Verwaltungsrecht

Erfolglose Asylklage eines türkischen Staatsangehörigen kurdischer Volkszugehörigkeit

Aktenzeichen  Au 6 K 17.33844

Datum:
13.8.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 26202
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1, Abs. 4, § 3a Abs. 2 Nr. 1, Nr. 5, § 3c, § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, Nr. 3
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

1. Kurdische Volkszugehörige unterliegen in der Türkei zwar einer gewissen Diskriminierung; es fehlt aber jedenfalls an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen Verfolgungsdichte. (Rn. 29 – 32) (redaktioneller Leitsatz)
2. Unabhängig davon steht Kurden in der Westtürkei trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen eine inländische Fluchtalternative offen. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Heranziehung zum Wehrdienst in der Türkei und die Bestrafung wegen seiner Verweigerung stellen – auch für kurdische Volkszugehörige – keine politische Verfolgung dar. (Rn. 54 – 55) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage, über die wegen des übereinstimmenden Verzichts der Beteiligten nach § 101 Abs. 2 VwGO ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden werden konnte, ist nicht begründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 5. Juli 2017 ist daher rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es wird insoweit in vollem Umfang Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine Verfolgung i. S. des § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationale Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen – den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG – muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
Eine Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – juris) entspricht.
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassen-den Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32).
Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU in Form einer widerlegbaren Vermutung ist im Asylerstverfahren zu beachten, wenn der Antragsteller frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Furcht geltend macht, dass sich die Verfolgung im Falle der Rückkehr in das Heimatland wiederholen werde. Die solchen früheren Handlungen oder Bedrohungen nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU zukommende Beweiskraft ist von den zuständigen Behörden unter der sich aus Art. 9 Abs. 3 QRL ergebenden Voraussetzung zu berücksichtigen, dass diese Handlungen oder Bedrohungen eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen, den der Betreffende für seinen Antrag auf Schutz geltend macht (vgl. zum Ganzen: BVerwG, B.v. 6.7.2012 – 10 B 18/12 – juris Rn. 5 unter Bezugnahme auf EuGH, U.v. 2.3.2010 – Rs. C-175/08 u.a. – juris Rn. 93; BVerwG, U.v. 5.5.2009 – 10 C 21/08 – juris Rn. 25). Die vorgenannte Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – BVerwGE 136, 377/382 Rn. 18) droht.
Gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen (Nr. 1), vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden (Nr. 2), oder den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat (Nr. 3). Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben (§ 3 Abs. 2 Satz 2 AsylG).
Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
a) Die politische Lage in der Türkei stellt sich derzeit wie folgt dar:
Die Türkei ist nach ihrer Verfassung eine parlamentarische Republik und ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat und besonders den Grundsätzen des Staatsgründers Mustafa Kemal („Atatürk“) verpflichtet. Der – im Jahr 2014 erstmals direkt vom Volk gewählte – Staatspräsident hat eine eher repräsentative Funktion; die Regierungsgeschäfte führt der Ministerpräsident. Im Parlament besteht von Verfassungs wegen ein Mehrparteiensystem, in welchem die seit dem Jahr 2002 regierende „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) des früheren Ministerpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Erdoğan die zahlenstärkste Fraktion darstellt, allerdings bei den regulären Parlamentswahlen vom 7. Juni 2015 erstmals seit Übernahme der Regierung die absolute Mehrheit verpasste. In der nachfolgenden Wahl vom 1. November 2015 errang die AKP zwar 49,5% der Stimmen, verfehlte aber die die für eine Verfassungsänderung notwendige 2/3- bzw. 3/5-Mehrheit (mit anschließendem Referendum). Innenpolitisches Anliegen Erdoğans ist ein Systemwechsel hin zu einem exekutiven Präsidialsystem, was eine Verfassungsänderung voraussetzt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 5, 7 – im Folgenden: Lagebericht). Nach dem Putschversuch im Juli 2016 (dazu sogleich) hat die AKP Anfang Dezember 2016 einen Entwurf zur Verfassungsänderung hin zu einem solchen Präsidialsystem ins Parlament eingebracht, das dieses Gesetz mit der für ein Referendum erforderlichen 3/5-Mehrheit beschloss. Das Verfassungsreferendum vom 16. April 2017 erreichte die erforderliche Mehrheit; mittlerweile wurde das bislang geltende Verbot für den Staatspräsidenten, keiner Partei anzugehören, aufgehoben; Staatspräsident Erdoğan ist seit Mai 2017 auch wieder Parteivorsitzender der AKP. In der vorverlegten Präsidentschaftswahl vom 24. Juni 2018 hat er die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen können; auch die regierende AKP errang bei der Parlamentswahl die Mehrheit (vgl. N.N., Bestätigung der Wahlkommission: Erdoğan gewinnt Präsidentenwahl in der Türkei, www.spiegel.de, Abruf vom 26.6.2018). Durch die damit abgeschlossene Verfassungsänderung wird Staatspräsident Erdoğan zugleich Regierungschef, denn das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Ohne parlamentarische Mitsprache ernennt und entlässt der Staatspräsident die Regierungsmitglieder, kann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen und vier der 13 Mitglieder im Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK) ernennen (vgl. N.N., Präsidialsystem in der Türkei: Noch mehr Macht für Erdogan, www.spiegel.de, Abruf vom 26.6.2018).
In der Nacht vom 15/16. Juli 2016 fand in der Türkei ein Putschversuch von Teilen des Militärs gegen Staatspräsident Erdoğan statt, dem sich auf Aufrufe der AKP hin viele Bürger entgegen stellten und der innerhalb weniger Stunden durch regierungstreue Militärs und Sicherheitskräfte niedergeschlagen wurde. Staatspräsident Erdoğan und die Regierung machten den seit dem Jahr 1999 im Exil in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen und dessen bis dahin vor allem für ihr Engagement in der Bildung und in der humanitären Hilfe bekannte Gülen-Bewegung für den Putsch verantwortlich. Diese wurde daher als terroristische Organisation eingestuft und ihre echten oder mutmaßlichen Anhänger im Zuge einer „Säuberung“, die sich auch auf Anhänger der verbotenen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) erstreckte, mit einer Verhaftungswelle überzogen. Gegen ca. 103.000 Personen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, über 86.000 Personen in Polizeigewahrsam genommen, darunter 41.000 Personen in Untersuchungshaft (ca. 7.500 Polizisten, 6.700 Militärangehörige, 2.400 Richter und Staatsanwälte). Über 76.000 Beamte wurden vom Dienst suspendiert bzw. aus dem Militärdienst entlassen; in etwa 20.000 Fällen wurde die Suspendierung mittlerweile beendet. Flankiert wurden diese Maßnahmen durch die Ausrufung des Ausnahmezustands (Notstand), welcher der Exekutive erhebliche Handlungsvollmachten einräumt, mehrfach verlängert wurde und bis heute andauert (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 4 f. – im Folgenden: Lagebericht; Zahlen zu Suspendierten und Verhafteten auch bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 5, 12 f.). Weitere 18.500 Staatsbedienstete wurden per Dekret noch im Juli 2018 entlassen, darunter 9.000 Polizisten und 6.000 Armeeangestellte (vgl. Erdoğan entlässt 18.500 Staatsbedienstete, www.spiegel.de, Abruf vom 9.7.2018).
Als Sicherheitsorgane werden die Polizei in den Städten, die Jandarma am Stadtrand und in den ländlichen Gebieten sowie der Geheimdienst (MIT) landesweit tätig; das Militär ging in den vergangenen Jahren seiner staatlichen Sonderrolle mit einer de-facto-Autonomie gegenüber parlamentarischer Kontrolle als Hüter kemalistischer Grundsätze verlustig (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 9). Durch die „Säuberungen“ in Folge des Putsches wurde sein innenpolitisches Gewicht gemindert und durch den Einmarsch in den grenznahen Gebieten Syriens wurden seine Kapazitäten nach außen gelenkt.
Neben dem Putschversuch im Juli 2016 prägt der Kurdenkonflikt die innenpolitische Situation in der Türkei, in welchem der PKK zugehörige oder von türkischen Behörden und Gerichten ihr zugerechnete Personen erheblichen Repressalien ausgesetzt sind (vgl. dazu unten). Die PKK (auch KADEK oder KONGRA-GEL genannt) ist in der Europäischen Union als Terrororganisation gelistet (vgl. Rat der Europäischen Union, B.v. 4.8.2017 – (GASP) 2017/1426, Anhang Nr. II. 12, ABl. L 204/95 f.) und unterliegt seit 1993 in der Bundesrepublik Deutschland einem Betätigungsverbot; ihre Anhängerzahl wird hier auf rund 14.000 Personen geschätzt (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz, www.verfassungsschutz.de/de/ arbeitsfelder/af-auslaenderextremismus-ohne-islamismus/was-ist-auslaenderextremismus/ arbeiterpartei-kurdistans-pkk, Abfrage vom 26.4.2018). Die PKK wird als die schlagkräftigste ausländerextremistische Organisation in Deutschland eingestuft; sie sei in der Lage, Personen weit über den Kreis der Anhängerschaft hinaus zu mobilisieren. Trotz weitgehend störungsfrei verlaufender Veranstaltungen in Europa bleibe Gewalt eine Option der PKK-Ideologie, was sich nicht zuletzt durch in Deutschland durchgeführte Rekrutierungen für die Guerillaeinheiten zeige (Bundesamt für Verfassungsschutz, ebenda).
b) Eine Verfolgung allein wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden hat der Kläger nicht zu befürchten. Er gehört zu einer weit verbreiteten Bevölkerungsgruppe in der Türkei; Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung ethnischer Kurden liegen nicht vor.
Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt voraus, dass entweder sichere Anhaltspunkte für ein an asylerhebliche Merkmale anknüpfendes staatliches Verfolgungsprogramm oder für eine bestimmte Verfolgungsdichte vorliegen, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht.
Kurdische Volkszugehörige zählen etwa 13 Mio. bis 15 Mio. Menschen auf dem Gebiet der Türkei und stellen noch vor Kaukasiern und Roma die größte Minderheit in der Bevölkerung der Türkei (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 13 – im Folgenden: Lagebericht); sie unterliegen demnach aufgrund ihrer Abstammung keinen staatlichen Repressionen, zumal aus den Ausweispapieren in der Regel – sofern keine spezifisch kurdischen Vornamen geführt werden – nicht hervorgeht, ob ein türkischer Staatsbürger kurdischer Abstammung ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 13). Der private Gebrauch der in der Türkei gesprochenen kurdischen Sprachen Kurmandschi und des weniger verbreiteten Zaza ist in Wort und Schrift keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt. Unterricht in kurdischer Sprache an öffentlichen Schulen war bis 2012 nicht erlaubt und wurde seither stufenweise bei entsprechender Nachfrage erlaubt; Dörfer im Südosten können ihre kurdischen Namen zurückerhalten. Die verfassungsrechtliche Festschreibung von Türkisch als einziger Nationalsprache bleibt jedoch erhalten und erschwert die Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen durch Kurden und Angehörige anderer Minderheiten, für die Türkisch nicht Muttersprache ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 13 f.). Seit der Verhängung des Notstands aber hat sich die Lage verändert: Zwei Drittel der per Notstandsdekret geschlossenen Medien sind kurdische Zeitungen, Onlineportale, Radio- und Fernsehsender, darunter auch IMC TV und die Tageszeitung „Özgür Gündem“ unter dem Vorwurf, „Sprachrohr der PKK“ zu sein (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 14).
Kurdische Volkszugehörige unterliegen damit in der Türkei zwar einer gewissen Diskriminierung. Es fehlt aber jedenfalls an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte (vgl. zur Gruppenverfolgung BVerfG, B.v. 23.1.1991 – 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 – BVerfGE 83, 216 m.w.N.; BVerwG, B.v. 24.2.2015 – 1 B 31/14 – juris). Das Gericht geht aufgrund der vorliegenden und ins Verfahren eingeführten Erkenntnismittel davon aus, dass eine Verfolgung kurdischer türkischer Staatsangehöriger jedenfalls nicht die von der Rechtsprechung verlangte Verfolgungsdichte aufweist, die zu einer Gruppenverfolgung und damit der Verfolgung eines jeden Mitglieds führt (im Ergebnis wie hier VG Aachen, U.v. 5.3.2018 – 6 K 3554/17.A – juris Rn. 51 m.w.N.). Unabhängig davon steht Kurden in der Westtürkei trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen eine inländische Fluchtalternative offen (vgl. SächsOVG, U.v. 7.4.2016 – 3 A 557/13.A; BayVGH, B.v. 22.9.2015 – 9 ZB 14.30399, alle juris). Sie können den Wohnort innerhalb des Landes wechseln und so insbesondere in Ballungsräumen in der Westtürkei eine in der Südosttürkei auf Grund der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und PKK etwa höhere Gefährdung verringern. Keine Ausweichmöglichkeiten hingegen bestehen, soweit eine Person Ziel behördlicher oder justizieller Maßnahmen wird, da die türkischen Sicherheitskräfte auf das gesamte Staatsgebiet Zugriff haben (Lagebericht ebenda S. 22).
Dies gilt auch für den nicht ortsgebundenen Kläger, wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid überzeugend ausgeführt hat.
c) Eine Verfolgung wegen einer Zugehörigkeit/Zurechnung zur Gülen-Bewegung hat der Kläger nicht zu befürchten. Hierzu ist nichts vorgetragen oder ersichtlich.
d) Eine Verfolgung wegen einer Zurechnung zur PKK hat der Kläger nicht zu befürchten. Soweit er pauschal befürchtet, deswegen verfolgt zu werden, ist hierfür nichts ersichtlich. Sein Engagement für die HDP blieb bisher folgenlos; eine angebliche polizeiliche Suche nach ihm knüpft an eine behauptete Teilnahme an einer Beerdigung im Jahr 2016 und an eine behauptete Wehrdienstentziehung an, aber nicht an ein Engagement für die HDP, für welche der Kläger im Übrigen – ohne Mitglied zu sein – untergeordnet tätig geworden sein will.
e) Eine Verfolgung wegen einer alevitischen Religionszugehörigkeit hat der Kläger nicht zu befürchten. Anderes hat er auch nicht aufgezeigt.
Die Glaubensgemeinschaft der Aleviten hat zwar in der Türkei – wie jene der katholischen und evangelischen Christen – keinen eigenen Rechtsstatus. Die individuelle Religionsfreiheit ist jedoch weitgehend gewährleistet (vgl. Lagebericht ebenda S. 14 f.). Eine Verfolgung alevitischer Gläubiger allgemein ist daher nicht zu befürchten (vgl. VG München, B.v. 5.4.2018 – M 1 S 17.46575 – juris Rn. 14 m.w.N.).
f) Der Kläger konnte auch mit seinem individuellen Vortrag nicht glaubhaft machen, dass ihm in der Türkei eine flüchtlingsrelevante Verfolgung droht.
Hierbei ist der Bescheidsbegründung der Beklagten zu folgen, wonach der Kläger keine an ihn individuell gerichteten Bedrohungen oder gar Übergriffe nachvollziehbar geschildert hat, sondern die von der Beklagten in ihrem angefochtenen Bescheid detailliert aufgezeigten Widersprüche im Vorbringen des Klägers auch nicht durch eine entsprechende Klagebegründung ausgeräumt hat. Im Übrigen gilt Folgendes:
Soweit der Kläger Bedrohungen durch den IS geschildert hat, ist dieser in der Türkei Ziel staatlicher Gegenmaßnahmen und jedenfalls kein territorial relevanter Verfolger im Sinne des § 3c Nr. 1 bis Nr. 3 AsylG, da er keinen, erst recht keinen wesentlichen Teil des Staatsgebiets der Türkei beherrscht und der türkische Staat hiergegen schutzfähig und schutzwillig ist, wie seine Reaktion auf die Anschläge des IS im Jahr 2016 gezeigt haben. Er verfolgt den IS in der Türkei konsequent. Auch war der Kläger nicht Ziel von Verfolgungshandlungen des IS im Sinne des § 3a Abs. 2 AsylG, denn angeblich ist er lediglich bedroht worden; soweit die Verwüstung des Friseurladens tatsächlich stattgefunden hätte, wäre Opfer der Ladeninhaber und damalige Arbeitgeber des Klägers gewesen, nicht er als Angestellter. Zudem ist es nicht glaubhaft, dass der Kläger vom IS überhaupt bedrängt worden ist, denn als alevitischer Kurde mit erheblichen Tätowierungen, die bei strenggläubig-traditionellen Muslimen wie insbesondere dem salafistischen IS als „unislamisch“ gelten, erfüllt der Kläger keinerlei Rekrutierungskriterien des IS, sondern wäre eher dessen Gegnerschema zuzurechnen. Dass die beiden Männer vom IS auch noch selbst an den Händen sichtbare Tätowierungen getragen haben sollen, macht diese Verfolgungsgeschichte schon nach Aktenlage schlicht unglaubwürdig, wie die Beklagte überzeugend ausgeführt hat.
Auch sonst drohen dem Kläger nach Aktenlage keine flüchtlingsrelevanten Verfolgungsmaßnahmen im Fall seiner Rückführung in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit:
aa) Eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG durch Anwendung physischer oder psychischer sowie sexueller Gewalt droht nicht.
In der Behandlung Strafverdächtiger zeigt sich ein ambivalentes Bild: Einerseits verfolgt die Türkei offiziell eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Folter des Staates und hat seit dem Jahr 2008 ihre vormals zögerliche strafrechtliche Verfolgung von hiergegen verstoßenden Soldaten, Gendarmen und Polizeibeamten nachweisbar verbessert. Allerdings kommt es vor allem mangels Kooperation der Behörden bei der Tatsachenfeststellung nur in wenigen Einzelfällen tatsächlich zu Verurteilungen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 16 f., 23 f. – im Folgenden: Lagebericht; auch AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 2) Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 kommt es wieder vermehrt zu Folter- und Misshandlungsvorwürfen gegen Strafverfolgungsbehörden. Zwar rückt die Türkei nach Ansicht des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen über Folter nach seinem Besuch im November 2016 nicht von ihrer Null-Toleranz-Politik ab. In unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Putschversuch und im Rahmen des Vorgehens der Sicherheitskräfte gegen die PKK im Südosten des Landes kam bzw. kommen allerdings Misshandlungen von in Gewahrsam befindlichen Personen vor. Dem entsprechend weist auch der Sonderberichterstatter auf das Auseinanderfallen von Anspruch und Wirklichkeit der Null-Toleranz-Politik hin. Ob es darüber hinaus wieder vermehrt zu Misshandlungen im Polizeigewahrsam kommt, kann nach Auffassung des Auswärtigen Amts noch nicht abschließend beurteilt werden, zumal Menschenrechtsorganisationen davon berichten, dass Dritten der Zugang zu ärztlichen Berichten über den Zustand inhaftierter bzw. in Gewahrsam genommener Personen häufig verweigert wird und eine unabhängige Überprüfung von Foltervorwürfen nur schwer möglich ist. Anhaltspunkte für eine systematische Folter werden nicht gesehen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 16 f., 23 f.; eine Zunahme der Berichte über Misshandlungen in Polizeigewahrsam bestätigt AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 2; AI, Stellungnahme an das VG Karlsruhe vom 9.3.2017, S. 2; Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 17 f.; Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche an das VG Karlsruhe vom 17.2.2017, S. 3). Teils wird auf im Erlassweg eingeräumte Straffreiheit der entsprechend der Notstandsverordnungen tätigen Staatsbediensteten verwiesen (vgl. AI, Stellungnahme an das VG Karlsruhe vom 9.3.2017, S.). Misshandlungen von am Putschversuch Beteiligter wie Piloten und Offiziere in den ersten Tagen nach dem Putschversuch im Juli 2016 werden aber als gesichert angesehen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach vom 4.4.2017, S. 2; AI, Auskunft an das VG Magdeburg vom 1.3.2018, S. 3; offiziell genehmigte Fotos gefolterter Offiziere bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 20).
Der Kläger hat nicht glaubhaft machen können, tatsächlich polizeilich gesucht zu werden oder gar verurteilt zu sein. Seine Angaben hierzu sind völlig widersprüchlich schon nach der zutreffenden Einschätzung der Beklagten in ihrem Bescheid. Zudem droht dem Kläger selbst im Fall der Wehrdienstentziehung keine Haft, sondern die Einberufung (vgl. unten).
bb) Eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung droht nicht.
Hinsichtlich der Strafzumessungs- und Strafverfolgungspraxis in der Türkei zeigt sich ein ambivalentes Bild: Einerseits wurden der Türkei Fortschritte im Bereich der Justiz bescheinigt, andererseits bestehen auch erhebliche Defizite (z.B. teilweise exzessiv lange Dauer der Strafverfahren und der Untersuchungshaft). Die Notstandsdekrete und Gesetzesänderungen im Nachgang des Putschversuchs vom Juli 2016 haben die Unabhängigkeit der Justiz eingeschränkt; Massenentlassungen und der Ersatz erfahrener Richter und Staatsanwälte durch unerfahrenes Personal haben zu Kapazitätsengpässen in der Justiz geführt und neben dem auf die Justiz ausgeübten politischen Druck die Aussicht auf ein ordnungsgemäßes und faires Verfahren eingeschränkt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 15 – im Folgenden: Lagebericht; auch AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 1). Ebenso wurde im zweiten Anlauf der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK), welcher u.a. über Verwarnungen, Versetzung oder den Verbleib im Beruf dieser Justizbediensteten entscheidet, einer stärkeren Kontrolle des Justizministeriums unterworfen; im Nachgang zum Putschversuch wurde ein nicht unerheblicher Teil des HSYK-Personals (insgesamt 14.993) im Rahmen von Versetzungen ausgetauscht. Mit dem sog. Sommer-Beschluss wurden im Jahr 2016 beispielsweise 3.228 (2015: 2.664; 2014: 2.517; 2011: 529; 2010: 271) Richter und Staatsanwälte der administrativen Justiz und 518 der zivilen Justiz – insgesamt 3.746 – versetzt. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 wurden außerdem 3.456 Richter und Staatsanwälte vom Dienst suspendiert (vgl. Lagebericht ebenda S. 16; Zahlen auch bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 13).
Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Anders als bei Fällen von allgemeiner Kriminalität sind in Verfahren mit politischen Tatvorwürfen bzw. Terrorismusbezug unabhängige Verfahren kaum bzw. zumindest nicht durchgängig gewährleistet, insbesondere werden im Südosten Fälle mit Bezug zur angeblichen Mitgliedschaft in der PKK oder KCK häufig als geheim eingestuft und eine Akteneinsicht von Verteidigern, bisweilen auch ihre Teilnahme an Befragungen unterbunden. Im Zuge der strafrechtlichen Aufarbeitung des Putschversuches vom Juli 2016 schränkte das Dekret 668 am 27. Juli 2016 die regulären Verfahrensgarantien für Personen weitreichend ein, gegen die im Zuge der Verfahren auf Grund der Notstandsdekrete ermittelt wird. So wurde für diese Personengruppe u.a. die maximale Dauer des Polizeigewahrsams auf 30 Tage erhöht. Außerdem wurde für die Strafverfolgungsbehörden die Möglichkeit geschaffen, das Recht von inhaftierten Beschuldigten, ihren Verteidiger zu treffen, für fünf Tage einzuschränken bzw. für diese Zeit auch jeden Kontakt zu verbieten. Teile dieser Bestimmungen wurden durch eine Änderung der Notstandsdekrete vom 23. Januar 2017 allerdings wieder rückgängig gemacht. Die Kommunikation zwischen Mandanten und Verteidigern kann audio-visuell überwacht werden; in zahlreichen Fällen im Zusammenhang mit Terrorismusvorwürfen wurde der überwachte Kontakt mit dem Verteidiger auf bis zu eine Stunde pro Woche in Anwesenheit eines Beamten reduziert (vgl. Lagebericht ebenda S. 16).
Grundsätzlich kommt es nicht zu einer Verurteilung, wenn der Angeklagte bei Gericht – etwa durch Abwesenheit – nicht gehört werden konnte. Es kommen dann die Fristen für Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung zum Tragen (vgl. Lagebericht ebenda S. 16).
Deswegen ist es umso unplausibler, dass der Kläger verurteilt sein will, obwohl er sich behördlichen Einberufungsmaßnahmen zum Wehrdienst durch Umzug entzogen haben will (vgl. oben).
cc) Eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung droht nicht.
Nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG ist eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt dann als Verfolgungshandlung zu qualifizieren, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, sich also als Verbrechen gegen den Frieden, als ein Kriegsverbrechen oder als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen würden.
Zwar unterliegt ein Mann grundsätzlich der gesetzlichen Wehrpflicht, die in der Türkei ab dem 20. Lebensjahr beginnt. Der Wehrdienst wird in den Streitkräften oder der Jandarma abgeleistet. Söhne und Brüder gefallener Soldaten können vom Wehrdienst befreit werden; im Ausland lebende Türken können sich gegen ein Entgelt freikaufen, das mit Änderung des Wehrgesetzes im Januar 2016 von 6.500 Euro auf 1.000 Euro gesenkt wurde (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 18 – im Folgenden: Lagebericht).
In der Türkei gibt es kein Recht zur Verweigerung des Wehrdienstes oder einen Anspruch auf Ableistung eines Ersatzdienstes. Musterungsverweigerer, Wehrdienstverweigerer und Fahnenflüchtige werden strafrechtlich verfolgt. Seit Änderung von Art. 63 tMilStGB ist bei unentschuldigtem Nichtantritt oder Fernbleiben vom Wehrdienst statt einer Freiheitsstrafe zunächst eine Geldstrafe zu verhängen. Subsidiär bleiben aber Haftstrafen bis zu sechs Monaten möglich. Die Verjährungsfrist richtet sich nach Art. 66e tStGB und beträgt zwischen fünf und acht Jahren, falls die Tat mit Freiheitsstrafe bedroht ist. Suchvermerke für Wehrdienstflüchtlinge werden seit Ende 2004 nicht mehr im Personenstandsregister eingetragen. Es kommt regelmäßig, zuletzt 2010, zu Verhaftungen von Kriegsdienstverweigerern; diese Praxis wird jedoch nicht einheitlich umgesetzt (vgl. Lagebericht ebenda S. 18). Soweit bis zum Jahr 2009 Personen die türkische Staatsangehörigkeit aberkannt wurde, die sich dem Wehrdienst entzogen hatten, können sie mittlerweile unabhängig von ihrem Wohnsitz wieder die Staatsangehörigkeit erhalten (vgl. Lagebericht ebenda S. 19).
Soweit im vorliegenden Fall eine Strafverfolgung wegen Wehrdienstentziehung möglich ist, droht jedoch keine Beteiligung an Kriegsverbrechen; besondere Umstände, aus denen sich ergibt, dass Strafmaßnahmen nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht gelten, sind nicht ersichtlich (vgl. EuGH, U.v. 20.11.2013 – C-472/13; BVerwG, U.v. 24.4.1990 – 9 C 4/89 – NVwZ 1990, 876). Insbesondere gibt es keine belastbaren Erkenntnisse, dass die Heranziehung zum Militärdienst an gruppenbezogenen Merkmalen bzw. persönlichen Merkmalen i.S.v. § 3b AsylG orientiert ist. Im Gegenteil können homosexuelle Wehrpflichtige auf Antrag und nach Begutachtung grundsätzlich als für den Wehrdienst untauglich eingestuft werden; die aktuelle Handhabung ist offen (vgl. Lagebericht ebenda S. 18 f.). Die Heranziehung zum Wehrdienst und die Bestrafung wegen seiner Verweigerung stellen daher keine politische Verfolgung dar (wie hier VG München, B.v. 5.4.2018 – M 1 S 17.46575 – juris Rn. 13 m.w.N.).
Kurden werden bei der Heranziehung zum Militärdienst ebenso wie bei einer Bestrafung wegen Militärdienstentziehung nicht aufgrund ihres Volkstums in asylerheblicher Weise benachteiligt. Die Heranziehung zum Militärdienst in der Türkei und die Bestrafung ihrer Nichtbefolgung stellen keine Form politischer Verfolgung dar, da sie allgemein gegenüber allen männlichen Staatsangehörigen ausgeübt werden. Auch eine Militärdienstverweigerung durch Flucht ins Ausland wird ohne weitere Verdachtsmomente nicht als Sympathie für separatistische Bestrebungen ausgelegt. Es liegen schließlich auch keine Erkenntnisse darüber vor, dass Militärdienstpflichtige, die ihre Strafe wegen Dienstentziehung oder Fahnenflucht verbüßen, misshandelt werden oder in der vorausgehenden Polizei- oder Militärhaft generell Folter zu erleiden haben. Das gilt sowohl dann, wenn sich ein Militärdienstflüchtiger im Inland stellt oder er ergriffen wird, als auch insbesondere dann, wenn er bei der Einreise aus Deutschland von den Sicherheitsbeamten an der Grenze als solcher erkannt und festgenommen wird (zum Ganzen VG Aachen, U.v. 5.3.2018 – 6 K 3554/17.A – juris Rn. 44 m.w.N.).
Hier hat der Kläger nicht plausibel machen können, in welchem Stadium sich seine Wehrdienstleistung (Musterung/Einberufung) überhaupt befindet.
dd) Eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer diskriminierend angewandter administrativer oder justizieller Maßnahmen oder eine diskriminierende Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes droht nicht. Hierzu ist nichts vorgetragen oder ersichtlich.
2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Er hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihm bei einer Rückkehr in die Türkei ein ernsthafter Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht.
Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Die Aufenthaltsbeendigung eines Ausländers durch einen Konventionsstaat kann Art. 3 EMRK verletzen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen und bewiesen sind, dass der Ausländer im Zielstaat einer Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt zu werden. Dann ergibt sich aus Art. 3 EMRK die Verpflichtung für den Konventionsstaat, den Betroffenen nicht in dieses Land abzuschieben (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 – 41738/10 – NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 173 m.w.N.).
a) Der Kläger hat eine ernsthafte Bedrohung, so sie eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG in Gestalt der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe begründen würde, nicht glaubhaft gemacht.
Die Todesstrafe ist in der Türkei abgeschafft (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 24 – im Folgenden: Lagebericht). Für extralegale Hinrichtungen liegen derzeit keine Anhaltspunkte vor.
b) Der Kläger hat eine ernsthafte Bedrohung, so sie eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wegen Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung begründen würde, nicht glaubhaft gemacht. Der Kläger ist nie verhaftet oder gar misshandelt worden und ihm droht als etwaigem Wehrdienstflüchtling auch keine Misshandlung (vgl. oben).
c) Der Kläger hat eine ernsthafte Bedrohung, so sie eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG wegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nicht glaubhaft gemacht.
Nach den ausgewerteten Erkenntnismitteln geht die Türkei zwar auf ihrem Staatsgebiet gegen Terrorismus vor und erfasst dabei auch der Terrorunterstützung etc. verdächtige Personen, insbesondere soweit sie der PKK zugerechnet werden (zum Kurdenkonflikt vgl. oben). Dies stellt jedoch nach Art, Intensität und Umfang keinen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt dar. Soweit die Türkei auf syrischem Territorium gegen kurdische Gruppen vorgeht, treffen die Kampfhandlungen die dort ansässige syrische Bevölkerung, nicht das türkische Staatsgebiet und die hier ansässige türkische bzw. kurdischstämmige Bevölkerung.
Dies zusammen genommen kann jedenfalls die in der Türkei geführte gewalttätige Auseinandersetzung mit der PKK nach Intensität und Größenordnung nicht als vereinzelt auftretende Gewalttaten i.S. von Art. 1 Nr. 2 des Zusatzprotokolls vom 8. Juni 1977 zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte (BGBl. 1990 II S. 1637) – ZP II – und auch nicht als anhaltende Kampfhandlungen bewaffneter Gruppen im Sinne von Art. 1 Nr. 1 ZP II eingestuft werden. Es fehlt auch an einer Verdichtung allgemeiner Gefahren, die weitere Voraussetzung für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ist.
3. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor. Auf den Bescheid des Bundesamts wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
aa) Der junge erwerbsfähige Kläger war bereits dreizehn Jahre lang in der Türkei im Stande, seinen Lebensunterhalt durch selbständige und unselbständige Erwerbstätigkeit zu sichern. Zudem verfügt er über Familie am Heimatort. Eine konkrete Gefahr für Leib, Leben oder menschenwürdige Existenz ist daher nicht gegeben.
bb) Der Kläger würde im Fall seiner Abschiebung in die Türkei auch nicht wegen seiner Asylantragstellung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
Rückkehrerinnen und Rückkehrer werden nach vorliegenden Erkenntnissen keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen. Dem Auswärtigen Amt und türkischen Menschenrechtsorganisationen, zu denen die Deutsche Botschaft engen Kontakt unterhält, ist in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten – dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen – gefoltert oder misshandelt worden ist (vgl. Lagebericht ebenda S. 29).
Aufgrund eines Runderlasses des türkischen Innenministeriums dürfen keine Suchvermerke (insbesondere für Wehrdienstflüchtlinge oder zur Fahndung ausgeschriebene Personen) mehr ins Personenstandsregister eingetragen werden; vorhandene Suchvermerke sollen Angaben türkischer Behörden zufolge im Jahr 2005 gelöscht worden sein (vgl. Lagebericht ebenda S. 29).
Unbegleitet zurückkehrende Minderjährige finden in der Regel Aufnahme bei Verwandten, sonst im Einzelfall ggf. in einem Waisenhaus oder Kinderheim. in letzterem Fall sollten die zuständigen türkischen Behörden rechtzeitig informiert werden (vgl. Lagebericht ebenda S. 29).
In der Türkei finden Einreisekontrollen für alle Personen statt. Bei dieser Personenkontrolle können türkische Staatsangehörige mit einem gültigen türkischen, sie zur Einreise berechtigenden Reisedokument die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 werden alle türkischen Staatsangehörigen auch auf Inlandsflügen einer fahndungsmäßigen Überprüfung unterzogen. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier (vgl. Lagebericht ebenda S. 29). Die Einreisekontrollen wurden bereits im Zuge der Flüchtlingskrise verstärkt, nicht erst seit dem Putschversuch (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3), nun aber gezielter mit Listen mutmaßlicher Gülen- oder PKK-Anhänger (Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche an das VG Karlsruhe vom 17.2.2017, S. 2). Ein abgelehnter kurdischer Asylbewerber läuft bei der Rückkehr nicht Gefahr, allein wegen seiner Volkszugehörigkeit verhaftet zu werden, außer er hat sich für kurdische Rechte oder Organisationen aktiv eingesetzt oder z.B. an pro-kurdischen Demonstrationen teilgenommen (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3 f., 28 f.; auch SFH ebenda S. 2, 3, 10 f.).
4. Nachdem sich auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG als rechtmäßig erweist, war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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