Verwaltungsrecht

Entscheidung in der Sache, Fachgebietsgrenzen, Frauenarzt, Unzulässigkeit, Widerspruch

Aktenzeichen  L 12 KA 77/19

Datum:
9.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 42250
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
GOP 01737 EBM
GOP 01738 EBM
GOP 32457 EBM
SGG § 78, § 84
SGB V § 135

 

Leitsatz

1. Die Frage, ob eine Widerspruchsbehörde über einen unzulässigen Widerspruch in der Sache entscheiden kann, führt nicht unter dem Gesichtspunkt “Durchführung des Vorverfahrens” zur Unzulässigkeit der Klage, sondern ist eine im Rahmen der Begründetheit der Klage zu prüfende Frage der Rechtmäßigkeit des Widerspruchsbescheides und der Bestandskraft des Ausgangsbescheides.
2. Der Erteilung einer Genehmigung für die Durchführung und Abrechnung der GOP 01738 und 32457 EBM für einen Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe steht bereits entgegen, dass die Leistungen für ihn fachfremd sind.
1. Die Formvorschrift des § 84 SGG steht nicht zur Disposition der Verfahrensbeteiligten, sodass die Behörde nicht berechtigt ist, bei einem formfehlerhaften Widerspruch in der Sache zu entscheiden.  (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Erbringung und Abrechnung präventiver und kurativer iFOBT bedürfen einer Genehmigung, die aufgrund der Fachfremdheit Fachärzten für Frauenheilkunde und Geburtshilfe nicht erteilt werden darf. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 43 KA 108/18 2019-10-24 Urt SGMUENCHEN SG München

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 24.10.2019 wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Die Revision wird zugelassen.

Gründe

Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet.
Das Sozialgericht München hat mit dem angefochtenen Urteil vom 24.10.2019 die Klage des Klägers im Ergebnis zu Recht abgewiesen.
Der Senat prüft in der Berufungsinstanz die Statthaftigkeit der Berufung sowie die Zulässigkeit und die Begründetheit der Klage.
Vorliegend war die Klage des Klägers statthaft und zulässig.
Dem Vorliegen der Sachurteilsvoraussetzung „Durchführung des Vorverfahrens“ steht nicht entgegen, dass nach Auffassung des Senats der mit zwei E-Mails eingelegte Widerspruch des Klägers in formeller Hinsicht unzulässig war und die Beklagte deshalb den Widerspruch bereits als unzulässig hätte zurückweisen müssen, anstelle über ihn in der Sache zu entscheiden.
Die Frage, welche Anforderungen das Prozessrecht hinsichtlich des Vorverfahrens an eine zulässige Klage stellt, ist gemäß § 78 Abs. 1 Satz 1 SGG zu beurteilen.
Gemäß § 78 Abs. 1 Satz 1 SGG ist vor Erhebung der Anfechtungsklage bzw. gemäß § 78 Abs. 3 SGG vor Erhebung der Verpflichtungsklage Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsaktes in einem Vorverfahren nachzuprüfen. Die Regelung verlangt eine Prüfung hinsichtlich Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit, so dass allein die Durchführung eines Vorverfahrens als solches nicht genügt. Von den sich unmittelbar aus § 78 Abs. 1 Satz 1 SGG ergebenden Anforderungen an Inhalt der Prüfung und Entscheidung durch die Widerspruchsbehörde ist die weitere Frage zu unterscheiden, ob der Widerspruch zulässig erhoben sein muss. Vorliegend hat die Widerspruchsbehörde rein tatsächlich über einen unzulässigen Widerspruch in der Sache entschieden. Ob sie das darf, ist aber keine Frage der Erfüllung der Sachurteilsvoraussetzung „Durchführung des Vorverfahrens“, sondern eine im Rahmen der Begründetheit zu beurteilende Frage der Rechtmäßigkeit des Widerspruchsbescheides und der Bestandskraft des Ausgangsbescheides. Wenn die Behörde trotz der Unzulässigkeit des Widerspruchs eine Entscheidung in der Sache trifft, hat sie inhaltlich über Rechts- und Zweckmäßigkeit des Ausgangsbescheides entschieden, so dass dem Vorverfahrenserfordernis des § 78 Abs. 1 Satz 1 SGG genüge getan ist (vgl. zum Ganzen Burkiczak, SGB 2016, 189, 192 mit zahlreichen weiteren Nachweisen aus Rechtsprechung und Literatur).
Die Klage war aber unbegründet.
Die Beklagte hat vorliegend über einen unzulässigen Widerspruch in der Sache entschieden, weswegen der Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 21.03.2018 insoweit rechtswidrig ist. Die nicht formgerechte Erhebung des Widerspruchs hat zur Folge, dass der Ausgangsbescheid vom 26.06.2017 bestandskräftig geworden ist und die Klage gegen diesen Bescheid daher allein aus diesem Grunde schon unbegründet ist, ohne dass es auf die Rechtmäßigkeit des Ausgangsbescheides im Weiteren noch ankäme.
Die Widerspruchsschreiben des Klägers in Form zweier E-Mails vom 21.07.2017, 10.43 Uhr bzw. 11.09 Uhr – einmal ohne Unterschrift, einmal mit eingescannter Unterschrift – entsprechen nicht der Form des § 84 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 SGG in der bis 31.12.2017 geltenden Fassung ist der Widerspruch binnen eines Monats, nachdem der Verwaltungsakt dem Beschwerten bekanntgegeben worden ist, schriftlich oder zur Niederschrift bei der Stelle einzureichen, die den Verwaltungsakt erlassen hat. Der Schriftform ist genügt, wenn der Widerspruch schriftlich fixiert worden ist und die eigenhändige Unterschrift des Widerspruchsführers trägt. Das Formerfordernis dient der Rechtssicherheit. Es soll sicherstellen, dass der Widerspruch gerade vom Widerspruchsführer willentlich mit diesem Inhalt erhoben wurde. Deshalb ist ein Widerspruch auch ohne Unterschrift wirksam erhoben, wenn er Widerspruchsführer und Verbindlichkeit ohne weitere Ermittlungen erkennen lässt. Dies ist im Falle der Einlegung des Widerspruchs durch eine einfache E-Mail nicht der Fall. Der elektronischen Form ist auch dann nicht genüge getan, wenn die E-Mail – wie hier – von der Behörde ausgedruckt wird. Die bestehenden Zweifel an der Authentizität des Widerspruchsführers sind vorliegend auch nicht durch spätere Handlungen des Klägers beseitigt worden. Ganz im Gegenteil. Der Kläger war mit Schreiben vom 08.02.2018 ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht worden, dass sein mit einfacher E-Mail eingelegter Widerspruch nicht dem Schriftformerfordernis und auch nicht der elektronischen Form entspricht. Er wurde daher gebeten, den Widerspruch in Originalunterschrift einzureichen oder im Hinblick auf die auch inhaltliche Unbegründetheit des Begehrens den Widerspruch zurückzunehmen. Anderenfalls würde der Widerspruch als unzulässig verworfen. Auf dieses Schreiben hat der Kläger in keiner Weise reagiert.
Die Beklagte hat schließlich mit Widerspruchsbescheid vom 21.03.2018 entgegen der Ankündigung im Schreiben vom 08.02.2018 den Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen, ohne auf die dargelegten Bedenken gegen die Zulässigkeit des Widerspruchs einzugehen. Die Beklagte war aber jedenfalls bei einem nicht formgerechten Widerspruch nicht berechtigt, über diesen Widerspruch unter Negierung des Formmangels in sachlicher Hinsicht zu entscheiden (in diesem Sinne Binder in Lüdtke/Berthold, Sozialgerichtsgesetz-Handkommentar, § 84 Rdnr. 6; Jüttner in Fichte/Jüttner, Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz, 3. Auflage 2020 § 84 Rdnr. 16; Burkiczak a. a. O. S. 193; anderer Ansicht: B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz, 13. Auflage 2020 § 84 Rdnr. 7). Die Formvorschriften des § 84 SGG stehen nicht zur Disposition der Verfahrensbeteiligten und auch nicht der Behörde (vgl. Becker in Roos/Warendorf, Kommentar zum SGG 2014, § 84 Rdnrn. 27, 29). Wie bei jedem anderen Rechtsbehelf führt die Verfehlung zwingender Vorgaben zur Unzulässigkeit des jeweiligen Rechtsbehelfes. Damit wird zugleich der mit dem Widerspruch angegriffene Verwaltungsakt bestandskräftig. Die Voraussetzungen für die Überwindung dieser Bestandskraft sind abschließend in den §§ 44 ff. SGB X geregelt. Die Klage war daher ohne Sachprüfung als unbegründet abzuweisen.
Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass er die Entscheidung des Sozialgerichts vom 24.10.2019 inhaltlich für zutreffend erachtet.
Die Genehmigungspflicht für die Durchführung und Abrechnung der GOP 01738 EBM ergibt sich aus Ziffer 5 der Präambel zu Abschnitt 1.7 EBM in Verbindung mit § 9 Abs. 2 Satz 1 des Teils II D der Richtlinie für organisierte Früherkennungsprogramme des Gemeinsamen Bundesausschusses (oKFE-RL, aktuelle Fassung, in Kraft getreten am 28.08.2020) bzw. bezüglich der GOP 32457 EBM-Ä aus Ziff. 2 der Präambel zu Abschnitt 32.3 EBM-Ä (Verweis auf die erforderliche Genehmigung nach der QSV Speziallabor nach § 135 Abs. 2 SGB V).
Der Erteilung der Genehmigung für die Durchführung und Abrechnung der GOP 01738 und 32457 EBM steht bereits entgegen, dass diese Leistungen für den Kläger als Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe als fachfremd anzusehen sind.
Die für den Kläger als zugelassenen Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe abrechenbaren Leistungen ergeben sich aus dem Kapitel 8 (frauenärztliche, geburtshilfliche und reproduktionsmedizinische Gebührenordnungspositionen) EBM. Die Ziffer 4 der Präambel 8.1 zum fachgruppenspezifischen Kapitel 8 EBM führt auf, welche GOP aus dem Bereich II – arztgruppenübergreifende allgemeine Leistungen – Fachärzte für Frauenheilkunde und Geburtshilfe – unbeschadet der Regelungen gemäß 5 und 6.2 der Allgemeinen Bestimmungen zusätzlich berechnet werden können.
Die Ziffer 5 der Präambel 8.1 zu Kapitel 8 EBM führt aus, welche arztgruppenübergreifenden speziellen Leistungen – unbeschadet der Regelungen gemäß 5 und 6.2 der Allgemeinen Bestimmungen – von Fachärzten für Frauenheilkunde und Geburtshilfe zusätzlich berechnet werden können. Die Durchführung und Abrechnung von Leistungen gemäß Ziffer 4 und 5 der Präambel 8.1 steht aber gemäß der Ziffer 6 der Präambel 8.1 unter der grundsätzlichen berufsrechtlichen Verpflichtung zur Beschränkung auf das jeweilige Gebiet.
Gemäß Abschnitt A § 2 Abs. 2 Satz 2 der Weiterbildungsordnung für die Ärzte Bayerns vom 24.04.2004 (WBO) bestimmt die Gebietsdefinition die Grenzen für die Ausübung der fachärztlichen Tätigkeit.
Nach Abschnitt B Ziffer 8 WBO umfasst das Fachgebiet Frauenheilkunde und Geburtshilfe die Erkennung, Vorbeugung, konservative und operative Behandlung sowie Nachsorge von geschlechtsspezifischen Gesundheitsstörungen der Frau einschließlich plastisch-rekonstruktiver Eingriffe der gynäkologischen Onkologie, Endokrinologie, Fortpflanzungsmedizin, der Betreuung und Überwachung normaler und gestörter Schwangerschaften, Geburten und Wochenbettverläufe sowie der Prä- und Perinatalmedizin und die Proktologie, soweit für Erkrankungen des Gebietes erforderlich.
Das Kolonkarzinom ist keine „geschlechtsspezifische Gesundheitsstörung der Frau“. Daher sind spezielle Laboruntersuchungen wie der iFOBT, die auf Erkennung dieses Krankheitsbildes gerichtet sind, nicht vom Fachgebiet Frauenheilkunde und Geburtshilfe umfasst. Dies gilt sowohl für die präventive iFOBT der GOP 01738 EBM als auch die kurative iFOBT der GOP 32457 EBM.
Entgegen der Auffassung des Klägers besteht bei den streitgegenständlichen GOP auch keine Abrechnungsmöglichkeit „direkt“ aus dem EBM.
Hinsichtlich der GOP 01738 EBM ist festzustellen, dass in der Ziffer 4 der Präambel 8.1 (Auflistung der zusätzlich abrechenbaren arztgruppenübergreifenden allgemeinen Leistungen) die GOP 01738 EBM gerade nicht aufgeführt ist. Dem entspricht, dass die GOP 01738 EBM in die Ziffer 2 der Präambel 12.1 (des Kapitels 12 laboratoriumsmedizinische, mikrobiologische, virologische und infektionsepidemiologische sowie transfusionsmedizinische Gebührenordnungspositionen) aufgenommen worden ist. Nach dem Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Krebsfrüherkennungsrichtlinie vom 21.04.2016 war die iFOBT zwingend als Speziallaborleistung in der KFE-RL verankert. Soweit der Prozessbevollmächtigte des Klägers eine inkonsistente Zuordnung der GOP 01738 hinsichtlich der Präanalytik (Abnahme und Aufbereitung des Probenmaterials) über die Analytik (Bestimmung des Laborwertes) bis schließlich zur Postanalytik (Interpretation und Mitteilung an den Patienten) im Vergleich zu allen anderen Laborleistungen bemängelt, ist darauf hinzuweisen, dass auf der Grundlage der Vorgaben des Beschlusses des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 21.04.2016 es darum ging, zur Sicherstellung einer qualitativen hochwertigen Krebsfrüherkennungsmaßnahme im Sinne der Patienten ein Zusammenwirken unterschiedlich qualifizierter Ärzte auf verschiedenen Versorgungsebenen zu installieren. Danach geht es bei den GOP 01737/01738 EBM gerade nicht um die Frage Präanalytik und Analytik im Rahmen einer Laboruntersuchung. Die auch von Frauenärzten und Hausärzten abrechenbare GOP 01737 EBM, die keiner Genehmigung nach der QSV Speziallabor bedarf, betrifft die erste Versorgungsebene bei der Krebsfrüherkennungsmaßnahme im Sinne der Beratung der Patienten in Hinblick auf die Möglichkeit zur Inanspruchnahme der Früherkennungsuntersuchung und ggf. deren Veranlassung. Dagegen geht es auf der zweiten Versorgungsebene im Bereich der Krebsfrüherkennung vor allem um die qualitativ hochwertige Durchführung der Untersuchung (= GOP 01738 EBM). Für die Durchführung des iFOBT ist daher eine durch die KV erteilte Genehmigung nach der QSV Speziallabor erforderlich.
Vor diesem Hintergrund ist die unterschiedliche Abrechenbarkeit der GOP 01737 EBM einerseits und GOP 01738 EBM andererseits für Frauenärzte sachlich nachvollziehbar.
Hinsichtlich der GOP 32457 EBM ist auf der Grundlage der Auflistung in Ziffer 5 der Präambel 8.1 zu Kapitel 8 EBM (arztgruppenübergreifende spezielle Leistungen) neben einer spezifischen Aufzählung einzelner GOPs zwar auch das Kapitel 32 EBM genannt, worunter in Abschnitt 32.3 EBM auch die kurative Untersuchung nach der GOP 32457 EBM fällt. Diesbezüglich scheitert die Erteilung der Genehmigung – wie ausgeführt – an den Fachgebietsgrenzen.
Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 15.07.2020 (B 6 KA 19/19 R) steht dem nicht entgegen, weil es vorliegend um die Genehmigung zur Ausführung und Abrechnung der GOP 01738 und 32457 EMB geht und nicht um einen Fachkundenachweis.
Nach alledem ist die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 3. Halbsatz SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben