Verwaltungsrecht

Erfolglose Klage eines ledigen türkischen Staatsangehörigen kurdischer Volkszugehörigkeit

Aktenzeichen  Au 6 K 17.33611

Datum:
26.9.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 26370
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
EMRK Art. 15 Abs. 2
AsylG § 3 Abs. 1, § 4
QRL Art. 4 Abs. 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7

 

Leitsatz

Widersprüchliche Zeitangaben zu Ausreise und Verhaftung des die Flucht finanzierenden Onkels.
1. Kurden unterliegen in der Türkei zwar einer gewissen Diskriminierung, für die Annahme einer Gruppenverfolgung fehlt es aber an der erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte und zudem steht ihnen in der Westtürkei trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen eine inländische Fluchtalternative offen. (Rn. 26 – 31) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein einfaches Mitglied der BDP hat keine Verfolgung wegen einer Zurechnung zur PKK zu befürchten. (Rn. 34 – 40) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 12. Juni 2017 ist daher rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es wird insoweit in vollem Umfang Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine Verfolgung i. S. des § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationale Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen – den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG – muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
Eine Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – juris) entspricht.
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassen-den Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32).
Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU in Form einer widerlegbaren Vermutung ist im Asylerstverfahren zu beachten, wenn der Antragsteller frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Furcht geltend macht, dass sich die Verfolgung im Falle der Rückkehr in das Heimatland wiederholen werde. Die solchen früheren Handlungen oder Bedrohungen nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU zukommende Beweiskraft ist von den zuständigen Behörden unter der sich aus Art. 9 Abs. 3 QRL ergebenden Voraussetzung zu berücksichtigen, dass diese Handlungen oder Bedrohungen eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen, den der Betreffende für seinen Antrag auf Schutz geltend macht (vgl. zum Ganzen: BVerwG, B.v. 6.7.2012 – 10 B 18/12 – juris Rn. 5 unter Bezugnahme auf EuGH, U.v. 2.3.2010 – Rs. C-175/08 u.a. – juris Rn. 93; BVerwG, U.v. 5.5.2009 – 10 C 21/08 – juris Rn. 25). Die vorgenannte Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – BVerwGE 136, 377/382 Rn. 18) droht.
Gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen (Nr. 1), vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden (Nr. 2), oder den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat (Nr. 3). Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben (§ 3 Abs. 2 Satz 2 AsylG).
Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
a) Die politische Lage in der Türkei stellt sich derzeit wie folgt dar:
Die Türkei ist nach ihrer Verfassung eine parlamentarische Republik und ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat und besonders den Grundsätzen des Staatsgründers Mustafa Kemal („Atatürk“) verpflichtet. Der – im Jahr 2014 erstmals direkt vom Volk gewählte – Staatspräsident hat eine eher repräsentative Funktion; die Regierungsgeschäfte führt der Ministerpräsident. Im Parlament besteht von Verfassungs wegen ein Mehrparteiensystem, in welchem die seit dem Jahr 2002 regierende „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) des früheren Ministerpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Erdoğan die zahlenstärkste Fraktion darstellt, allerdings bei den regulären Parlamentswahlen vom 7. Juni 2015 erstmals seit Übernahme der Regierung die absolute Mehrheit verpasste. In der nachfolgenden Wahl vom 1. November 2015 errang die AKP zwar 49,5% der Stimmen, verfehlte aber die die für eine Verfassungsänderung notwendige 2/3- bzw. 3/5-Mehrheit (mit anschließendem Referendum). Innenpolitisches Anliegen Erdoğans ist ein Systemwechsel hin zu einem exekutiven Präsidialsystem, was eine Verfassungsänderung voraussetzt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 5, 7 – im Folgenden: Lagebericht). Nach dem Putschversuch im Juli 2016 (dazu sogleich) hat die AKP Anfang Dezember 2016 einen Entwurf zur Verfassungsänderung hin zu einem solchen Präsidialsystem ins Parlament eingebracht, das dieses Gesetz mit der für ein Referendum erforderlichen 3/5-Mehrheit beschloss. Das Verfassungsreferendum vom 16. April 2017 erreichte die erforderliche Mehrheit; mittlerweile wurde das bislang geltende Verbot für den Staatspräsidenten, keiner Partei anzugehören, aufgehoben; Staatspräsident Erdoğan ist seit Mai 2017 auch wieder Parteivorsitzender der AKP. In der vorverlegten Präsidentschaftswahl vom 24. Juni 2018 hat er die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen können; auch die regierende AKP errang bei der Parlamentswahl die Mehrheit (vgl. N.N., Bestätigung der Wahlkommission: Erdoğan gewinnt Präsidentenwahl in der Türkei, www.spiegel.de, Abruf vom 26.6.2018). Durch die damit abgeschlossene Verfassungsänderung wird Staatspräsident Erdoğan zugleich Regierungschef, denn das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Ohne parlamentarische Mitsprache ernennt und entlässt der Staatspräsident die Regierungsmitglieder, kann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen und vier der 13 Mitglieder im Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK) ernennen (vgl. N.N., Präsidialsystem in der Türkei: Noch mehr Macht für Erdogan, www.spiegel.de, Abruf vom 26.6.2018).
In der Nacht vom 15/16. Juli 2016 fand in der Türkei ein Putschversuch von Teilen des Militärs gegen Staatspräsident Erdoğan statt, dem sich auf Aufrufe der AKP hin viele Bürger entgegen stellten und der innerhalb weniger Stunden durch regierungstreue Militärs und Sicherheitskräfte niedergeschlagen wurde. Staatspräsident Erdoğan und die Regierung machten den seit dem Jahr 1999 im Exil in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen und dessen bis dahin vor allem für ihr Engagement in der Bildung und in der humanitären Hilfe bekannte Gülen-Bewegung für den Putsch verantwortlich. Diese wurde daher als terroristische Organisation eingestuft und ihre echten oder mutmaßlichen Anhänger im Zuge einer „Säuberung“, die sich auch auf Anhänger der verbotenen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) erstreckte, mit einer Verhaftungswelle überzogen. Gegen ca. 103.000 Personen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, über 86.000 Personen in Polizeigewahrsam genommen, darunter 41.000 Personen in Untersuchungshaft (ca. 7.500 Polizisten, 6.700 Militärangehörige, 2.400 Richter und Staatsanwälte). Über 76.000 Beamte wurden vom Dienst suspendiert bzw. aus dem Militärdienst entlassen; in etwa 20.000 Fällen wurde die Suspendierung mittlerweile beendet. Flankiert wurden diese Maßnahmen durch die Ausrufung des Ausnahmezustands (Notstand), welcher der Exekutive erhebliche Handlungsvollmachten einräumt, mehrfach verlängert wurde und bis heute andauert (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 4 f. – im Folgenden: Lagebericht; Zahlen zu Suspendierten und Verhafteten auch bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 5, 12 f.).
Als Sicherheitsorgane werden die Polizei in den Städten, die Jandarma am Stadtrand und in den ländlichen Gebieten sowie der Geheimdienst (MIT) landesweit tätig; das Militär ging in den vergangenen Jahren seiner staatlichen Sonderrolle mit einer de-facto-Autonomie gegenüber parlamentarischer Kontrolle als Hüter kemalistischer Grundsätze verlustig (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 9). Durch die „Säuberungen“ in Folge des Putsches wurde sein innenpolitisches Gewicht gemindert und durch den Einmarsch in den grenznahen Gebieten Syriens wurden seine Kapazitäten nach außen gelenkt.
Neben dem Putschversuch im Juli 2016 prägt der Kurdenkonflikt die innenpolitische Situation in der Türkei, in welchem der PKK zugehörige oder von türkischen Behörden und Gerichten ihr zugerechnete Personen erheblichen Repressalien ausgesetzt sind (vgl. dazu unten). Die PKK (auch KADEK oder KONGRA-GEL genannt) ist in der Europäischen Union als Terrororganisation gelistet (vgl. Rat der Europäischen Union, B.v. 4.8.2017 – (GASP) 2017/1426, Anhang Nr. II. 12, ABl. L 204/95 f.) und unterliegt seit 1993 in der Bundesrepublik Deutschland einem Betätigungsverbot; ihre Anhängerzahl wird hier auf rund 14.000 Personen geschätzt (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz, www.verfassungsschutz.de/de/ arbeitsfelder/af-auslaenderextremismus-ohne-islamismus/was-ist-auslaenderextremismus/ arbeiterpartei-kurdistans-pkk, Abfrage vom 26.4.2018). Die PKK wird als die schlagkräftigste ausländerextremistische Organisation in Deutschland eingestuft; sie sei in der Lage, Personen weit über den Kreis der Anhängerschaft hinaus zu mobilisieren. Trotz weitgehend störungsfrei verlaufender Veranstaltungen in Europa bleibe Gewalt eine Option der PKK-Ideologie, was sich nicht zuletzt durch in Deutschland durchgeführte Rekrutierungen für die Guerillaeinheiten zeige (Bundesamt für Verfassungsschutz, ebenda).
Der Kläger ist bzw. war nach eigenen Angaben nicht Mitglied der PKK, sondern der seinerzeit nicht verbotenen kurdischen Partei BDP. Der zutreffenden Begründung des Bescheids zu Folge hatte er keinerlei herausgehobene Funktion inne und wurde seiner Tätigkeiten wegen (Stühlerücken, Tee-Servieren etc.) auch nicht staatlich gesucht.
b) Eine Verfolgung allein wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden hat der Kläger nicht zu befürchten. Er gehört zu einer weit verbreiteten Bevölkerungsgruppe in der Türkei; Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung ethnischer Kurden liegen nicht vor.
Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt voraus, dass entweder sichere Anhaltspunkte für ein an asylerhebliche Merkmale anknüpfendes staatliches Verfolgungsprogramm oder für eine bestimmte Verfolgungsdichte vorliegen, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht.
Kurdische Volkszugehörige zählen etwa 13 Mio. bis 15 Mio. Menschen auf dem Gebiet der Türkei und stellen noch vor Kaukasiern und Roma die größte Minderheit in der Bevölkerung der Türkei (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 13 – im Folgenden: Lagebericht); sie unterliegen demnach aufgrund ihrer Abstammung keinen staatlichen Repressionen, zumal aus den Ausweispapieren in der Regel – sofern keine spezifisch kurdischen Vornamen geführt werden – nicht hervorgeht, ob ein türkischer Staatsbürger kurdischer Abstammung ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 13). Der private Gebrauch der in der Türkei gesprochenen kurdischen Sprachen Kurmandschi und des weniger verbreiteten Zaza ist in Wort und Schrift keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt. Unterricht in kurdischer Sprache an öffentlichen Schulen war bis 2012 nicht erlaubt und wurde seither stufenweise bei entsprechender Nachfrage erlaubt; Dörfer im Südosten können ihre kurdischen Namen zurückerhalten. Die verfassungsrechtliche Festschreibung von Türkisch als einziger Nationalsprache bleibt jedoch erhalten und erschwert die Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen durch Kurden und Angehörige anderer Minderheiten, für die Türkisch nicht Muttersprache ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 13 f.). Seit der Verhängung des Notstands aber hat sich die Lage verändert: Zwei Drittel der per Notstandsdekret geschlossenen Medien sind kurdische Zeitungen, Onlineportale, Radio- und Fernsehsender, darunter auch IMC TV und die Tageszeitung „Özgür Gündem“ unter dem Vorwurf, „Sprachrohr der PKK“ zu sein (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 14).
Kurdische Volkszugehörige unterliegen damit in Türkei zwar einer gewissen Diskriminierung. Es fehlt aber jedenfalls an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte (vgl. zur Gruppenverfolgung BVerfG, B.v. 23.1.1991 – 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 – BVerfGE 83, 216 m.w.N.; BVerwG, B.v. 24.2.2015 – 1 B 31/14 – juris). Das Gericht geht aufgrund der vorliegenden und ins Verfahren eingeführten Erkenntnismittel davon aus, dass eine Verfolgung kurdischer türkischer Staatsangehöriger jedenfalls nicht die von der Rechtsprechung verlangte Verfolgungsdichte aufweist, die zu einer Gruppenverfolgung und damit der Verfolgung eines jeden Mitglieds führt (im Ergebnis wie hier VG Aachen, U.v. 5.3.2018 – 6 K 3554/17.A – juris Rn. 51 m.w.N.). Unabhängig davon steht Kurden in der Westtürkei trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen eine inländische Fluchtalternative offen (vgl. SächsOVG, U.v. 7.4.2016 – 3 A 557/13.A; BayVGH, B.v. 22.9.2015 – 9 ZB 14.30399, alle juris). Sie können den Wohnort innerhalb des Landes wechseln und so insbesondere in Ballungsräumen in der Westtürkei eine in der Südosttürkei auf Grund der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und PKK etwa höhere Gefährdung verringern. Keine Ausweichmöglichkeiten hingegen bestehen, soweit eine Person Ziel behördlicher oder justizieller Maßnahmen wird, da die türkischen Sicherheitskräfte auf das gesamte Staatsgebiet Zugriff haben (Lagebericht ebenda S. 22).
Dies gilt auch für den nicht ortsgebundenen Kläger.
c) Eine Verfolgung wegen einer Zugehörigkeit/Zurechnung zur Gülen-Bewegung hat der Kläger nicht zu befürchten. Hierzu ist nichts vorgetragen oder ersichtlich.
d) Eine Verfolgung wegen einer Zurechnung zur PKK hat der Kläger nicht zu befürchten, da er nur Mitglied der BDP in einfacher Funktion gewesen sein will.
Eine weitere Gruppe, die staatlichen Nachstellungen ausgesetzt ist, sind Personen, denen eine Nähe zur kurdischen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) vorgeworfen wird (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 4 f., 9 f. – im Folgenden: Lagebericht). Seit Sommer 2015 war die Türkei Ziel terroristischer Anschläge, welche seitens der türkischen Regierung u.a. der PKK zur Last gelegt wurden und Vorwand boten, den zwischen der Regierung und PKK-Chef Öcalan Ende 2012 begonnenen erfolgversprechenden Befriedungsprozess mit der PKK abzubrechen. Flankiert von einem nationalistisch ideologisierten Kurs geht die Türkei bedingungslos gegen die PKK vor und nutzt den Vorwurf des Terrorismus auch für weitergehende Freiheitsbeschränkungen und Repressalien. Der seit Juli 2015 nach der PKK zugeschriebenen Attentaten wieder militärisch ausgefochtene Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK forderte zum Stand September 2016 bislang fast 5.000 Todesopfer, darunter 475 Zivilisten, 478 Angehörige der Streitkräfte, 211 Polizisten und über 3.700 PKK-Kämpfer (Lagebericht ebenda S. 6; auch AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 1). Schwere Waffen wie Panzer und Artillerie sollen dabei sogar in Wohngebieten eingesetzt worden und nach Informationen der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV) 321 Zivilpersonen getötet worden sein (vgl. AI, Auskunft an das VG Magdeburg vom 1.3.2018, S. 2). Neben Angriffen türkischer Sicherheitsorgane auf Stellungen der PKK im Südosten der Türkei kam es dort auch in Städten zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Polizei und Armee einerseits und Mitgliedern der PKK-Jugendorganisation andererseits (vgl. AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 1, 2).
Daher besteht eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung insbesondere bei Personen, die in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten, weil sie dort als tatsächliche oder potentielle Unterstützer etwa der PKK oder anderer als terroristisch eingestufter Organisationen angesehen werden (vgl. VG Aachen, U.v. 5.3.2018 – 6 K 3554/17.A – juris Rn. 51 m.w.N.).
Der nun gewaltsam ausgetragene Kurdenkonflikt ließ auch die politische Vertretung der kurdischen Minderheit zum Ziel staatlicher Repressalien werden. Die meisten politisch Oppositionellen können sich nicht mehr frei und unbehelligt am politischen Prozess beteiligen. Abgeordnete mehrerer Parteien sind von der Immunitätsaufhebung im Juli 2016 betroffen, besonders auch die links-kurdische Partei „Demokratische Partei der Völker“ (HDP). Für die türkische Regierung war die HDP Verhandlungspartner im Befriedungsprozess; sie zog in der Parlamentswahl am 7. Juni 2015 mit 13,1% der Stimmen erstmals als Partei ins Parlament ein, nachdem sie zuvor durch unabhängige Kandidaten vertreten gewesen war; in der Parlamentswahl am 1. November 2015 gelang ihr mit 10,8% der Stimmen nur knapp die Überwindung der Zehnprozenthürde zum Wiedereinzug ins Parlament (Lagebericht ebenda S. 10). Im Zuge von Anklagen wegen angeblicher Verstöße gegen Anti-Terror-Gesetze droht 57 der 59 HDP-Parlamentsabgeordneten nach Aufhebung ihrer Immunitäten der Mandatsverlust, lange Haftstrafen und ein mehrjähriges Verbot politischer Betätigung; Ende des Jahres 2016 befanden sich 13 HDP-Abgeordnete in Untersuchungshaft (Lagebericht ebenda S. 6, 9 f.). Auch auf lokaler Ebene versucht die Regierung, den Einfluss der HDP und von deren Schwesterpartei DBP zu verringern. Die DBP stellt 97 der Bürgermeister im Südosten der Türkei und ist dort die vorherrschende politische Kraft. Genauso wie vielen der HDP-Abgeordneten wird vielen DBP-Mitgliedern Unterstützung der PKK vorgeworfen. Im Zuge der Notstandsdekrete wurden 51 gewählte Kommunalverwaltungen überwiegend im kurdisch geprägten Südosten der Türkei mit der Begründung einer Nähe zu terroristischen Organisationen (PKK, Gülen-Bewegung) abgesetzt und durch sog. staatliche Treuhändler ersetzt (Lagebericht ebenda S. 10). Teilen der Basis der HDP werden Verbindungen zur PKK nachgesagt sowie zu deren politischer Dachorganisation „Union der Gemeinschaften Kurdistans“ (KCK), welcher von türkischen Behörden unterstellt wird, von der PKK dominierte quasi-staatliche Parallelstrukturen (z. B. Sicherheit, Wirtschaft) aufzubauen (Lagebericht ebenda S. 10). Strafverfolgung gegen die PKK und die KCK trifft daher teilweise auch Mitglieder der HDP/ BDP; seit April 2009 wurden Schätzungen zu Folge in allen Landesteilen und insbesondere im kurdisch geprägten Südosten über 2.000 Personen verhaftet und z.T. bereits verurteilt, darunter auch zahlreiche Bürgermeister und andere Mandatsträger unter dem Vorwurf, Mitglieder der KCK und damit einer terroristischen Vereinigung zu sein (Strafrahmen: 15 Jahre bis lebenslänglich). Das umfangreichste Verfahren gegen 187 Angeklagte in Diyarbakır hat 2010 begonnen und dauert an. Die Vorwürfe beruhen nach Ansicht der Verteidigung zum großen Teil auf illegalen Telefonüberwachungen und nicht stichhaltigen Beweisen. Alle Angeklagten wurden zwischenzeitlich aufgrund der Justizreformpakete aus der Untersuchungshaft entlassen. Bei diversen anderen Verhaftungswellen im Südosten des Landes sowie in den Ballungszentren Istanbul, Ankara und Izmir wurden seit Mitte 2011 auch Journalisten, Akademiker, Gewerkschafter und Rechtsanwälte inhaftiert. Aktuellen Erkenntnissen zufolge befinden sich in diesem Zusammenhang derzeit noch 20 bis 25 Journalisten in Haft (Lagebericht ebenda S. 10). Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen vom 24. Juni 2018 überwand die HDP mit 11,7% der Stimmen erneut die Zehnprozenthürde (vgl. N.N., Präsidialsystem in der Türkei: Noch mehr Macht für Erdogan, www.spiegel.de, Abruf vom 26.6.2018).
Unscharf und Vorwand für die Bandbreite an Repressalien ist der von türkischen Behörden und Gerichten angewandte Begriff des „Terrorismus“. Zwar gewährleistet die türkische Rechtsordnung die Presse- und Meinungsfreiheit, schränkt sie jedoch durch zahlreiche Bestimmungen der Straf- und Antiterrorgesetze ein mit einer unspezifischen Terrorismusdefinition. Seitens der regierenden AKP wird eine Neudefinition des „Terrorismus“-Begriffs im Antiterrorgesetz vorbereitet, wonach auch Personen, die in Medien und sozialen Netzwerken „Terrorpropaganda betreiben sowie Terrororganisationen logistische Unterstützung leisten“, erfasst werden. Ebenso problematisch ist jedoch die sehr weite Auslegung des „Terrorismus“-Begriffs durch die Gerichte. So kann etwa auch öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südosttürkei bei entsprechender Auslegung bereits den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen. Die „Beleidigung des Türkentums“ ist gemäß Art. 301 tStGB strafbar und kann von jedem Staatsbürger zur Anzeige gebracht werden, der Meinungs- oder Medienäußerungen für eine Verunglimpfung der nationalen Ehre hält. Die Mehrzahl dieser Anzeigen mündet allerdings nicht in Strafverfahren. Von insgesamt 449 Fällen im Jahr 2014 wurden lediglich in 72 Fällen bzw. 21% (2013: 140 – 6%) Strafverfahren eröffnet. Verfahren wegen Beleidigung des derzeitigen Staatspräsidenten gemäß Art. 299 tStGB haben sich einer Studie zu Folge im Vergleich zu den Vorgängern fast verzehnfacht; seit August 2014 sollen 1.845 Klagen erhoben bzw. Strafermittlungsverfahren eingeleitet und jedenfalls solche gegen Mitglieder der HDP auch nicht eingestellt worden sein (Lagebericht ebenda S. 11).
Ziel von Verhaftungen sind auch regierungskritische Journalisten, so sollen seit Beginn der dem Putschversuch folgenden „Säuberungen“ nach Angaben von „Reporter ohne Grenzen“ über 100 Journalisten unter dem Vorwurf der Unterstützung der Gülen-Bewegung oder der PKK inhaftiert. Gegen den ehemaligen Chefredakteur der Zeitung „Cumhuriyet“, Can Dündar, sowie den Leiter des Ankaraner Büros der Tageszeitung, Erdem Gül, laufen Verfahren wegen Spionage und Verrats von Staatsgeheimnissen; sie wurden im Mai 2016 zu fünf Jahren und zehn Monaten bzw. fünf Jahren Haft verurteilt, das Berufungsverfahren läuft derzeit noch; Can Dündar hält sich derzeit in Deutschland auf und kündigte an, er werde nicht in die Türkei zurückkehren, weil er dem Rechtssystem nicht vertraue. Mittlerweile sind Urteile mit langen Haftstrafen ergangen. Zehn weitere Mitarbeiter von „Cumhuriyet“ sind seit Herbst 2016 in Untersuchungshaft; ihnen wird u.a. Geldwäsche in Zusammenhang mit dem Gülen-Netzwerk vorgeworfen. Weitere Journalisten und der türkische Vertreter von „Reporter ohne Grenzen“, Erol Önderoğlu, wurden im Juni 2016 unter dem Vorwurf der Propaganda einer Terrororganisation verhaftet, weil sie aus Solidarität mit der Kurdennahen Tageszeitung „Özgür Gündem“ abwechselnd deren Leitung übernahmen und „Özgür Gündem“ mit Gerichtsbeschluss vom 16. August 2016 geschlossen wurde (Lagebericht ebenda S. 12). Die Strafverfahren gegen Regierungskritiker und Journalisten werden als unfair bewertet (so AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 2). Medien mit Kontakten zur Gülen-Bewegung wurden innerhalb von sechs Wochen per Dekret geschlossen (Lagebericht ebenda S. 12; auch AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 2); das Privatvermögen bei Gülennahen Medienorganen angestellter Journalisten und Publizisten wurde Ende Dezember 2016 beschlagnahmt. Insgesamt wurden seit Juli 2016 mehr als 180 Medienorgane geschlossen, 330 Journalisten wurde der Presseausweis entzogen, 200 weitere Journalisten erhielten ein Zugangsverbot für das Parlament. (Mord-) Drohungen gegen und tätliche Angriffe auf regierungskritische Journalisten sind keine Seltenheit; auch das Internet in der Türkei ist nicht vollständig frei (Lagebericht ebenda S. 12). Teils soll schon genügen, in Publikationen die PKK nicht als „Terrororganisation“ im Sinne der amtlich-türkischen Sprachregelung zu bezeichnen, um als Journalist ihrer Unterstützung beschuldigt zu werden (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 7).
Exilpolitische Aktivitäten türkischer Staatsangehörige, die im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind, können nach türkischen Gesetzen bestraft werden. Diese Personen können Ziel polizeilicher oder justizieller Maßnahmen werden, wenn sie in die Türkei einreisen. Insbesondere Personen, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten und als Anstifter oder Aufwiegler angesehen werden, müssen mit strafrechtlicher Verfolgung durch den Staat rechnen, vor allem auch Mitgliedern des sog. „Gülen-Netzwerkes“ (Lagebericht ebenda S. 21). Öffentliche Äußerungen, auch in Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten etc. im Ausland zur Unterstützung kurdischer Belange sind strafbar, wenn sie als Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden können (Lagebericht ebenda S. 12).
Vorliegend hat der Kläger zwar angegeben, für die kurdische Partei BDP als Vorläufer der HDP untergeordnete Tätigkeiten entfaltet zu haben. Dass er deswegen aber der PKK zugerechnet würde, ist nicht ersichtlich und von ihm auch nicht nachvollziehbar vorgetragen worden. Die o.g. Hausdurchsuchung kann auch mit der Teilnahme an der o.g. gewaltsamen Demonstration zusammenhängen. Dafür spricht auch, dass die Demonstration im Jahr 2012 und die Hausdurchsuchung vor der Ausreise im Jahr 2013 stattgefunden haben, also zu einer Zeit, als der türkisch-kurdische Friedensprozess noch in Gang war und mit der PKK faktisch ein Waffenstillstand bestand, es also ihretwegen seinerzeit keine Verfolgungsgründe gab.
f) Der Kläger konnte auch mit seinem individuellen Vortrag nicht glaubhaft machen, dass ihm in der Türkei eine flüchtlingsrelevante Verfolgung droht.
Hierbei ist der Bescheidsbegründung der Beklagten zu folgen, wonach der Kläger keine an ihn individuell gerichteten Bedrohungen oder gar Übergriffe geschildert hat, sondern sich hinsichtlich seiner Verfolgungsgeschichte in entscheidungserhebliche Widersprüche verwickelt hat, die nach Überzeugung des Einzelrichters zur Unglaubwürdigkeit seines gesamten Vorbringens führen:
Eine staatliche Nachsuche fand seinen Angaben zu Folge wegen einer Teilnahme an einer nicht gewaltfreien Demonstration in … im Jahr 2012 statt, bei der er zwar behauptet, die Sicherheitskräfte hätte angefangen, Steine auf die Demonstranten zu werfen, allerdings auch in der mündlichen Verhandlung einräumte, selbst Steine in Richtung der Sicherheitskräfte geworfen zu haben. Ein solches Verhalten wäre auch in Deutschland nicht vom Grundrecht auf friedliche Versammlung (Art. 8 Abs. 1 GG) gedeckt und würde zu Strafverfolgung führen. Es ist nicht ersichtlich, dass die damalige Nachsuche der Polizei bzw. des Militärs nach dem Kläger nicht einer etwaigen Strafverfolgung diente und damit nicht in erster Linie an seine politische Überzeugung sondern an seine Teilnahme an einer gewalttätigen Demonstration anknüpfte. Eine politische Verfolgung ist damit nicht glaubhaft gemacht.
Gegen eine tatsächlich erlebte Verfolgung sprechen die bereits von der Beklagten aufgezeigten Widersprüche im Vorbringen des Klägers. Dass er das Parteilogo der BDP als „Blume“ bzw. „Rose“ bezeichnet, während es sich eindeutig um einen Baum handelt, hingegen das Parteilogo der mit der BDP politisch nicht verwandten BBP eine Rose zeigt (vgl. als allgemein zugängliche Erkenntnisquelle: Bundeszentrale für Politische Bildung, Dossier Türkei, Parteien der Türkei, Artikel zu DBP/BDP und BBP, www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/192519/bbp), zeigt eine Unsicherheit, aber fällt noch nicht maßgeblich ins Gewicht.
Deutlich schwerer wiegt der eindeutige Widerspruch in den Orts- und Zeitangaben seiner Verfolgungsgeschichte: Der Kläger gab zu seinem Voraufenthalt vor dem Bundesamt an, er habe sich vor seiner Ausreise zuletzt im Dorf … bei … aufgehalten (BAMF-Akte Bl. 49); in der mündlichen Verhandlung hingegen behauptete er, zum Ende des zwischen der letzten Demonstration am 22. Mai 2012 und seiner Ausreise im November 2013 gelegenen Zeitraums, in dem er von Seiten des Staats keiner ständigen Befragung oder Kontrolle unterlegen sei, habe er mehrmals eine Anhörung/Befragung durch die Polizei gehabt. Er sei gefragt worden, warum er dahin gegangen sei, teilgenommen habe und die kurdische Flagge hochgehalten habe. Das sei in … bei … gewesen (Niederschrift vom 26.9.2018, S. 5). Entweder hat sich der Kläger vor seiner Ausreise nicht (mehr) im Dorf … bei … aufgehalten, sonst hätte er nicht mehrmals in … befragt werden können, oder die behaupteten Befragungen haben nicht stattgefunden. Diesen Widerspruch hat er nicht aufgelöst: Dass er während einer Durchreise in … befragt worden wäre, hat er nicht behauptet; es wäre auch nicht ersichtlich, wie der türkische Staat ihn während einer bloßen Durchreise erfassen und mehrfach befragen konnte. Dass er den Kläger dabei nicht auch verhaftet hat, spricht ebenfalls gegen ein gesteigertes Verfolgungsinteresse.
Ebenso widersprüchlich und von ihm nicht aufgelöst sind die Angaben zu den Verhaftungen seines die Flucht finanzierenden Onkels: Vor dem Bundesamt gab er an, der Onkel sei 2 mal verhaftet worden und im Gefängnis gewesen; einmal vor der Reise und einmal nach der Reise des Klägers; das sei am 11. Oktober 2013 gewesen (BAMF-Akte Bl. 53). In der mündlichen Verhandlung bestätigte der Kläger zunächst, sein Onkel sei am 11. Oktober 2013 zum zweiten Mal verhaftet worden; er selbst sei am 18. November 2013 ausgereist (Niederschrift vom 26.9.2018, S. 5). Danach ist der Onkel nicht vor sondern nach der Ausreise des Klägers zum zweiten Mal verhaftet worden. Auf Vorhalt, dass dann aber die zweite Verhaftung des Onkels nicht nach sondern vor seiner Ausreise stattgefunden habe, erklärt der Kläger, bei der ersten Verhaftung des Onkels sei der Kläger noch in der Türkei gewesen und habe helfen wollen. Bei der zweiten Verhaftung des Onkels sei dies geschehen, nachdem der Kläger das Land verlassen habe (Niederschrift vom 26.9.2018, S. 5). Der Widerspruch im Vorbringen ist offensichtlich und nicht aufgelöst.
Dies gilt auch für die Haftdauer des Onkels, welche der Kläger vor dem Bundesamt mit einem Jahr im Gefängnis angab (BAMF-Akte Bl. 51), in der mündlichen Verhandlung aber auf zwei Jahre Haft taxierte (Niederschrift vom 26.9.2018, S. 4).
Schließlich ist auch nicht nachvollziehbar, wie und weshalb ein Onkel, der nach Angaben des Klägers momentan zu Hause sei, nirgendwo hin gehe und nirgends arbeiten könne, 25 Schafe habe und als Schäfer arbeite (ebenda Bl. 53), das Geld für die Flucht des Klägers aufgebracht haben soll, der eigene, in Deutschland lebende Vater dem Kläger aber jede Unterstützung aus finanziellen Gründen völlig verweigert habe.
Eine Vorverfolgung hat der Kläger damit nicht glaubhaft gemacht.
Verfolgungsmaßnahmen drohen ihm auch im Fall seiner Rückführung in die Türkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Auf Frage, ob es außer dem einen Vorfall, wo der Kläger meine, verhaftet zu werden, keine weiteren Aktionen der Polizei gegeben habe, bestätigte der Kläger dies gegenüber dem Bundesamt (ebenda Bl. 54). Hätte der türkische Staat ein gesteigertes Interesse am Kläger, hätte er nach der vom Kläger auf den 22. Mai 2012 datierten Demonstration in … bis zu dessen Ausreise am 18. November 2013 ihn nicht eineinhalb Jahre unbehelligt gelassen. Weshalb der türkische Staat nun fünf Jahre später ein gesteigertes Verfolgungsinteresse haben sollte, hat der Kläger nicht erhellt.
aa) Eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG durch Anwendung physischer oder psychischer sowie sexueller Gewalt droht dem Kläger daher nicht, insbesondere keine Inhaftierung.
In der Behandlung Strafverdächtiger zeigt sich ein ambivalentes Bild: Einerseits verfolgt die Türkei offiziell eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Folter des Staates und hat seit dem Jahr 2008 ihre vormals zögerliche strafrechtliche Verfolgung von hiergegen verstoßenden Soldaten, Gendarmen und Polizeibeamten nachweisbar verbessert. Allerdings kommt es vor allem mangels Kooperation der Behörden bei der Tatsachenfeststellung nur in wenigen Einzelfällen tatsächlich zu Verurteilungen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 16 f., 23 f. – im Folgenden: Lagebericht; auch AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 2) Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 kommt es wieder vermehrt zu Folter- und Misshandlungsvorwürfen gegen Strafverfolgungsbehörden. Zwar rückt die Türkei nach Ansicht des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen über Folter nach seinem Besuch im November 2016 nicht von ihrer Null-Toleranz-Politik ab. In unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Putschversuch und im Rahmen des Vorgehens der Sicherheitskräfte gegen die PKK im Südosten des Landes kam bzw. kommen allerdings Misshandlungen von in Gewahrsam befindlichen Personen vor. Dem entsprechend weist auch der Sonderberichterstatter auf das Auseinanderfallen von Anspruch und Wirklichkeit der Null-Toleranz-Politik hin. Ob es darüber hinaus wieder vermehrt zu Misshandlungen im Polizeigewahrsam kommt, kann nach Auffassung des Auswärtigen Amts noch nicht abschließend beurteilt werden, zumal Menschenrechtsorganisationen davon berichten, dass Dritten der Zugang zu ärztlichen Berichten über den Zustand inhaftierter bzw. in Gewahrsam genommener Personen häufig verweigert wird und eine unabhängige Überprüfung von Foltervorwürfen nur schwer möglich ist. Anhaltspunkte für eine systematische Folter werden nicht gesehen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 16 f., 23 f.; eine Zunahme der Berichte über Misshandlungen in Polizeigewahrsam bestätigt AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 2; AI, Stellungnahme an das VG Karlsruhe vom 9.3.2017, S. 2; Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 17 f.; Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche an das VG Karlsruhe vom 17.2.2017, S. 3). Teils wird auf im Erlassweg eingeräumte Straffreiheit der entsprechend der Notstandsverordnungen tätigen Staatsbediensteten verwiesen (vgl. AI, Stellungnahme an das VG Karlsruhe vom 9.3.2017, S.). Misshandlungen von am Putschversuch Beteiligter wie Piloten und Offiziere in den ersten Tagen nach dem Putschversuch im Juli 2016 werden aber als gesichert angesehen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach vom 4.4.2017, S. 2; AI, Auskunft an das VG Magdeburg vom 1.3.2018, S. 3; offiziell genehmigte Fotos gefolterter Offiziere bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 20).
bb) Eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung droht dem Kläger ebenso wenig; konkrete Strafverfolgungsmaßnahmen hat er nicht glaubhaft gemacht (vgl. oben).
Hinsichtlich der Strafzumessungs- und Strafverfolgungspraxis in der Türkei zeigt sich ein ambivalentes Bild: Einerseits wurden der Türkei Fortschritte im Bereich der Justiz bescheinigt, andererseits bestehen auch erhebliche Defizite (z.B. teilweise exzessiv lange Dauer der Strafverfahren und der Untersuchungshaft). Die Notstandsdekrete und Gesetzesänderungen im Nachgang des Putschversuchs vom Juli 2016 haben die Unabhängigkeit der Justiz eingeschränkt; Massenentlassungen und der Ersatz erfahrener Richter und Staatsanwälte durch unerfahrenes Personal haben zu Kapazitätsengpässen in der Justiz geführt und neben dem auf die Justiz ausgeübten politischen Druck die Aussicht auf ein ordnungsgemäßes und faires Verfahren eingeschränkt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 15 – im Folgenden: Lagebericht; auch AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 1). Ebenso wurde im zweiten Anlauf der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK), welcher u.a. über Verwarnungen, Versetzung oder den Verbleib im Beruf dieser Justizbediensteten entscheidet, einer stärkeren Kontrolle des Justizministeriums unterworfen; im Nachgang zum Putschversuch wurde ein nicht unerheblicher Teil des HSYK-Personals (insgesamt 14.993) im Rahmen von Versetzungen ausgetauscht. Mit dem sog. Sommer-Beschluss wurden im Jahr 2016 beispielsweise 3.228 (2015: 2.664; 2014: 2.517; 2011: 529; 2010: 271) Richter und Staatsanwälte der administrativen Justiz und 518 der zivilen Justiz – insgesamt 3.746 – versetzt. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 wurden außerdem 3.456 Richter und Staatsanwälte vom Dienst suspendiert (vgl. Lagebericht ebenda S. 16; Zahlen auch bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 13).
Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Anders als bei Fällen von allgemeiner Kriminalität sind in Verfahren mit politischen Tatvorwürfen bzw. Terrorismusbezug unabhängige Verfahren kaum bzw. zumindest nicht durchgängig gewährleistet, insbesondere werden im Südosten Fälle mit Bezug zur angeblichen Mitgliedschaft in der PKK oder KCK häufig als geheim eingestuft und eine Akteneinsicht von Verteidigern, bisweilen auch ihre Teilnahme an Befragungen unterbunden. Im Zuge der strafrechtlichen Aufarbeitung des Putschversuches vom Juli 2016 schränkte das Dekret 668 am 27. Juli 2016 die regulären Verfahrensgarantien für Personen weitreichend ein, gegen die im Zuge der Verfahren auf Grund der Notstandsdekrete ermittelt wird. So wurde für diese Personengruppe u.a. die maximale Dauer des Polizeigewahrsams auf 30 Tage erhöht. Außerdem wurde für die Strafverfolgungsbehörden die Möglichkeit geschaffen, das Recht von inhaftierten Beschuldigten, ihren Verteidiger zu treffen, für fünf Tage einzuschränken bzw. für diese Zeit auch jeden Kontakt zu verbieten. Teile dieser Bestimmungen wurden durch eine Änderung der Notstandsdekrete vom 23. Januar 2017 allerdings wieder rückgängig gemacht. Die Kommunikation zwischen Mandanten und Verteidigern kann audio-visuell überwacht werden; in zahlreichen Fällen im Zusammenhang mit Terrorismusvorwürfen wurde der überwachte Kontakt mit dem Verteidiger auf bis zu eine Stunde pro Woche in Anwesenheit eines Beamten reduziert (vgl. Lagebericht ebenda S. 16).
Grundsätzlich kommt es nicht zu einer Verurteilung, wenn der Angeklagte bei Gericht – etwa durch Abwesenheit – nicht gehört werden konnte. Es kommen dann die Fristen für Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung zum Tragen (vgl. Lagebericht ebenda S. 16).
cc) Eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung droht nicht, da der Kläger nach eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung weder gemustert noch gar einberufen ist, da er im Zeitpunkt seiner Ausreise das Alter für den Wehrdienst noch nicht erreicht hatte (Niederschrift vom 26.9.2018, S. 4).
dd) Eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer diskriminierend angewandter administrativer oder justizieller Maßnahmen oder eine diskriminierende Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes droht nicht. Anhaltspunkte hierfür hat der Kläger nicht aufgezeigt.
Die Türkei gewährleistet grundsätzlich das Recht auf sofortigen Zugang zu einem Rechtsanwalt innerhalb von 24 Stunden; für Personen, die terroristischer Straftaten beschuldigt werden, wird diese Frist auf bis zu 48 Stunden ausgedehnt. Für Personen, denen seit dem Putschversuch der Vorwurf einer Nähe zur Gülen-Bewegung gemacht wird und/oder der Beteiligung am Putschversuch, erklären sich kaum Anwälte zur Verteidigung bereit, um nicht selbst in Verdacht zu geraten oder wirtschaftliche oder gesellschaftliche Nachteile als vermeintliche Gülen-Anhänger zu erleiden. Auch von der Rechtsanwaltskammer eingesetzte Pflichtverteidiger haben deshalb in einzelnen Fällen ihr Mandat wieder niedergelegt. Für diese Personengruppe kann momentan nicht davon ausgegangen werden, dass faktisch eine Möglichkeit zur effektiven Verteidigung durch einen Rechtsanwalt besteht. Das Recht auf kostenlose Rechtsberatung gilt bei nachgewiesener Mittellosigkeit und ist an die Antragstellung gebunden. Nach spätestens 24 Stunden zuzüglich 12 Stunden Transportzeit muss der Betroffene dem zuständigen Haftrichter vorgeführt werden; in Fällen von Kollektivvergehen, Schwierigkeiten der Beweissicherung oder einer großen Anzahl von Beschuldigten kann der polizeiliche Gewahrsam bis zu drei Tage verlängert werden. Bei Festnahmen in Sicherheitszonen kann die in Art. 91 Abs. 3 tStPO vorgesehene Frist von vier Tagen auf Antrag der Staatsanwaltschaft und Entscheidung des Haftrichters auf bis zu sieben Tage verlängert werden, wobei diese Fristen in der Praxis in Einzelfällen überschritten werden (vgl. Lagebericht ebenda S. 17 f.). Verschärfungen folgen aus dem „Sicherheitspaket“ vom 27. März 2015, wonach auf „frischer Tat“ beispielsweise während einer gewalttätigen Demonstration ergriffene Einzelpersonen nach 48 Stunden und bei Kollektivverbrechen erst vier Tage später dem Richter vorgeführt zu werden brauchen. Die Notstandsregelung im Dekret Nr. 667 vom 22. Juli 2016 hat die Höchstfrist für Polizeigewahrsam ohne richterliche Entscheidung auf 30 Tage erhöht; sie wird angewandt bei Straftaten gegen die Sicherheit des Landes (Artikel 302-308), gegen die Verfassungsordnung und ihr Funktionieren (Artikel 309-316), gegen die nationale Verteidigung (Artikel 317-325), gegen Staatsgeheimnisse und Spionage (Artikel 326-339) und bei Straftaten, die vom Anti-Terror-Gesetz umfasst werden sowie bei gemeinschaftlich begangenen Straftaten (vgl. Lagebericht ebenda S. 17 f.). Dem Auswärtigen Amt sind in den letzten Jahren keine Gerichtsurteile auf Grundlage von – durch die Strafprozessordnung verbotenen – erpressten Geständnissen bekannt geworden, allerdings Berichte, dass Festgenommene in einigen Fällen durch psychischen Druck verleitet werden, Aussagen zu machen bzw. Erkenntnisse aus unzulässigen Telefonüberwachungen in Strafverfahren Eingang finden (vgl. Lagebericht ebenda S. 18).
Vorliegend hat der Kläger – selbst bei Wahrunterstellung seines Vortrags entgegen der Einschätzung des Einzelrichters (vgl. oben) – eine Hausdurchsuchung kurz nach der letzten Demonstration im Februar 2012, danach eine Untätigkeit des türkischen Staats bis kurz vor der Ausreise im November 2013 und dann – unter Steigerung seines bisherigen Vorbringens, worin er dies nicht erwähnt hatte – mehrmals eine Anhörung/Befragung durch die Polizei angegeben (Niederschrift vom 26.9.2018, S. 5). Diskriminierend angewandte administrative oder justizielle Maßnahmen oder eine diskriminierende Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes sind daraus nicht ersichtlich.
2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Er hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihm bei einer Rückkehr in die Türkei ein ernsthafter Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht. Insbesondere hat er keine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wegen Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung glaubhaft gemacht, da er vor seiner Ausreise nicht verhaftet sondern – nach seinen Angaben – lediglich befragt worden sein will und auch nicht ersichtlich ist, in wie weit er sich zwischenzeitlich in der Türkei strafbar gemacht hätte (vgl. oben).
3. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor. Auf den Bescheid des Bundesamts wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
a) Dem Kläger steht kein Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu.
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Dies ist auch der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht (mehr) gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – Asylmagazin 2015, 197) und die aus zu erwartenden schwierigen Lebensbedingungen resultierenden Gefährdungen im Einzelfall eine solche Intensität aufweisen, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist.
Hier liegen diese besonders strengen Voraussetzungen nicht vor:
aa) Der erwachsene, gesunde und erwerbsfähige Kläger würde im Fall seiner Abschiebung in die Türkei keiner besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass seine elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht gesichert wären.
Die Grundversorgung und die medizinische Versorgung sind nach Überzeugung des Gerichts für Rückkehrer in der Türkei jedenfalls im Umfang des absoluten Existenzminimums gesichert.
In der Türkei gibt es zwar keine mit dem deutschen Recht vergleichbare staatliche Sozialhilfe. Sozialleistungen für Bedürftige werden aber über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität gewährt und von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind. Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besonderen Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 19.2.2017, S. 26 f. – im Folgenden: Lagebericht).
Die medizinische Versorgung durch das staatliche Gesundheitssystem hat sich in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert, vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite vor allem in ländlichen Provinzen bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet. Landesweit gab es im Jahr 2013 1.517 Krankenhäuser mit einer Kapazität von 202.031 Betten, davon ca. 60% in staatlicher Hand. Die Behandlung bleibt für die bei der staatlichen Krankenversicherung Versicherten mit Ausnahme der „Praxisgebühr“ unentgeltlich. Grundsätzlich können sämtliche Erkrankungen in staatlichen Krankenhäusern angemessen behandelt werden, insbesondere auch chronische Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, Aids, Drogenabhängigkeit und psychiatrische Erkrankungen. Wartezeiten in den staatlichen Krankenhäusern liegen bei wichtigen Behandlungen/Operationen in der Regel nicht über 48 Stunden. In vielen staatlichen Krankenhäusern ist es jedoch (nach wie vor) üblich, dass Pflegeleistungen nicht durch Krankenhauspersonal, sondern durch Familienangehörige und Freunde übernommen werden. Durch die zahlreichen Entlassungen nach dem gescheiterten Putschversuch, von denen auch der Gesundheitssektor betroffen ist, kommt es nach Medienberichten gelegentlich zu Verzögerungen bei der Bereitstellung medizinischer Dienstleistungen (vgl. Lagebericht ebenda S. 27). Psychiater praktizieren und zwölf psychiatrische Fachkliniken mit einer Bettenkapazität von rund 4.400 standen im Jahr 2011 zur Verfügung, weitere Betten gibt es in besonderen Fachabteilungen einiger Regionalkrankenhäuser. Auch sind therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige vorhanden (vgl. Lagebericht ebenda S. 27; zur Behandlung psychischer Erkrankungen auch S. 34 f.).
Zum 1. Januar 2012 hat die Türkei eine allgemeine, obligatorische Krankenversicherung eingeführt für alle Personen mit Wohnsitz in der Türkei mit Ausnahmen u.a. für Soldaten/Wehrdienstleistende und Häftlinge. Die obligatorische Krankenversicherung erfasst u. a. Leistungen zur Gesundheitsprävention, stationäre und ambulante Behandlungen und Operationen, Laboruntersuchungen, zahnärztliche Heilbehandlungen sowie Medikamente, Heil- und Hilfsmittel. Unter bestimmten Voraussetzungen sind auch Behandlungen im Ausland möglich. Nicht der Sozialversicherungspflicht unterfallende türkische Staatsbürger mit einem Einkommen von weniger als einem Drittel des Mindestlohns können von der Beitragspflicht befreit werden. Bei einem Einkommen zwischen einem Drittel und dem doppelten Mindestlohn gelten ermäßigte Beitragssätze. Bis Mitte des Jahres 2014 haben sich rund 12 Mio. Türken einer solchen Einkommensüberprüfung unterzogen, für rund 8 Mio. von ihnen hat der Staat die Zahlung der Beiträge übernommen (vgl. Lagebericht ebenda S. 28).
Die für eine gesundheitliche Versorgung mittelloser türkischer Staatsbürger bisher geltenden „Grünen Karten“ (2011: knapp 9 Millionen Inhaber) sind ausgelaufen, ihre Inhaber sollen in die allgemeine Krankenversicherung überwechseln. Für Kinder bis zum Alter von 18 bzw. 25 Jahren, Ehepartner und (Schwieger-)Elternteile ohne eigenes Einkommen besteht die Möglichkeit einer Familienversicherung. Besondere Beitragsregelungen gelten schließlich auch für Bezieher von Alters- und Erwerbsminderungsrenten (vgl. Lagebericht ebenda S. 29).
bb) Der Kläger würde im Fall seiner Abschiebung in die Türkei auch nicht wegen seiner Asylantragstellung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden (vgl. ausführlich oben).
Rückkehrerinnen und Rückkehrer werden nach vorliegenden Erkenntnissen keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen. Dem Auswärtigen Amt und türkischen Menschenrechtsorganisationen, zu denen die Deutsche Botschaft engen Kontakt unterhält, ist in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten – dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen – gefoltert oder misshandelt worden ist (vgl. Lagebericht ebenda S. 29).
In der Türkei finden Einreisekontrollen für alle Personen statt. Bei dieser Personenkontrolle können türkische Staatsangehörige mit einem gültigen türkischen, sie zur Einreise berechtigenden Reisedokument die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 werden alle türkischen Staatsangehörigen auch auf Inlandsflügen einer fahndungsmäßigen Überprüfung unterzogen. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier (vgl. Lagebericht ebenda S. 29). Die Einreisekontrollen wurden bereits im Zuge der Flüchtlingskrise verstärkt, nicht erst seit dem Putschversuch (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3), nun aber gezielter mit Listen mutmaßlicher Gülen- oder PKK-Anhänger (Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche an das VG Karlsruhe vom 17.2.2017, S. 2). Ein abgelehnter kurdischer Asylbewerber läuft bei der Rückkehr nicht Gefahr, allein wegen seiner Volkszugehörigkeit verhaftet zu werden, außer er hat sich für kurdische Rechte oder Organisationen aktiv eingesetzt oder z.B. an pro-kurdischen Demonstrationen teilgenommen (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3 f., 28 f.; auch SFH ebenda S. 2, 3, 10 f.).
b) Ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 ff. AufenthG wegen einer zielstaatsbezogenen erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen, die eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung voraussetzt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, liegt im Fall des Klägers nicht vor. Weder befindet er sich akut in Behandlung, noch ist eine Krankheit von hinreichender Schwere attestiert (§ 60a Abs. 2c AufenthG i.V.m. § 60 Abs. 7 AufenthG).
4. Nachdem sich auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG als rechtmäßig erweist, war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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