezüglich des gemeinsamen Sohnes und beinhalteten weder körperliche Auseinandersetzungen noch Verletzungen. Infolge dieser anhaltenden Auseinandersetzungen und der Sorge des Antragstellers um seinen Sohn sei es zu „emotionalen Impulsdurchbrüchen gegenüber der geschiedenen Ehefrau“ gekommen. Seit Ende 2019 befinde sich der Antragsteller jedoch bei einem Diplom-Psychologen zur Bearbeitung der eingeschränkten Impulskontrolle in Beratung. Beleidigungen gegenüber der Kindesmutter seien in der Zwischenzeit nicht mehr erfolgt, weshalb die Prognose erneuter Straffälligkeit nicht mehr gerechtfertigt sei. Bis zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Bescheids habe beim Antragsteller auch keine Lebens- und Gesundheitsgefahr vorgelegen, die „innerhalb der Prognose mitberücksichtigt hätte werden müssen“. Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts habe der Antragsteller inzwischen jede Verbindung zum Kosovo verloren, sein Lebensmittelpunkt liege ausschließlich in Deutschland. Lediglich die Heirat sei 2011 im Kosovo erfolgt. Nicht hinreichend berücksichtigt sei zudem das Bleibeinteresse des Antragstellers, der mehr als die Hälfte seines Lebens in Deutschland verbracht und hier eine Familie gegründet habe, fließend Deutsch spreche und dessen berufliche Integration lediglich infolge der Corona-Pandemie behindert worden sei. Nicht berücksichtigt sei ferner die ihm im Falle einer Ausweisung drohende „Leib- und Lebensgefahr“. Er befinde sich seit 2019 regelmäßig bei einem Psychologen in Therapie und bemühe sich um psychiatrische Behandlung. Zwar habe er ein entsprechendes fachärztliches Attest noch nicht beibringen können, jedoch seine psychische Erkrankung (PTBS, schwere Depression) und drohende Suizidgefahr hinreichend dargelegt. Für den Fall der Ausweisung drohe ihm eine Retraumatisierung. Seit 2015 lebe er mit einer 80-jährigen schwerbehinderten Dame in einem Haushalt und kümmere sich um sie. In dem familiengerichtlichen Verfahren vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main sei ein Anhörungstermin wegen der elterlichen Sorge für seinen Sohn im Zeitraum 17. November bis 13. Dezember 2021 beabsichtigt. Auch deshalb sei die aufschiebende Wirkung seiner Klage anzuordnen. Vor diesem Hintergrund überwiege sein Bleibeinteresse das Ausweisungsinteresse.
Dieses Vorbringen verhilft der Beschwerde jedoch nicht zum Erfolg. Bei der nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmenden Interessenabwägung unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache (vgl. Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 80 Rn. 89) – hier: Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 2. Alt. VwGO auf Erteilung des begehrten Aufenthaltstitels – überwiegt das öffentliche Vollzugsinteresse, weil das Verwaltungsgericht zu Recht festgestellt hat, dass die Ablehnung der Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels voraussichtlich rechtmäßig und der Antragsteller dadurch nicht in seinen Rechten verletzt ist (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Den selbständig tragenden Feststellungen des Verwaltungsgerichts, dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach den hier in Betracht zu ziehenden Anspruchsgrundlagen auch am Vorliegen der dafür jeweils erforderlichen besonderen Erteilungsvoraussetzungen scheitere, ist der Antragsteller im Beschwerdeverfahren nicht substantiiert entgegengetreten (s. § 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO).
Unabhängig davon hat das Verwaltungsgericht aber auch zu Recht das Fehlen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 AufenthG festgestellt. Dass die aktuellen und verwertbaren rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilungen des Klägers (in den Jahren 2018 und 2020) wegen vielfacher Beleidigungen, Nötigungen und Verstöße gegen das Gewaltschutzgesetz (noch) ein spezialpräventives Ausweisungsinteresse im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG begründen, hat die Antragsgegnerin im zugrundeliegenden Bescheid vom 19. Juli 2021 auch mit Blick auf die Anzahl der Fälle, die „Penetranz bei der Begehung der Taten“, die vom Antragsteller gezeigte Unbelehrbarkeit und den fortbestehenden Konflikt mit der Kindesmutter in Bezug auf das Sorgerecht für das gemeinsame Kind in rechtlich nicht zu beanstandender Weise begründet. Darüberhinausgehende Prognoseerwägungen des Verwaltungsgerichts waren auch im Hinblick auf das Vorbringen im Eilrechtsschutzverfahren nicht veranlasst.
Die Beschwerde bleibt aber auch bezüglich des (hilfsweise gestellten) Antrags nach § 123 Abs. 1 VwGO auf vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung) ohne Erfolg, weil das Verwaltungsgericht zu Recht davon ausgegangen ist, dass der für den Erlass dieser einstweiligen Anordnung erforderliche Anordnungsanspruch nicht in einer den Anforderungen des § 123 Abs. 1 und 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO genügenden Weise glaubhaft gemacht worden ist. Der Antragsteller hat keine Umstände dargelegt und glaubhaft gemacht, die es nahelegen, dass seine Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist (§ 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG).
Schützenswerte familiäre Bindungen des Antragstellers, die eine Abschiebung nach Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK aus familiären Gründen rechtlich unmöglich machen könnten (vgl. zuletzt z.B. BayVGH, B.v. 3.5.2021 – 10 CE 21.1038 – juris Rn. 4; B.v. 19.7.2021 – 10 CE 21.1834 – juris Rn. 8 f.), hat das Verwaltungsgericht mit Blick auf das nach wie vor fehlende Sorgerecht, eine nicht bestehende familiäre Gemeinschaft zwischen dem Antragsteller und seinem Sohn, dem auch in den letzten Jahren fehlenden Kontakt zum Kind und die erforderliche Therapie (beider Eltern) vor einer etwaigen Kontaktaufnahme in rechtlich nicht zu beanstandender Weise verneint. Gründe dafür, dass eine Abschiebung des Antragstellers zu einer unzumutbaren Trennung und damit einem unverhältnismäßigen Eingriff in Art. 6 Abs. 1 und 2 GG bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK führen würde, werden mit dem Beschwerdevorbringen nicht dargelegt oder gar glaubhaft gemacht. Ein möglicher Anhörungstermin vor dem Familiengericht im Zeitraum Mitte November bis Mitte Dezember 2021 genügt dafür jedenfalls nicht.
Auch die geltend gemachte „Mutter-Sohnähnliche Bindung“ des Antragstellers zu einer 80-jährigen schwerbehinderten Frau ist nicht geeignet, einen unverhältnismäßigen Eingriff in Art. 8 Abs. 1 EMRK zu begründen.
Schließlich hat das Verwaltungsgericht ohne Rechtsfehler festgestellt, dass ein krankheitsbedingtes (rechtliches) Abschiebungshindernis beim Antragsteller auch nicht aufgrund einer konkreten Gefahr für das in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte Rechtsgut Leib und Leben vorliegt. Dabei ist es zutreffend davon ausgegangen, dass nach § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG gesetzlich vermutet wird, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Demgemäß muss der Ausländer eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, gemäß § 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen, die den Anforderungen gemäß § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG genügt. Auch das Beschwerdevorbringen zeigt nicht auf, dass diese Voraussetzungen im Fall des Antragstellers erfüllt sind. Vielmehr bezieht sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde erneut auf die bereits vom Verwaltungsgericht als nicht ansatzweise ausreichend gewürdigten (ärztlichen) Bescheinigungen bzw. sonstigen Bestätigungen. Weder wird durch das Beschwerdevorbringen eine Reiseunfähigkeit im engeren oder im weiteren Sinne (vgl. dazu zuletzt BayVGH, B.v, 22.7.2021 – 10 CE 21.1639 – juris Rn. 18 m.w.N.) noch die behauptete (konkrete) Suizidgefahr substantiiert dargelegt oder gar glaubhaft gemacht. Auch die zuletzt vorgelegte Terminbestätigung des Klinikums der Universität München, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, ist dafür nicht ausreichend.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 39 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr.1 und 2, § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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