Verwaltungsrecht

Erfolglose Asylklage eines türkischen Staatsangehörigen

Aktenzeichen  M 1 K 17.40851

Datum:
30.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 25810
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 3c, § 3e, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

1. Niedrigschwellige Aktivitäten in Zusammenhang mit der HDP führen ohne Hinzutreten besonderer Anhaltspunkte regelmäßig nicht zu einer Verfolgungsgefahr in der Türkei. (Rn. 41) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der türkische Staat ist nicht schutzunfähig oder -unwillig in Bezug auf Ehrenmorde bzw. Blutrache. (Rn. 50 – 52) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über den Rechtsstreit kann aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 19. April 2021 entschieden werden, obwohl für die Beklagte niemand erschienen ist. Die Beklagte ist ausweislich des Empfangsbekenntnisses am 26. Februar 2021 ordnungsgemäß zur Sitzung geladen und gemäß § 102 Abs. 2 VwGO auf die Möglichkeit hingewiesen worden, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.
I. Soweit die Klage bezüglich der Asylanerkennung konkludent zurückgenommen worden ist, wird das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 VwGO eingestellt.
II. Im Übrigen ist die Klage im Hauptantrag und in den Hilfsanträgen zulässig, jedoch unbegründet. Der ablehnende Bescheid vom 15. Mai 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
1. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 und 4 AsylG sind nicht gegeben.
Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Verfolgungsgründen) außerhalb seines Herkunftslands befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
Gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG gelten Handlungen als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Nach § 3c AsylG sind Akteure, von denen die Verfolgung ausgehen kann, der Staat oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen sowie nichtstaatliche Akteure, sofern die zuvor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten.
Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung liegt vor, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 19). Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei zusammenfassender Würdigung des zur Prüfung stehenden Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und gegenüber den dagegen sprechenden Umständen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – juris Rn. 24; B.v. 7.2.2008 – 10 C 33/07 – juris Rn. 23; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – juris Rn. 17).
Nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU ist die Tatsache, dass ein Asylbewerber bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Diese Regelung privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wie er in der deutschen asylrechtlichen Rechtsprechung entwickelt worden ist. Die Vorschrift begründet für die von ihr Begünstigten eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einer solchen Verfolgung bedroht sind. Dadurch wird der Vorverfolgte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Ob die Vermutung durch „stichhaltige Gründe“ widerlegt ist, obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – juris Ls.).
Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
Es ist im Falle des Klägers weder von einer Gruppenverfolgung noch von einer individuellen Verfolgung auszugehen. Der Kläger hat mit seinem Vortrag nicht glaubhaft machen können, dass ihm in der Türkei eine flüchtlingsrelevante Handlung droht.
a) Eine Gruppenverfolgung der Kurden in der Türkei erfolgt nicht.
Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt voraus, dass entweder sichere Anhaltspunkte für ein an asylerhebliche Merkmale anknüpfendes staatliches Verfolgungsprogramm oder für eine bestimmte Verfolgungsdichte vorliegen, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigen. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (vgl. BVerfG, B.v. 23.1.1991 – 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 – BVerfGE 83, 216, juris Rn. 43; BVerwG, B.v. 24.2.2015 – 1 B 31/14 – juris Rn. 4).
Das Gericht geht aufgrund der vorliegenden und ins Verfahren eingeführten Erkenntnismittel davon aus, dass etwaige asylrelevante Übergriffe auf türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit jedenfalls nicht die von der Rechtsprechung verlangte Verfolgungsdichte aufweisen, die zu einer Gruppenverfolgung und damit dazu führt, dass jedes Mitglied dieser Gruppe als verfolgt gilt (vgl. VG Aachen, U.v. 5.3.2018 – 6 K 3554.17.A – juris Rn. 51 m.w.N.). Das Gericht schließt sich diesbezüglich der oberverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung an (vgl. BayVGH, B.v. 10.2.2020 – 24 ZB 20.30271 – juris Rn. 6 m.w.N.; SächsOVG, B.v. 7.1.2021 – 3 A 927/20.A – juris Rn. 12; OVG Saarl, B.v. 18.11.2020 – 2 A 321/20 – juris Rn. 16).
Zudem stünde Kurden in der Westtürkei trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen eine inländische Fluchtalternative gem. § 3e Abs. 1 AsylG offen (vgl. BayVGH, B.v. 10.2.2020 – 24 ZB 20.30271 – juris Rn. 7; B.v. 3.6.2016 – 9 ZB 12.30404 – juris Rn. 6; SächsOVG, U.v. 7.4.2016 – 3 A 557.13.A – juris Rn. 31; VG Augsburg, U.v. 9.12.2020 – Au 4 K 19.31715 – BeckRS 2020, 42300, Rn. 19). Sie können den Wohnort innerhalb des Landes wechseln und so insbesondere in Ballungsräumen in der Westtürkei eine in der Südosttürkei auf Grund der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und PKK etwa höhere Gefährdung verringern. Dies trifft auch auf den Kläger zu (vgl. hierzu sogleich unter 1.dd)).
b) Der Kläger wird auch nicht als Jeside in der Türkei verfolgt. Dies hat er selbst nicht geltend gemacht, weder in der Anhörung beim Bundesamt, noch in der mündlichen Verhandlung. Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung von Jesiden liegen im Übrigen nicht vor:
Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amts (Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 17) sind die ehemals rund 60.000 kurdischstämmigen Jesiden in ihren Heimatregionen, insbesondere in den 1980er und 1990er Jahren, aufgrund ihrer Religion Übergriffen muslimischer Nachbarn ausgesetzt gewesen. Die große Mehrheit sei ausgewandert, viele nach Deutschland. Die überwiegende Mehrheit der Jesiden lebe in den Kreisen Viranehir/Provinz Sanlurfa und Besiri/Provinz Batman. Ihre Anzahl ist nur schwer einzuschätzen; aufgrund belastbarer Untersuchungen beträgt die Mindestanzahl ca. 400 Personen; anderen Quellen zufolge, die nicht empirisch belegt werden können, soll es bis zu 2.000 Jesiden in der Türkei geben. Bei Jesiden kam es in jüngster Zeit (Stand 2018) offenbar vermehrt zu Schwierigkeiten, mitunter unter Androhung von Gewalt, mit politisch gut vernetzten, zumeist kurdischen Clans in der Region, wenn sie versuchten, bei Rückkehr in die Türkei in der Vergangenheit zurückgelassenes oder erstmals katastermäßig erfasstes Land als Eigentum registrieren zu lassen oder dieses tatsächlich nutzen zu wollen. Die (kurdisch geprägten) Menschenrechtsvereine behaupteten, von diesen Vorgängen keine Kenntnis zu haben.
Wenngleich Jesiden in der Türkei rechtlich und tatsächlich anderen Minderheiten nicht in vollem Umfang gleichgestellt sind, liegen jedoch keine Anhaltspunkte für eine Gruppenverfolgung von Jesiden vor (vgl. auch VG Augsburg, U.v. 17.4.2019 – Au 6 K 17.35247 – juris Rn. 35-37).
c) Der Kläger hat durch seinen individuellen Vortrag nicht glaubhaft gemacht, dass ihm Verfolgung droht. Das Gericht ist nicht davon überzeugt, dass dem Kläger wegen politischer Überzeugung Verfolgung droht (sogleich unter aa)). Insbesondere stellt die geschilderte Entführung keinen Anhaltspunkt für die Begründetheit der Furcht dafür dar, dass sich die Verfolgung im Falle der Rückkehr wiederholen wird (bb)). Der Kläger hat auch nicht aus familiären Gründen mit Verfolgung zu rechnen (cc)). Er wäre ferner auf eine inländische Fluchtalternative zu verweisen (dd)).
aa) Dem Kläger droht keine Verfolgung wegen politischer Überzeugung.
Hierzu gibt er an, dass er selbst kein Mitglied in der HDP ist, aber sich an Aktionen und Demonstrationen betätigt habe.
Seit spätestens Sommer 2015 fährt die türkische Regierung unter Staatspräsident Erdogan politisch einen verstärkt nationalen Kurs, dessen Kernelement das bedingungslose Vorgehen im Kurdenkonflikt gegen die PKK und vermeintliche Unterstützer ist (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, Stand Juni 2020 – im Folgenden: Lagebericht – S. 6). Der Kurdenkonflikt ließ auch die politische Vertretung der kurdischen Minderheit zum Ziel staatlicher Repressalien werden. So wurden beispielsweise im Zuge der temporären Verfassungsänderung am 8. Juni 2016 138 Abgeordnete (darunter 57 von 59 Abgeordnete der pro-kurdischen HDP) die parlamentarische Immunität entzogen. Stand März 2019 befanden sich 10 ehemalige Abgeordnete der HDP und ein ehemaliger Abgeordneter der CHP in Haft (vgl. S. 6 des Berichts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei des Auswärtigen Amts vom 14. Juni 2019). Trotz der Einschränkungen ihres Wahlkampfs u.a. durch die Inhaftierung ihres Spitzenkandidaten Demirtas, der auch aktuell noch im Gefängnis sitzt, überwand die HDP bei der letzten Präsidentschaftswahl am 24. Juni 2018 die Zehnprozenthürde und zog mit 11,70% erneut ins türkische Parlament ein. Die türkische Regierung versucht zudem auch auf lokaler Ebene den Einfluss der HDP zu verringern. So wurden beispielsweise 45 von 65 HDP-Bürgermeistern abgesetzt und 21 von ihnen im Zusammenhang mit strafrechtlichen Ermittlungen in Untersuchungshaft genommen (Stand Mai 2020). Der Führung der linkskurdischen HDP wird regierungsseitig vorgeworfen, enge Verbindungen zur PKK sowie zu derer politischer Dachorganisation KCK zu pflegen. Strafverfolgungen gegen die PKK und die KCK betreffen insoweit nicht selten auch Mitglieder der HDP. Nach Schätzungen vom März 2020 befinden sich ca. 5.000 Parteifunktionäre und -mitglieder der HDP gegenwärtig in Haft (vgl. Lagebericht, S. 6 und 10). So führt auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe aus, dass oppositionspolitisches Engagement zu Gefährdung führen kann. Betroffene werden in der Regel in wiederholt verlängerte Untersuchungshaft gesetzt und können Gewaltandrohungen und Strafverfolgung ausgesetzt sein. Laut der International Crisis Group sind seit Juli 2015 mehr als 10.000 Politiker und Unterstützer der HDP verhaftet worden (vgl. Schnellrecherche der Schweizerischen Flüchtlingshilfe v. 7.7.2017 zur Türkei: Gefährdung bei Rückkehr von kurdischstämmigen Personen mit oppositionspolitischem Engagement und möglichen Verbindungen zur PKK). Im März 2021 ist ein Antrag auf Verbot der HDP gestellt worden, den das türkische Verfassungsgericht in einem ersten Schritt als unzulässig abgelehnt hat. Nach den Stimmen der Presse, wie auch die Klägerbevollmächtigte sie vorlegte, ist jedoch damit zu rechnen, dass dieses Bestreben der türkischen Regierungskoalition wiederaufgenommen wird.
Nach den aktuellen Erkenntnissen im Falle einfacher Parteimitglieder nicht davon auszugehen, dass diese als solche repressiven staatlichen Maßnahmen bzw. Verfolgung ausgesetzt sind. Eine Verfolgungsgefahr durch niedrigschwellige Aktivitäten in Zusammenhang mit der HDP wird ohne Hinzutreten besonderer Anhaltspunkte regelmäßig nicht begründet Keine Verfolgungsgefahr begründen daher beispielsweise die Teilnahme an Demonstrationen für kurdische Angelegenheiten als einfaches Parteimitglied der HDP bzw. der Vorgängerparteien oder vereinzelte Festnahmen bzw. Befragungen oder ein verstärktes Betroffensein von Polizeikontrollen (vgl. auch VG München, U.v. 17.3.2021 – M 1 K 17.41734 – juris Rn. 39 und nachfolgend BayVGH, B.v. 7.6.2021 – 24 ZB 21.30687 – juris Rn. 7; VG Kassel, U.v. 29.4.2021 – 5 K 74/19.KS.A – juris Rn. 45; ähnlich VG Augsburg, U.v. 19.11.2019 – Au 6 K 17.34205 – juris Rn. 46; VG Potsdam, U.v. 13.8.2020 – 1 K 4342/17.A – juris Rn. 39).
Dies gilt umso mehr für den Kläger, der nach eigenen Angaben schon kein Mitglied der HDP ist und sich auch nach seinem eigenen Vortrag nicht nennenswert exponiert hat. Das Gericht ist aber auch nicht von einem maßgeblichen politischen Engagement des Klägers überzeugt. Die Frage in der Anhörung, ob er sich für die PKK oder andere kurdische Organisationen engagiere, verneinte der Kläger und verwies darauf, dass er in Ruhe leben wolle. Daher erscheint es wenig glaubhaft, wenn der Kläger auf weitere, explizite Frage nach politischen Engagement später vorträgt, er habe an Demonstrationen teilgenommen und Parteimitgliedern der HDP geholfen. Eine weitere, nicht überzeugende Steigerung des Vortrags hierzu erfolgte in der mündlichen Verhandlung, indem der Kläger angab, für die HDP aktiv gewesen zu sein. Mit der Klagebegründung und in der mündlichen Verhandlung behauptete der Kläger dann erstmals, er sei bei Demonstrationen zweimal von der Polizei festgenommen und zur Wache verbracht worden. Indes hätte es nahegelegen, hierüber bereits bei der Anhörung zu berichten. Diese Schilderungen der Vorkommnisse blieben im Übrigen vage, und der Kläger vermochte sie auch zeitlich nicht einzuordnen, sodass das Gericht dem keinen Glauben schenkt. Unabhängig davon hält das Gericht derartige Vorkommnisse für unmaßgeblich angesichts der Tatsache, dass der Kläger angibt, sie hätten nichts mit ihm gemacht, außer ihn zu ermahnen, und er sei auch beim zweiten Mal wieder entlassen worden.
bb) Auch aus der geschilderten Entführung mit dem Vorwurf der PKK-Mitgliedschaft kann der Kläger nach Überzeugung des Gerichts keine begründete Furcht vor Verfolgung bei Rückkehr ableiten. Eine Vorverfolgung durch türkische Staatsorgane hat der Kläger nicht glaubhaft gemacht. Selbst wenn es eine Misshandlung durch nicht dem Staat zurechenbare Kräfte gegeben hat, ist das Gericht der Auffassung, dass sich eine derartige Gefahr bei Rückkehr nicht erneut realisiert.
Das Gericht ist vom Wahrheitsgehalt der geschilderten Entführung nicht überzeugt, weil sich die Darstellungen in der Anhörung einerseits und in der mündlichen Verhandlung andererseits maßgeblich widersprechen. Es ist auch eine unglaubhafte Steigerung festzustellen dergestalt, dass der Kläger trotz des zwischenzeitlich vergangenen Zeitraums von dreieinhalb Jahren in der mündlichen Verhandlung sich an mehr Details zu erinnern vorgibt. Dabei wäre eher damit zu rechnen, dass die Erinnerung mit Zeitablauf unschärfer werden und verblassen. Dem Gericht drängt sich der Eindruck auf, dass auf die Begründung des ablehnenden Bescheids u.a. wegen Detailarmut der Schilderungen reagiert werden sollte. Zwar mag es sein, dass es irgendeinen Vorfall gegeben hat, bei dem der Kläger körperlich misshandelt worden ist. Dafür spricht unter anderem die emotionale Verfassung des Klägers in der mündlichen Verhandlung bei Schilderung des Vorfalles und auch die teilweise Detailliertheit des Vortrags, ferner die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen. Das Gericht ist jedoch davon überzeugt, dass der Vorfall nicht so wie geschildert vorgefallen ist und auch nicht staatlichen Kräften zugeschrieben werden kann. Ferner bestehen durchgreifende Zweifel an der Richtigkeit der Angabe, dass dies etwa einen Monat vor der Ausreise vorgefallen sein soll. Von einer Vorverfolgung kann somit nicht ausgegangen werden.
Im Einzelnen beziehen sich die zweifelhaften Punkte auf die Anzahl der Täter, auf die Art ihrer Ankunft in der Wohnung des Klägers, auf ihr äußerliches Erscheinungsbild und ihre Funktion sowie auf ihren Umgang mit dem Kläger. So gibt der Kläger in der Anhörung an, dass vier oder fünf Leute in Zivil, die sich als Polizisten ausgegeben hätten, an die Tür geklopft und ihn mitgenommen hätten. Er sei geschlagen und infolgedessen ohnmächtig worden und könne nicht genau sagen, wie viele Leute es gewesen seien. Man habe seinen Kopf nach unten gedrückt und ihn in ein großes Auto geschubst. Abweichend hierzu berichtet der Kläger in der mündlichen Verhandlung, dass in besagter Nacht plötzlich die Wohnungstür eingebrochen worden sei. Es habe sich um vier Leute gehandelt. Dies sei das Spezialteam Özel Tim gewesen; dies sei ihm klar gewesen anhand der schwarzen Kleidung, der Masken sowie der Pistolen und Funkgeräten am Bein. Seine Hände seien auf dem Rücken gefesselt und er sei sofort zu Boden geworfen worden. Diese eklatanten Widersprüche und Steigerungen sind für das Gericht nicht sachlich nachvollziehbar. Dies gilt insbesondere deswegen, weil der Anhörende des Bundesamts seinerzeit den Kläger danach fragte, ob er nicht noch detailliertere Aussagen dazu machen könne und sich am Ende noch einmal vergewisserte, ob der Kläger alles dazu gesagt hätte. Insoweit handelt es sich um keinen stimmigen und widerspruchsfreien Vortrag des Klägers. Insbesondere kann der Annahme des Klägers, es habe sich um die Özel TimSpezialkräfte gehandelt, nicht gefolgt werden. Denn die Umstände, aus denen er das schließt, insbesondere der Bekleidung und der Ausstattung der Männer, hätten ihm bereits in der Anhörung präsent sein können und müssen, um glaubhaft zu sein. Stattdessen gab er in der Anhörung abweichend an, die Männer seien in Zivil gewesen. Die Beklagte weist zu Recht auch darauf hin, dass ein staatlich initiiertes Handeln wenig wahrscheinlich ist, weil der Kläger nach eigener Aussage an einen verlassenen Ort gebracht worden war. Es hätte in einem solchen Fall nähergelegen, ihn auf die Polizeiwache zu bringen.
Von einer nicht beachtlichen Vorverfolgung geht das Gericht auch deswegen aus, weil es der Auffassung ist, dass die etwaigen Tätlichkeiten nicht erst einen Monat vor Ausreise des Klägers stattfanden, sondern weitaus früher, und sie sich andererseits dann aber nicht wiederholt haben, sodass der Kläger weitgehend unbehelligt blieb. Im Hinblick auf die zeitliche Einordnung des Vorfalls ist festzustellen, dass der Kläger bei der Anhörung vage bleibt mit der Angabe, die Entführung habe im Oktober stattgefunden, einen Monat vor seiner Ausreise; in der mündlichen Verhandlung präzisiert er insoweit, als er sagt, es müsse Anfang Oktober gewesen sein, es habe die erste oder zweite Oktoberwoche sein können. Angesichts der Umstands, dass es sich bei dem Vorfall, so wie er geschildert wurde, um ein psychisch sehr belastendes Moment gehandelt haben muss, das den Kläger gerade zur Entscheidung gebracht haben will, die Türkei zu verlassen, überrascht dies; im Gegensatz dazu vermochte der Kläger das Datum der Ausreise aus der Türkei wie auch der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland in der Anhörung präzise angeben konnte. Das Gericht ist zusammen mit der Beklagten vielmehr der Auffassung, dass die Ausreise der Familie von längerer Hand geplant war. Dafür spricht, dass der Verkauf der Wohnung mehr Zeit in Anspruch genommen haben dürfte als der vom Kläger genannte Zeitraum eines Monats. Auch erscheint es nicht glaubhaft, dass der Kläger innerhalb kurzer Zeit nach seinen als durchaus erheblich einzustufenden Verletzungen sich bereits Mitte Oktober mit den Schleusern getroffen haben will. Insoweit schenkt das Gericht der Angabe der Mutter des Klägers Glauben, die bei ihrer Anhörung sagte, die Entführung ihres Sohnes habe sich ein Jahr vor der gemeinsamen Ausreise ereignet. Auf eine weitere Frage, warum sie nicht früher aus der Türkei geflohen seien, führt sie gerade an, sie hätten die Wohnung verkaufen müssen, was nicht so schnell gegangen sei. Auf entsprechenden Vorhalt verweist der Kläger darauf, seine Mutter sei psychisch angeschlagen, alt und verwirrt. Dem kann nicht gefolgt werden. Zu dem Zeitpunkt der Anhörung ist ihren Angaben keinerlei Verwirrtheit oder gar Demenz zu entnehmen, im Gegenteil erinnert sich die Mutter des Klägers auch an Einzelheiten wie etwa an Geldsummen, Geschehnisse recht präzise und stellt Zusammenhänge her. Diese überzeugenden zeitlichen Angaben der Mutter zugrunde gelegt, ist dem Umstand, dass die Täter den Kläger – wenngleich übel zugerichtet – wieder freigelassen haben, insoweit Bedeutung zuzumessen, als hiernach offensichtlich keine weiteren nennenswerten Vorkommnisse zu verzeichnen waren. Die Mutter berichtet insoweit lediglich von Besuchen an der Haustür. Auch unter der Annahme, dass die Täter den Kläger tatsächlich für ein PKK-Mitglied gehalten haben, kann aus dem Ablauf gefolgert werden, dass es sich um ein einmaliges Ereignis gehandelt, bei dem die Täter zu dem Schluss gekommen waren, dass der Kläger weder selbst PKK-Mitglied ist, noch Informationen über PKK-Kämpfer oder entsprechende Aktionen liefern kann, was nach den Angaben des Klägers auch zutrifft. So ist es zu erklären, dass sie den Kläger freiließen und ihn jedenfalls nicht noch mal bedrängten. Auch aus diesem Grunde ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass dem Kläger bei Rückkehr erneut Misshandlungen der geschilderten Art drohen, und zwar weder seitens des Staates, noch von privater Seite.
Der Verweis der Klägerbevollmächtigten auf die Auskunft von Amnesty International vom 6. August 2020 sowie auf das Gutachten von … … vom 31. Januar 2019 ergibt nichts anderes. Es ist nicht infrage zu stellen, dass in dem dort in Bezug genommenen Zeitraum im Südosten der Türkei gewalttätige Unruhen und Ausgangssperren stattfanden und es ferner zu Angriffen und Festnahmen von Menschen kam, die prokurdischer Aktivitäten verdächtigt wurden. Bekannt und unbestritten ist ferner, dass Kurden, die aufgrund von näher beschriebenen Unterstützungsleistungen der Nähe der PKK oder der YDG-H verdächtigt werden, staatliche Repressionen zu gewärtigen haben. Aus den oben genannten Gründen trifft das auf den Kläger jedoch nicht zu und ändert im Übrigen nichts daran, dass das Gericht von der Glaubhaftigkeit der Schilderungen des Klägers nicht überzeugt ist.
cc) Der Kläger hat keine Verfolgung durch seine Familie zu erwarten.
Der Kläger trägt insoweit vor, dass er als jüngster Sohn auf Geheiß der Stammesältesten seine Schwester und deren aus einer Vergewaltigung stammende uneheliche Tochter hätte töten sollen, ansonsten er selbst umgebracht werde. Dies habe ihm sein Vater mitgeteilt. Das Gericht hält diese Schilderungen für nicht glaubhaft, weil der Kläger diesen Komplex erstmals in der mündlichen Verhandlung erwähnt. Bei der Anhörung war hiervon nicht die Rede, vielmehr berichtete der Kläger, er habe seit zehn Jahren keinen Kontakt zu seinem Vater. Es ist im Übrigen lebensfremd anzunehmen, dass bei einer derartigen Drohkulisse der Kläger samt seiner drei Familienangehörigen unbemerkt aus der Türkei ausreisen hätte können. Es wäre näherliegend, dass die Stammesältesten von der geplanten Flucht erfahren und den Vollzug der Blutrache an der Schwester des Klägers einfordern bzw. vornehmen, statt dies auf sich beruhen zu lassen. Das Gericht hält den Vorfall der Vergewaltigung für glaubhaft, ist aber der Auffassung, dass die Familie sich mit dem unehelichen Kind arrangiert hat (vgl. ausführlich hierzu M 1 K 17.40855 unter II.1.c)).
Die Familie stellt im Übrigen mangels Territorialgewalt schon keinen geeigneten Akteur im Sinne von § 3c Nr. 1 und 2 AsylG dar. Der türkische Staat zeigt sich auch nicht schutzunfähig oder -unwillig im Sinne von § 3c Nr. 3, § 3d Abs. 2 AsylG. Trotz einer gewissen Zurückhaltung, die der türkische Staat bei der Verfolgung von Gewalt gegen Frauen an den Tag zu legen scheint, ist von der grundsätzlichen Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des türkischen Staates gegen kriminelles Unrecht auszugehen. Es gilt insoweit, dass der Schutz vor Verfolgung wirksam und nicht nur vorübergehende Art sein muss. Ein solcher Schutz ist gewährleistet, wenn der Staat geeignete Schritte einleitet, um die Verfolgung zu verhindern, insbesondere durch Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat (§ 3 d Abs. 2 AsylG). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
Der türkische Staat weist im Bereich der allgemeinen Kriminalitätsbekämpfung nicht die Defizite auf, die im Bereich der als politische Kriminalität zu konstatieren sind (vgl. hierzu Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, Stand Juni 2020, – im Folgenden: Lagebericht – S. 14). Auch in der Türkei sind der Tatbestand des Mords und die Anstiftung hierzu strafbar. Laut der Online-Enzyklopädie wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Ehrenmord#cite_note-51 m.w.N.) sieht das im Jahr 2005 in Kraft getretene neue türkische Strafgesetzbuch für vorsätzliche Tötungen aus Gründen der Tradition erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe vor (Art. 82 Buchst. k tStGB); hierunter können auch Ehrenmorde fallen. In Art. 38 Abs. 2 tStGB besteht eine allgemeine Strafschärfungsvorschrift für Anstiftung unter Verwandten beziehungsweise die Anstiftung eines nicht mit dem Anstifter verwandten Kindes. Mit diesen Regelungen soll dem Umstand begegnet werden, dass oft ein Familienrat einen Minderjährigen zur Begehung eines Ehrenmordes bestimmt, da diesem eine vergleichsweise milde Strafe droht.
Gleichwohl kommt es in der Türkei immer noch zu sogenannten „Ehrenmorden“, d. h. insbesondere zu der Ermordung von Frauen oder Mädchen, die eines sog. „schamlosen Verhaltens“ aufgrund einer (sexuellen) Beziehung vor der Eheschließung bzw. eines „Verbrechens in der Ehe“ verdächtigt werden. Dies schließt auch Vergewaltigungsopfer mit ein. Auch Männer werden – vor allem im Rahmen von Familienfehden (Blutrache) – Opfer von sog. „Ehrenmorden“, z. T. weil sie „schamlose Beziehungen“ zu Frauen eingehen bzw. sich weigern, die „Ehre der Familie“ wiederherzustellen. In Einzelfällen kommt es auch zu „Ehrenmorden“ im Zusammenhang mit Homosexualität. Seitdem die staatliche Menschenrechtsinstitution im Jahr 2008 für das Vorjahr insgesamt 183 „Ehrenmorde“ an Frauen registrierte, wird die Statistik nicht weitergeführt. Staatliche Stellen begründen dies mit der Unvollständigkeit des Zahlenmaterials (vgl. zum Vorstehenden: Lagebericht, S. 17 f.). Neuere zuverlässige offizielle Daten über die Prävalenz von Frauenmorden gibt es nicht. Berichten zufolge wurden im Jahr 2019 474 Frauen getötet, wobei 319 der Täter ehemalige oder gegenwärtige Ehemänner bzw. Partner oder Verwandte waren. Im Jahr 2020 wurden mit Stand 21. November 2020 253 Frauen ermordet und 715 verletzt (BfA, S. 90).
Dennoch ist weder von einer Schutzunfähigkeit oder -unwilligkeit des türkischen Staates auszugehen. Ohnehin hat der Kläger hat den türkischen Staat vor seiner Ausreise gar nicht um Schutz angegangen, sodass weder Anlass noch Möglichkeit bestand, ihm Schutz zu gewähren. Es bleibt darauf hinzuweisen, dass ein lückenloser Schutz seitens des Staates ohnehin nicht gewährleistet werden kann, kommt es auch in Deutschland zu sog. Ehrenmorden nicht unerheblichen Umfang (vgl. etwa https://www.ehrenmord.de/faq/wieviele.php9).
dd) Selbst bei Unterstellung einer nichtstaatlichen Verfolgung des Klägers im Sinne von § 3 Nr. 3 AsylG stünde dem Kläger etwa mit der Westtürkei eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne von § 3e AsylG zur Verfügung. Insbesondere in Ballungsräumen wäre nicht damit zu rechnen, dass ihn private Kriminelle und Familienangehörige erreichen.
Dem Kläger ist es nach § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG wirtschaftlich zuzumuten, dass er sich in der Westtürkei niederlässt. Im Rahmen der hypothetischen Rückkehrprognose ist davon auszugehen, dass der Kläger zusammen mit seiner Mutter, seiner Schwester und deren Tochter in die Türkei zurückkehrt, weil sie im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in familiärer Lebensgemeinschaft leben. Denn bei der Prognose, welche Gefahren dem Asylbewerber im Falle einer Rückkehr in sein Herkunftsland drohen, ist von einer möglichst realitätsnahen Beurteilung – wenngleich notwendigen hypothetischen – Rückkehrsituation auszugehen. Im Regelfall ist davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet tatsächlich zusammenlebende Familie im Familienverband zurückkehrt (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 17 ff.; BayVGH, Urt. v. 21.11.2018 – Az. 13a B 18.30632 – juris Rn. 17 ff.). Auch die volljährigen Kinder sind mit ihren Eltern als „Familie“ im Sinne des Schutzbereichs des Art. 6 Abs. 1 GG zu verstehen (vgl. BVerfG, B.v. 18.4.1989 – 2 BvR 1169/84 – juris Rn. 32; B.v. 21.7.2005 – 1 BvR 817/05 – juris Rn. 14).
Die Niederlassung in einen sicheren Landesteil ist zumutbar i.S.v. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wenn bei umfassender Würdigung aller Umstände ein die Gewährleistungen des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EU-Grundrechtecharta wahrendes Existenzminimum gesichert ist und auch keine anderweitige schwerwiegende Verletzung grundlegender Grund- oder Menschenrechte oder eine sonst unerträgliche Härte droht (vgl. OVG NRW, B.v. 25.2.2021 – 19 A 1417/20.A – juris Rn. 19; VGH BW, U.v. 29.11.2019 – A 11 S 2376/19 – juris Ls.; VG Würzburg, U.v. 24.2.2021 – W 8 K 20.30328 – juris Rn. 40).
Dabei sind schlechte humanitäre Bedingungen im Zielstaat, die nicht auf eine direkte oder indirekte Handlung oder Unterlassung staatlicher oder nicht staatlicher Akteure zurückzuführen sind, nur in ganz besonderen Ausnahmefällen im Rahmen des Art. 3 EMRK zu berücksichtigen. Die Annahme einer unmenschlichen Behandlung allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen setzt ein sehr hohes Gefährdungsniveau voraus (vgl. BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2/19 – juris Rn. 10). Nach der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17, C-438/17 – juris Rn. 90) kommt es darauf an, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Grundbedürfnisse zu befriedigen, insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und ihre physische und psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.
Dem Kläger ist ein Leben in der Westtürkei wirtschaftlich zuzumuten. Der Kläger versah in der Türkei bisher Arbeiten im Restaurant, als Elektriker und auf dem Bau, auch wenn er nie zur Schule gegangen ist und in der Anhörung angab, es sei schwierig gewesen, über die Runden zu kommen. Seine Mutter und seine Schwester gaben in ihren Anhörungen jeweils an, dass der Kläger sie mitunterstützt habe. Die bestehende Möglichkeit für den Kläger, eine Erwerbstätigkeit nachzugehen, gilt ungeachtet der Pflegebedürftigkeit der Mutter. Diesbezüglich ist von einer staatlichen Unterstützung in Höhe von 1544 TL für Personen auszugehen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern. Voraussetzung hierfür ist ein Grad der Behinderung von mindestens 50% sowie der Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationen der Staatendokumentation Türkei, Stand: 27. Januar 2021 – im Folgenden: BfA – S. 108). Unter Berücksichtigung dieser Umstände ist das Gericht der Überzeugung, dass der Kläger auch bei einer Rückkehr in die Türkei mit seinen Familienmitgliedern in der Lage sein wird, sein wirtschaftliches Existenzminimum – wie vor der Ausreise – ohne Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu sichern.
ee) Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Dolmetscher des Bundesamtes Informationen über die Anhörung des Klägers an türkische Stellen weitergegeben hat und der Kläger insoweit begründete Furcht vor Verfolgung haben muss. Eine dahingehende Recherche der Beklagten ergab vielmehr, dass keine Hinweise auf etwaige Bedenken der konkreten Person des Dolmetschers bestehen.
2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 Abs. 1 AsylG), weil er keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm bei einer Rückkehr in die Türkei ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht.
Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Für die Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG gelten nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG die §§ 3c bis 3e AsylG entsprechend. Damit werden die dortigen Bestimmungen über den Vorverfolgungsmaßstab, Nachfluchtgründe, Verfolgungs- und Schutzakteure und internen Schutz als für die Zuerkennung subsidiären Schutzes anwendbar erklärt. Auch bei der Zuerkennung subsidiären Schutzes greift die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – juris Rn. 20).
a) Das Gericht hält es zwar für denkbar, dass dem Kläger in der Vergangenheit ein ernsthafter Schaden in Form einer körperlichen Misshandlung widerfahren ist, die von Tätern ausging, die nicht der staatlichen Seite zuzurechnen sind (vergleiche oben unter 1.c) bb)). Stichhaltige Gründe dafür, dass sich dies bei Rückkehr wiederholen könnte, wurden zur Überzeugung des Gerichtes jedoch nicht geltend gemacht. Es gelten die obigen Ausführungen, wonach die Täter den Kläger letztlich haben laufen lassen und ihn kein weiteres Mal derart bedrängt haben, entsprechend.
b) Zweifellos stellt es einen ernsthaften Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG dar, wenn der Kläger zu einem ein „Ehrenmord“ bzw. einer sog. „Blutrache“ angestiftet wird bzw. ihm in Aussicht gestellt wird, dass er bei Weigerung, seine Schwester umzubringen, selbst getötet werde. Aus den unter oben 1. genannten Gründen hält das Gericht eine derartige Gefahr jedoch nicht für gegeben.
c) Die Gefahr der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe i.S.v. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG wurde vom Kläger weder geltend gemacht, noch liegen hierfür Anhaltspunkte vor.
Die Todesstrafe ist in der Türkei abgeschafft (vgl. Lagebericht, S. 22). Auch für extralegale Hinrichtungen liegen keine Anhaltspunkte vor. Etwaige Tötungen durch Private stellen keine „Todesstrafe“ hierzu berechtigter Institutionen dar und stehen auch in der Türkei als Kapitaldelikt unter Strafe.
d) Die Abschiebung nach einer Asylantragsstellung in Deutschland führt in der Türkei ebenfalls nicht zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe. Dem Auswärtigen Amt und türkischen Menschenrechtsorganisationen, zu denen die Deutsche Botschaft engen Kontakt unterhält, ist in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten – dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen – gefoltert oder misshandelt worden ist (vgl. Lagebericht, S. 26).
e) Es besteht keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Klägers infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG).
Die allgemeine Gefahr, die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgeht, kann sich individuell so verdichten, dass sie eine ernsthafte individuelle Bedrohung darstellt. Voraussetzung hierfür ist eine außergewöhnliche Situation, die durch einen so hohen Gefährdungsgrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer solchen Bedrohung ausgesetzt ist. Besteht ein bewaffneter Konflikt mit einem solchen Gefahrengrad nicht landesweit, ist bezüglich der Gefahrendichte auf die jeweilige Herkunftsregion abzustellen, in die ein Ausländer typischerweise zurückkehren wird (vgl. BVerwG, U.v. 14.7.2009 – 10 C 9.08 – juris Ls.).
In der Türkei liegt gegenwärtig kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vor. Zwar wird in den aktuellen Erkenntnismitteln ausgeführt, dass trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen das Risiko von Terroranschlägen im ganzen Land besteht und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak Auswirkungen auf die Sicherheitslage in der Türkei haben. Der Konflikt mit der PKK, der im Juli 2015 wieder aufflammte, hat jedoch in seiner Intensität innerhalb des türkischen Staatsgebiets seit Sommer 2016 nachgelassen (vgl. S. 5 f. des Berichts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei des Auswärtigen Amts vom 14. Juni 2019). Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln geht die Türkei zwar auf ihrem Staatsgebiet gegen Terrorismus vor und erfasst dabei auch der Terrorunterstützung etc. verdächtige Personen, insbesondere soweit sie der PKK zugerechnet werden. Dies stellt allerdings nach Art, Intensität und Umfang keinen so hoher Gefährdungsgrad dar, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer solchen Bedrohung ausgesetzt ist.
f) Im Übrigen wäre der Kläger ebenfalls auf eine inländische Fluchtalternative zu verweisen (vgl. oben unter 1.c) dd)).
3. Es liegen keine zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor.
a) Dem Kläger steht kein Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu.
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Insoweit sind die Verhältnisse im Abschiebungszielstaat landesweit in den Blick zu nehmen (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 26) und die vorhersehbaren Folgen einer Rückkehr unter Berücksichtigung sowohl der allgemeinen Lage im Zielstaat als auch der persönlichen Umstände des Ausländers zu prüfen (vgl. EGMR, U.v. 20.7.2010 – 23505/09, N./Schweden – HUDOC Rn. 54; vom 28.6.2011 – 8319.07 und 11449.07, Sufi und Elmi/Großbritannien – HUDOC Rn. 216; v. 29.1.2013 – 60367.10, S.H.K/Großbritannien – HUDOC Rn. 72; v. 6.6.2013 – 2283.12, Mohammed/Österreich – HUDOC Rn. 95; v. 5.9.2013 – 61204.09, 1./Schweden – HUDOC Rn. 56).
Eine Verletzung des Art. 3 EMRK kommt in besonderen Ausnahmefällen auch bei „nichtstaatlichen“ Gefahren aufgrund prekärer Lebensbedingungen in Betracht, bei denen ein „verfolgungsmächtiger Akteur“ (§ 3c AsylG) fehlt, wenn die humanitären Gründe gegen die Abschiebung „zwingend“ sind mit Blick auf die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung. Die Annahme einer unmenschlichen Behandlung allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen setzt ein sehr hohes Gefährdungsniveau voraus (vgl. BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2/19 – juris Rn. 10); es kann erreicht sein, wenn er seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält (BVerwG, U.v. 4. Juli 2019 – 1 C 45/18 – juris Rn.12). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a., Ibrahim – Rn. 89 ff. und C-163/17, Jawo – Rn. 90ff.) ist darauf abzustellen, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not“ befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.
Wie bereits ausgeführt, liegen keine ernsthaften und stichhaltigen Gründe dafür vor, dass der Kläger tatsächlich Gefahr läuft, in der Türkei einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Die allgemeine Versorgungslage in der Türkei stellt weder für sich genommen noch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des Klägers eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK dar. Insbesondere ist davon auszugehen, dass der Kläger sein Existenzminimum in der Türkei wird sichern können (vgl. hierzu die Ausführungen unter 1.c) dd)).
b) Auch die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor.
Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
Grundsätzlich stellt eine schlechtere wirtschaftliche Situation in der Türkei keine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG dar. Die Bevölkerung ist dem allgemein ausgesetzt, ein genereller Abschiebestopp nach § 60 Abs. 7 Satz 5 i.V.m. § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG wurde nicht erlassen. Im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die einen Ausländer im Falle der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die Versorgungslage, kann ein Ausländer nur dann Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre, gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen, also mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod, ausgeliefert wäre (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2001 – 1 C 5.01 – juris Rn. 16).
Eine solche Lage wird der Kläger bei Rückkehr in die Türkei nicht vorfinden, weil von einer Sicherung seines Existenzminimums ausgegangen werden kann (s. unter a).
Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus gesundheits-bedingten Gründen ist nicht anzunehmen. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nur vor bei lebensbedrohlichen Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist, § 60 Abs. 7 S. 4 AufenthG. Dabei erfasst diese Regelung nur solche Gefahren, die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind, während Gefahren, die sich aus der Abschiebung als solche ergeben, nur von der Ausländerbehörde als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis berücksichtigt werden können. Eine „erhebliche konkrete Gefahr“ im Falle einer zielstaatsbezogenen Verschlimmerung einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung ist daher gegeben, wenn die Verschlechterung des Gesundheitszustandes alsbald nach der Rückkehr in das Heimatland eintreten würde. Gründe hierfür können nicht nur fehlende Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat sein, sondern etwa auch die tatsächliche Nichterlangbarkeit einer an sich vorhandenen Behandlungsmöglichkeit aus finanziellen oder sonstigen persönlichen Gründen (BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18/05 – juris).
Gemäß § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Nach § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG, welche gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG entsprechend gelten, muss der Ausländer eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten.
Die vorgelegten aktuelleren Stellungnahmen vom 9. Dezember 2020 und vom 8. März 2021 sind nicht geeignet, die gesetzliche Vermutung zu widerlegen. Zum einen sind sie nicht von einem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie ausgestellt worden (vergleiche zu diesem Erfordernis BayVGH, U.v. 6.7.2020 – 13a B 18.32817 – juris Rn. 72; v. 14.11.2019 – 13a B 19.31153 – juris Rn. 53 m.w.N.). Ferner sind die Stellungnahmen nicht entsprechend den gesetzlichen Anforderungen nach § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG angefertigt: Weder ergeben sich aus ihnen die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, noch die Methode der Tatsachenerhebung. Der Kläger ist im Übrigen auf die medizinische Versorgung in der Türkei zu verweisen (s.o. unter a)). Hinreichende Anhaltspunkte für eine Traumatisierung oder gar Retraumatisierung bestehen nicht.
Im Übrigen ist der Kläger auf die hinreichende medizinische Versorgung in der Türkei zu verweisen.
In der Türkei sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet (vgl. Lagebericht, S. 25). Mit der Gesundheitsreform 2003 wurde eine universelle Gesundheitsversicherung eingeführt. Zum 1. Januar 2012 hat die Türkei eine allgemeine, obligatorische Krankenversicherung eingeführt. Der grundsätzlichen Krankenversicherungspflicht unterliegen alle Personen mit Wohnsitz in der Türkei (vgl. Lagebericht, S. 26). Die staatliche türkische Sozialversicherung gewährt den Versicherten eine medizinische Grundversorgung, die eine kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern miteinschließt. Die Gesundheitsreform gilt als Erfolg, denn 90% der Bevölkerung sind mittlerweile versichert. Der Staat übernimmt die Beitragszahlungen bei Nachweis eines sehr geringen Einkommens. Überdies sind u.a. Personen unter 18 Jahren, Personen, die medizinisch eine andere Person als Hilfestellung benötigen, von jeder Vorbedingung für die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten befreit. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Seit 2017 wird das Gesundheitsversorgungswesen der Türkei neu organisiert, indem sogenannte Stadtkrankenhäuser überwiegend in größeren Metropolen des Landes errichtet werden. Es handelt sich dabei zum Teil um riesige Komplexe, die über eine Belegkapazität von tausenden von Betten verfügen sollen und zum Teil auch schon verfügen. Im Rahmen der Reorganisation sollen insgesamt 31 Stadtkrankenhäuser mit mindestens 43.500 Betten entstehen. Der private Krankenhaussektor spielt schon jetzt eine wichtige Rolle. Landesweit gibt es 562 private Krankenhäuser mit einer Kapazität von 52.000 Betten. Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und postoperationelle Versorgung dagegen oft mangelhaft, nicht zuletzt aufgrund der mangelhaften sanitären Zustände und Hygienestandards in den staatlichen Spitälern, vor allem in ländlichen Gebieten und kleinen Provinzstädten. Trotzdem hat sich das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert – vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite – vor allem in ländlichen Provinzen – bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet, insbesondere auch bei chronischen Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz, Diabetes, AIDS, psychiatrischen Erkrankungen und Drogenabhängigkeit. Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmende Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Innerhalb der staatlichen Krankenhäuser gibt es 28 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige für Erwachsene (AMATEM) mit insgesamt 732 Betten in 33 Provinzen. Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite. Allerdings versorgt das Gesundheitsministerium alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphium. Zudem können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben. Es gibt zwei staatliche Onkologiekrankenhäuser (Ankara, Bursa) unter der Verwaltung des türkischen Gesundheitsministeriums. Nach jüngsten offiziellen Angaben gibt es darüber hinaus 33 Onkologiestationen in staatlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Behandlungsverfahren (vgl. zum Vorstehenden: BfA, S. 112 f.).
Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu – SGK) anmelden. Rückkehrer aus dem Ausland werden bei der SGK-Registrierung nicht gesondert behandelt. Sobald Begünstigte bei der SGK registriert sind, gelten Kinder und Ehepartner automatisch als versichert und profitieren von einer kostenlosen Gesundheitsversorgung. Rückkehrer können sich bei der ihrem Wohnort nächstgelegenen SGK-Behörde registrieren (vgl. BfA, S. 113).
4. Gegen die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung auf der Grundlage von § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthaltG bestehen keine Zweifel. Ebenso wenig zu beanstanden sind das Einreise- und Aufenthaltsverbot und dessen Befristung in Nummer 6 des angefochtenen Bescheids. Die Befristungsentscheidung nach § 11 Abs. 2 Satz 3, Abs. 3 Satz 1, § 75 Nr. 12 AufenthG ist ermessensgerecht erfolgt.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2, Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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