Verwaltungsrecht

Erfolglose Klage gegen Ausweisung nach Sexualdelikt

Aktenzeichen  M 24 K 19.2646

Datum:
15.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 44690
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 11 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 8, § 53, § 54 Abs. 1 Nr. 1, § 55 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 4, § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1, § 72 Abs. 2
GG Art. 2, Art. 6
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

1. Die Anwendung der auf eine rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung abstellenden Ausweisungstatbestände erfordert grundsätzlich keine Prüfung, ob der Betroffene tatsächlich eine Straftat begangen hat (Anschluss an BVerwG BeckRS 1998, 30430905). (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Aufenthaltsbeendigung ist auch für einen Elternteil aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung – jedenfalls bei besonders schweren Straftaten und langfristig ungünstiger Prognose – nicht generell und unter allen Umständen ausgeschlossen (Anschluss an BVerwG BeckRS 2015, 49497). (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die unterbliebene Beteiligung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge nach § 72 Abs. 2 AufenthG führt nicht zu einer Verletzung des Betroffenen in eigenen Rechten, da das Beteiligungserfordernis als behördeninterne Verfahrensregelung keinen Drittschutz vermittelt. (Rn. 55) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg.
Der Bescheid der Beklagten vom 3. Mai 2019 in der Fassung vom 15. Oktober 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger daher nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf eine kürzere Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots oder auf die Verpflichtung der Beklagten, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut hierüber zu entscheiden (§ 113 Abs. 5, Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der angefochtenen Ausweisung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (stRspr., vgl. z.B. BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 -juris Rn. 11; BayVGH, U.v. 27.10.2017 – 10 B 16.1252-juris Rn. 25). Nach der gegenwärtigen Sach- und Rechtslage erweist sich die Ausweisung gemessen an ihren rechtlichen Grundlagen (§ 53 Abs. 1 und 2 AufenthG) als rechtmäßig. Das persönliche Verhalten des Klägers stellt auch im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar (1.1.). Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (1.2.).
1.1. Mit der rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilung vom 29. August 2017 zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und vier Monaten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in 47 tatmehrheitlichen Fällen sowie vier tatmehrheitlichen Fällen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen hat der Kläger ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse geschaffen. Nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG wiegt das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG u. a. dann besonders schwer, wenn der Ausländer wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist. Dies ist beim Kläger der Fall.
Mit seinem Vorbringen, er habe die Taten nicht begangen, die Verurteilung beruhe auf einem Komplott und im Strafverfahren seien zwei Zeugen, die sowohl seine Tochter als auch ihn selbst befragt hätten, nicht gehört worden, vermag der Kläger das besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse nicht in Frage zu stellen.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, B.v. 24.2.1998 – 1 B 21.98 – juris zu § 47 Abs. 1 AuslG 1990; B. v. 8.5.1989 – 1 B 77.89 – InfAuslR 1989, 269 zu § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG 1965, jeweils m.w.N., vgl. auch BayVGH, B.v. 5.9.2018 – 10 ZB 18.1121 – juris Rn. 6 sowie OVG NRW, B.v. 8.12.2015 – 18 A 2462/13 – juris Rn. 11) erfordert die Anwendung der auf eine rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung abstellenden Ausweisungstatbestände grundsätzlich keine Prüfung, ob der Betroffene tatsächlich eine Straftat begangen hat. Soweit es bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung etwa auf die Umstände der Tatbegehung ankommt (z.B. im Rahmen der Feststellung einer Wiederholungsgefahr oder bei der Abwägung) besteht zwar keine strikte Bindung an eine rechtskräftige Verurteilung. Es ist aber geklärt, dass die Ausländerbehörden – und demzufolge auch die zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung berufenen Gerichte – in dieser Beziehung ohne weiteres in aller Regel von der Richtigkeit der Verurteilung ausgehen können und die darin getroffenen Feststellungen ihrer Entscheidung zugrunde legen dürfen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn strafgerichtliche Feststellungen offensichtlich unrichtig sind oder die Ausländerbehörden oder Verwaltungsgerichte über bessere Erkenntnismöglichkeiten als die Strafgerichte verfügen.
Solches ergibt sich vorliegend weder aus dem Vorbringen im Verwaltungsverfahren noch im gerichtlichen Verfahren. Vor dem Hintergrund, dass der Kläger die Begehung der Taten auch bereits im Strafverfahren stets bestritten und ausweislich des Strafurteils auch dort von einem gegen ihn gerichteten Komplott gesprochen hat, hat das Strafgericht ausgehend von der sog. Nullhypothese, i.e. der Unschuldsvermutung, die Aussage der Tochter des Klägers ausweislich der sehr ausführlichen Urteilsgründe einer besonders kritischen Überprüfung unterzogen und ist – für das erkennende Gericht sehr überzeugend – zu der Erkenntnis gelangt, dass sich in der Aussage der Geschädigten Realitätskennzeichen in ausreichender Quantität und teilweise sehr hoher Qualität fanden und die Angaben erlebnisbasiert sind. Die Angaben des Klägers, insbesondere zu einem gegen ihn gerichteten Komplott, sind unter Berücksichtigung der Aussagen der Tochter des Klägers sowie der übrigen Zeugen auch vor dem Hintergrund deren Motivation sowie der Aussagegenese in keiner Weise schlüssig. Mögliche Wiederaufnahmegründe gehen aus den Einlassungen des Klägers im Verwaltungsverfahren und im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ebenfalls nicht hervor.
Das Gericht ist aufgrund des Verhaltens des Klägers in der Vergangenheit und Gegenwart, wie es sich aus den Akten und seinem Vortrag im gegenständlichen Verfahren ergibt, davon überzeugt (§ 108 Abs. 1 VwGO), dass von ihm weiterhin die Gefahr der Begehung von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ausgeht.
Nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei einer spezialpräventiven Ausweisungsentscheidung und ihrer gerichtlichen Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18; BayVGH, B.v. 14.2.2017 – 19 ZB 16.2570). Dabei sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BayVGH, B.v. 22.11.2016 – 10 CS 16.2215 – juris Rn. 6; B.v. 16.11.2016 – 10 ZB 16.81 – juris Rn. 11; B.v. 16.3.2016 – 10 ZB 15.2109 – juris). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr; vgl. z.B. BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – Rn. 18).
Hierbei ist zugunsten des Klägers zu berücksichtigen, dass er sich ausweislich der Führungsberichte der JVA in der Haft beanstandungsfrei führt, dort arbeitet und weiterhin Kontakt zu Familienangehörigen hält. Darüber hinaus ist zu sehen, dass es sich bei der Anlassverurteilung um die einzige verwertbare strafrechtliche Verurteilung des Klägers handelt, sowie dass die abgeurteilten Straftaten bereits im Zeitraum 2008 bis 2010 stattgefunden haben und mithin lange Zeit zurückliegen. Danach, respektive als die Tochter des Klägers älter wurde, waren keine weiteren, auf das Konto des Klägers gehenden Straftaten mehr zu verzeichnen.
Zu Lasten des Klägers und für eine konkrete, erhebliche Wiederholungsgefahr sprechend ist aber zu sehen, dass es sich bei Sexualdelikten gegenüber Kindern um schwerwiegende Straftaten handelt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren und die zugleich häufig lange Zeit oder auch gänzlich unentdeckt bleiben. Die betroffenen Schutzgüter der sexuellen Selbstbestimmung, der Würde des Opfers und seiner körperlichen sowie seelischen Integrität weisen in der Werteordnung des Grundgesetzes einen hohen Stellenwert auf (vgl. BT-Drs. 18/8210 S. 7 ff. zur Änderung des Strafgesetzbuchs zur Verbesserung der sexuellen Selbstbestimmung vom 4.11.2016, BGBl I 2016, S. 2460). Der Kläger hat bei der Begehung der konkreten Taten eine erhebliche kriminelle Energie an den Tag gelegt, indem er über einen Zeitraum von zwei Jahren eine große Zahl von Übergriffen begangen und erheblichen psychischen Schaden bei der Geschädigten verursacht hat. Nach den Feststellungen des Strafgerichts leidet die Geschädigte erheblich psychisch unter den Vorfällen, was sich auch in Albträumen äußert, und dem Auseinanderbrechen der Familie, wofür sie sich die Schuld gibt. Sie beabsichtigt eigenen Angaben zufolge, sich einer Therapie zu unterziehen. Die Zügel- und Rücksichtslosigkeit des Klägers zeigte sich in teilweise schweren Tatbegehungen (vaginaler Geschlechtsverkehr ohne Kondom sowie Oralverkehr) sowie in dem Umstand, dass die Übergriffe teilweise auch während der Anwesenheit von Familienmitgliedern in der Wohnung und zum Teil im Kinderzimmer und damit in einem aus Sicht des Opfers besonders geschützten Bereich stattfanden.
Eine erfolgreiche Bewährung wird durch erhebliche Persönlichkeitsdefizite des Klägers erschwert. Er zeigt keinerlei Einsicht und Reue oder Mitgefühl für seine Tochter. Daher ist ausweislich des Führungsberichts der JVA eine Behandlung erheblich erschwert. So habe der Kläger in den Motivationsgesprächen vom 21. März 2019, 30. September 2019 und 15. April 2020 erklärt, dass er an keiner stationären Sozialtherapie für Sexualstraftäter teilnehmen möchte, da er unschuldig sei und nicht wisse, woran er in der Therapie arbeiten solle. Der Kläger ist daher derzeit untherapiert und eine hinreichende, ernsthafte Therapiemotivation nicht erkennbar.
Vor diesem Hintergrund kann trotz des erheblichen Zeitablaufs seit der letzten Tatbegehung angesichts der Tatleugnung sowie des fehlenden Unrechtsbewusstseins und fehlender Therapie nicht sicher davon ausgegangen werden, dass keine gleichartigen Straftaten mehr begangen werden, wenn sich die Gelegenheit hierzu ergibt, beispielsweise wenn der Kläger eine engere Beziehung zu Töchtern von Freunden der Familie oder zu künftigen Enkelinnen aufnimmt oder auch das Vertrauen fremder Mädchen gewinnt. Auch ein nachhaltiger und tiefer Strafeindruck ist derzeit nicht erkennbar. Die persönliche Entwicklung des Klägers ist auch aktuell nicht von einer tiefen Einsichtsfähigkeit, einem deutlichen Bewusstseinswandel und dem Bemühen um Aufarbeitung im Interesse eines künftig straffreien Lebens geprägt. Nach alledem bestehen gewichtige, eine erfolgreiche weitere Bewährung infrage stellende Indizien bzw. Risikofaktoren, die angesichts der schwerwiegenden Sexualstraftaten zulasten eines Kindes in der Gesamtschau die Annahme einer konkreten Wiederholungsgefahr rechtfertigen.
Angesichts der spezialpräventiv begründeten Wiederholungsgefahr kann offen bleiben, ob – wie im Bescheid angenommen – auch ein generalpräventives Interesse an der Ausweisung besteht (generell bejahend auch für den Deliktstyp der Sexualstraftaten BayVGH, B.v. 2.5.2017 – 19 ZB 16.186 – juris Rn. 16).
1.2. Auch unter Berücksichtigung des besonders schwerwiegenden Bleibeinteresses sowie der grundrechtlich geschützten Interessen des Klägers und seiner Familienangehörigen überwiegt bei der unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls nach § 53 Abs. 1 (i.V.m. Abs. 2) AufenthG durchzuführenden Abwägung das öffentliche Interesse an der Ausreise des Klägers. Die Ausweisung steht auch mit Art. 8 EMRK im Einklang, da sie gesetzlich vorgesehen ist (§ 53 Abs. 1 AufenthG) und einen in dieser Bestimmung aufgeführten legitimen Zweck, nämlich die Verteidigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und die Verhinderung von Straftaten, verfolgt. Die Ausweisung ist die geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahme, um den beabsichtigten Zweck durchzusetzen. Durch ein anderes, milderes Mittel kann der mit ihr verfolgte Zweck vorliegend nicht erreicht werden.
In die erforderliche Abwägung nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG sind sämtliche Umstände des Einzelfalls einzustellen, insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Klägers, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat. Auch die Gefahrenprognose kann im Rahmen der Gesamtabwägung unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit von Bedeutung sein. Ferner sind stets die grund- und konventionsrechtliche Stellung des Ausländers und seiner Familie sowie die sich daraus ergebenden Gewichtungen in den Blick zu nehmen (BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 -, juris Rn. 18 f).
In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Gerichtshof) ist anerkannt, dass selbst schwerwiegende Beeinträchtigungen familiärer Beziehungen nicht stets das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung verdrängen. Vielmehr ist anhand der sog. „Boultif-Kriterien“ ein gerechter Ausgleich der gegenläufigen Interessen zu finden (vgl. z.B. U.v. 18.10.2006 – Nr. 46410/99 juris Rn. 57 ff.). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist zu berücksichtigen, dass Art. 6 GG keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt gewährt und allein aufgrund formal-rechtlicher Bindungen ausländerrechtliche Schutzwirkungen nicht entfaltet (vgl. BVerfG, B.v. 1.12.2008 – 2 BvR 1830/08 – juris). Wie der Gerichtshof betont auch das Bundesverfassungsgericht, dass selbst gewichtige familiäre Belange sich nicht stets gegenüber gegenläufigen öffentlichen Interessen durchsetzen (z.B. BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris Rn. 23). Deshalb ist auch eine Aufenthaltsbeendigung für einen Elternteil aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung – jedenfalls bei besonders schweren Straftaten und langfristig ungünstiger Prognose – nicht generell und unter allen Umständen ausgeschlossen (BVerwG, B.v. 10.2.2011 – 1 B 22.10 – juris Rn. 4; B.v. 21.7.2015 – 1 B 26.15-juris Rn. 5). Es ist zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für eine gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte (vgl. BVerfG, B.v. 1.12.2008 a.a.O., B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – NVwZ 2013, 1207). Über die familiären Belange hinaus ist das Interesse des Klägers an einem Verbleib im Bundesgebiet unter Berücksichtigung der Dauer seines Aufenthalts und des Maßes seiner Integration angemessen zu würdigen.
Dem Kläger steht gemäß § 55 Abs. 1 Nrn. 1 und 4 AufenthG ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse zur Seite, da er eine Niederlassungserlaubnis besitzt, eine Ehe mit einer deutschen Staatsangehörigen besteht und er gemeinsam mit der Ehefrau das Sorgerecht für ein deutsches Kind ausübt. Darüber hinaus ist das grundrechtlich geschützte Interesse des Klägers, hier sein Berufs-, Privat- und Familienleben (Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 6 GG, Art. 8 EMRK) fortsetzen zu können, zu berücksichtigen. Der Kläger hat mehr als 20 Jahre und damit einen großen Teil seines Lebens in Deutschland verbracht, ist während dieser Zeit im Bundesgebiet regelmäßig einer Erwerbstätigkeit nachgegangen und hat auch in der Haft gearbeitet. Sein letzter Aufenthalt in Nigeria liegt 20 Jahre zurück. Er hatte bis zu seiner Inhaftierung und teilweise auch noch danach eine enge, überwiegend positive Beziehung zu den älteren beiden Söhnen, an deren Erziehung er sich intensiv beteiligt hat. So haben die pädagogischen Fachkräfte einer „… …“, welche im Auftrag des Jugendamts die klägerische Familie im Rahmen der Hilfe zur Erziehung betreute, in einem Schreiben vom 13. März 2017 bezüglich der beiden älteren Söhne festgestellt, dass der Kläger durch motivierende Gespräche bzgl. Schule und Sozialverhalten einen förderlichen Einfluss auf sie ausübt, und daher die Erteilung von Besuchserlaubnissen in der U-Haft empfohlen (Bl. 271 der Behördenakte). Der jüngste Sohn ist erst vier Jahre alt, und wenngleich der Kläger mit seinem Sohn nicht zusammengelebt hat, da er im Zeitpunkt der Geburt bereits nicht mehr in der Familienwohnung wohnte, darf angesichts der Tatsache, dass er einen erheblichen Beitrag zur Erziehung der älteren Kinder geleistet hat, zwanglos angenommen werden, dass ihm dies auch beim jüngsten Sohn ein großes Anliegen sein wird. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts haben die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (BVerfG (K), B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 14). Die Ausweisung des Klägers aus der Bundesrepublik erschwert den Aufbau einer echten Eltern-Kind-Beziehung zu seinem jüngsten Sohn aufgrund dessen noch sehr jungen Alters ganz erheblich. Denn dem Sohn ist trotz der nigerianischen Staatsangehörigkeit aufgrund der Beziehung zu seiner deutschen Mutter ein Umzug nicht zumutbar, und bei solch kleinen Kindern sind Aufbau und Pflege einer echten Eltern-Kind-Beziehung allein über Fernkommunikationsmittel kaum möglich, weil der für den Aufbau einer stabilen emotionalen Bindung erforderliche persönliche Kontakt nicht ersetzt werden kann. Hat die Ausweisung Bestand, ist eine weitere nachhaltige Beeinträchtigung der Beziehung des Klägers zu seinem jüngsten Sohn unausweichlich.
Dennoch ist von einem Überwiegen des öffentlichen Ausweisungsinteresses auszugehen. Zunächst ist zu sehen, dass eine echte, nachhaltige Integration des Klägers in die hiesige Gesellschaft und Lebensverhältnisse nicht stattgefunden hat. Der Kläger hat Schulden erheblichen Ausmaßes und verfügt trotz seines langjährigen Aufenthalts in Deutschland laut dem Vollzugsplan der JVA über keine guten Deutschkenntnisse, was sich für das erkennende Gericht auch in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat. Selbst die eheliche Lebensgemeinschaft mit seiner Frau und die familiäre Verantwortung des Klägers gegenüber seinen Kindern konnten ihn nicht davon abhalten, über einen langen Zeitraum teils schwere Taten des sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen zu begehen. Die sexuelle Selbstbestimmung, die körperliche und seelische Integrität sowie das allgemeine Persönlichkeitsrecht und die Menschenwürde von Kindern (Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG) sind überragend wichtige Güter, die der Staat absolut zu schützen verpflichtet ist. Nicht nur durch die Übergriffe gegenüber seiner Tochter selbst, sondern auch durch sein Nachtatverhalten, welches durch Leugnen sowie Vorwürfe gegenüber der Tochter bis hin zu der Bezichtigung geprägt war, sie sei krank und habe sich ihrerseits sexuell an ihm vergehen wollen, hat der Kläger bei seiner Tochter eine schwere psychische Belastung verursacht. Auch die übrige Familie des Klägers war durch die Taten und das geschilderte Nachtatverhalten äußerst belastet.
Dem Kläger ist sowohl in wirtschaftlicher als auch sozialer Hinsicht eine Integration im Land seiner Staatsangehörigkeit zumutbar. Er ist in Nigeria aufgewachsen und hat dort seine gesamte kulturelle und soziale Prägung erfahren. Durch den Betrieb eines Elektrogeschäfts hatte er vor seiner Ausreise nach Deutschland beruflich bereits Fuß gefasst. Selbst wenn er entsprechend seinen Angaben mit seiner Muttersprache nicht mehr gut vertraut sein sollte, spricht er mit Englisch, welches nach Aktenlage auch die in der klägerischen Familie überwiegend gesprochene Sprache darstellte, die Amts- und Wirtschaftssprache des Landes. Abgesehen von der im Jahr 2000 erlittenen Wirbelsäulenverletzung, aufgrund derer er nicht mehr schwer heben darf, hat der Kläger keine gesundheitlichen Einschränkungen und ist mithin arbeitsfähig. Wenngleich den Angaben des Klägers gegenüber der Beklagten zufolge kein Kontakt besteht, hat der Kläger mit seiner Mutter und zwei älteren Schwestern noch Verwandte in Nigeria. Da er sein Heimatland erst im Alter von 28 Jahren endgültig verlassen hat und zu diesem Zeitpunkt in Nigeria beruflich bereits Fuß gefasst hatte, kann jedenfalls erwartet werden, dass es dem Kläger teilweise gelingen wird, frühere soziale Netzwerke zu reaktivieren.
Die fortbestehende Ehe zwischen dem Kläger und seiner Ehefrau steht unter dem besonderen Schutz des Art. 6 GG sowie des Art. 8 EMRK. Allerdings ist zu sehen, dass die Ehefrau des Klägers, wenngleich sie an der Ehe selbst festhielt und dem Kläger Besuche in der Familienwohnung insbesondere wegen des eben erst geborenen jüngsten Sohnes gestattete, die eheliche Lebensgemeinschaft bereits vor der Inhaftierung des Klägers beendet hat. In der Haft hat sie den Kläger zuletzt im Februar 2019 besucht und hält seither lediglich regelmäßigen brieflichen und telefonischen Kontakt zu ihm. Auch bei einer Aufenthaltsbeendigung kann der Kläger die nunmehr auf dieser Ebene geführte Beziehung zu seiner Ehefrau von Nigeria aus aufrechterhalten, auch wenn dies mit erhöhten Schwierigkeiten verbunden ist. Aus besonderen Gründen oder in Härtefällen kann auch eine Betretenserlaubnis nach § 11 Abs. 8 AufenthG beantragt werden.
Die beiden älteren Söhne des Klägers haben bereits die Volljährigkeit erreicht. Die Beziehung des Klägers zu ihnen genießt zwar weiterhin sowohl den Schutz des Art. 8 EMRK als auch des Art. 6 GG; ihr kann aber angesichts des Erreichens der Volljährigkeit sowie des Umstands, dass auch die Söhne jedenfalls seit Juli 2019 keinen unmittelbaren persönlichen Besuchskontakt mehr zum Kläger pflegen und sie die Verbindung mittels Telefon, moderner Kommunikationsmittel sowie Besuchen in Nigeria aufrechterhalten können, im konkreten Fall kein besonderes Gewicht beigemessen werden.
Ein besonderes Gewicht hat nach dem oben Ausgeführten die Beziehung des Klägers zu seinem vierjährigen Sohn, weil durch die Aufenthaltsbeendigung der Aufbau einer emotionalen und stabilen Eltern-Kind-Beziehung ganz erheblich beeinträchtigt wird. Zu sehen ist im konkreten Fall aber, dass der Kläger mit dem Kind nie zusammengelebt hat und aufgrund der Haft bislang auch keine erheblichen Betreuungs- und Erziehungsleistungen erbringen konnte – die Inhaftierung erfolgte, als der Sohn sechs Monate alt war. Da der letzte Besuch des Kindes mit der Mutter im Februar 2019 stattfand, kennt das Kind den Kläger an sich nur durch den Kontakt mittels Fernkommunikationsmitteln sowie von Fotos. Die Aufenthaltsbeendigung würde für den Sohn daher zumindest keine unmittelbare Verlusterfahrung bedeuten, da der Kläger im Alltag des Sohnes keine Rolle spielt. Aufgrund des bislang fehlenden direkten persönlichen Kontakts dürfte eine enge emotionale Bindung des Sohnes zum Kläger noch nicht bestehen. Zwar ist – wie ausgeführt – auch die Möglichkeit des Aufbaus einer Eltern-Kind-Beziehung nach Haftentlassung durch Art. 6 GG geschützt. Zum einen ist im vorliegenden Fall insoweit allerdings auch zu sehen, dass der Kläger, wenngleich er eine überwiegend positive Beziehung zu seinen älteren Söhnen hatte und sich sehr um sie gekümmert hat, ausweislich mehrerer im Strafurteil wiedergegebener Zeugenaussagen deren Recht auf gewaltfreie Erziehung (vgl. § 1631 Abs. 2 BGB) nicht stets respektiert hat. So gab es den Zeugenaussagen zufolge durchaus schmerzhafte Schläge mit der Hand oder einem Kochlöffel auf die Hände oder das Gesäß, wobei die Kochlöffel zweimal durchgebrochen seien; körperliche Verletzungsfolgen hätten diese Schläge aber nie gehabt. Angesichts der aus derzeitiger Sicht nicht sehr reflektierten Persönlichkeitsstruktur des Klägers bestehen durchaus Anhaltspunkte dafür, dass sich dies auch bei dem jüngsten Sohn wiederholen könnte, wenn der Kläger Erziehungsverantwortung wahrnimmt. Zum anderen wurde dem Belang des Aufbaus einer durch persönlichen Kontakt geprägten Beziehung des Klägers zu seinem Kind unter gleichzeitiger Berücksichtigung des öffentlichen Ausweisungsinteresses im Rahmen der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf fünf Jahre unter der Bedingung von Straffreiheit noch angemessen Rechnung getragen. Denn der Sohn ist dann noch in einem Alter, in welchem der Vater auf seine Entwicklung Einfluss nehmen und er selbst von der Beziehung zum Vater profitieren kann. Bis dahin können wie bisher Kontakte über Telefon, Brief sowie das Internet weitergeführt werden, dem Kläger zur Vermeidung von Härten aus besonderen Anlässen Betretenserlaubnisse erteilt werden und kann die Ehefrau des Klägers zusammen mit dem Sohn (und weiteren Familienangehörigen) den Kläger in Nigeria besuchen, um so die Beziehung – wenn auch unter schwierigeren Umständen – aufrechtzuerhalten.
Nach alldem überwiegt wegen der Schwere der Straftaten, der Bedeutung des verletzten Rechtsguts und der aus derzeitiger Sicht langfristig schlechten Prognose das Ausweisungsinteresse. Die Ausweisung ist auch unter Berücksichtigung des Art. 6 GG, Art. 2 GG und Art. 8 EMRK rechtmäßig und verhältnismäßig.
Das Vorbringen des Klägerbevollmächtigten, die notwendige Therapie für den Kläger sei in Nigeria nicht verfügbar, der Kläger wäre in Nigeria eine Gefahr und würde nach Ablauf der Sperrfrist als weiterhin nicht therapierter Pädophiler in die Bundesrepublik Deutschland zurückkehren, führt zu keiner anderen Beurteilung. Es kann zunächst nicht Aufgabe der Bundesrepublik Deutschland sein, andere Staaten bzw. deren Bevölkerung vor den eigenen Staatsbürgern zu schützen und dafür zugleich Gefahren für die hiesige Bevölkerung in Kauf zu nehmen. Zum anderen ist der Kläger – wie bereits ausgeführt – insbesondere wegen seiner Tatleugnung derzeit nicht ernsthaft therapiebereit und therapierbar.
2. Auch die hilfsweise erhobene Verpflichtungsklage bleibt in der Sache ohne Erfolg.
Die in Nr. 2 des streitgegenständlichen Bescheids enthaltene, in der mündlichen Verhandlung am 15. Oktober 2020 modifizierte und im Ermessen der Behörde stehende Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots erweist sich als rechtmäßig; der Kläger hat keinen Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut über die Befristung zu entscheiden. Die Befristung der Wirkungen der Ausweisung auf fünf Jahre bei nachgewiesener Straffreiheit und bei Nichterfüllung dieser Bedingung auf acht Jahre weist keine Ermessensfehler auf.
Das im Falle einer Ausweisung gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 AufenthG zwingend zu erlassende Einreise- und Aufenthaltsverbot ist von Amts wegen zu befristen, § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG. Diese unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzende Befristung kann gemäß § 11 Abs. 2 Satz 5 AufenthG zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit einer Bedingung versehen werden, insbesondere einer nachweislichen Straffreiheit. Tritt die Bedingung bis zum Ablauf der Frist nicht ein, gilt die längere Befristung, § 11 Abs. 2 Satz 6 AufenthG. Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist über die Länge der Frist nach Ermessen zu entscheiden. Sie darf gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 5 AufenthG fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht.
Da es sich um eine behördliche Ermessensentscheidung handelt, kann gerichtlich nach § 114 Satz 1 VwGO nur überprüft werden, ob überhaupt Ermessen ausgeübt wurde, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Gemessen an diesem Maßstab hat die Beklagte bei der Festsetzung der modifizierten Frist ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt und insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet.
Die Beklagte hat bei der Bestimmung der Länge der Frist das Gewicht des Ausweisungsgrundes und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck berücksichtigt. Im Rahmen einer prognostischen Einschätzung des Einzelfalls und unter Berücksichtigung höherrangigen Rechts, also verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK kam sie in nicht zu beanstandender Weise zu der in dem angegriffenen Bescheid in Gestalt des Änderungsbescheids verfügten Fristsetzung. Dabei durfte sie nach § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eine Frist von über fünf Jahren festsetzen, da der Kläger auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist und von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Die Beklagte berücksichtigte im Einzelnen, dass der Kläger schwere Straftaten begangen hat und von ihm eine massive Gefahr ausgeht. Unter Berücksichtigung dessen ist es auch in Abwägung mit dem besonders schwerwiegenden Bleibeinteresse des Klägers, insbesondere dessen verfestigtem Aufenthalt sowie seiner Beziehung zu Ehefrau und Söhnen, nicht zu beanstanden, dass die Beklagte im Rahmen ihres Ermessens bei nachgewiesener Straffreiheit einen Zeitraum von fünf Jahren für erforderlich hielt, um dem hohen Gefahrenpotential des Klägers hinreichend Rechnung tragen zu können (vgl. auch oben 1.2.). Ebenso wenig ist es zu beanstanden, dass die Beklagte im Rahmen ihres Ermessens bei Nichterfüllung der Bedingung i.S.d. § 11 Abs. 2 Satz 5 AufenthG eine Sperrfrist von acht Jahren ab Ausreise festsetzte. Diese Fristen sind auch gemessen an den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben des Art. 8 EMRK angesichts der Bedeutung der bedrohten Rechtsgüter und der erheblichen Wiederholungsgefahr nicht zu beanstanden. Gegebenenfalls bestehende besondere Härten können durch die Ausnahmegenehmigung nach § 11 Abs. 8 AufenthG gemildert werden.
3. Auch die Anordnung der Abschiebung des Klägers aus der Haft heraus gemäß § 59 Abs. 5 Satz 1 AufenthG i.V.m. § 58 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG ist rechtlich nicht zu beanstanden. Die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung für den Fall, dass die Abschiebung während der Haft nicht durchgeführt werden kann, sind ebenfalls rechtmäßig im Sinne des § 59 AufenthG. Der Kläger ist gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig; durch die Ausweisung ist sein Aufenthaltstitel erloschen (§ 51 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG).
Die Abschiebungsanordnung bzw. -androhung ist auch nicht wegen des Bestehens zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG oder wegen der unterbliebenen Beteiligung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) zu dieser Frage rechtswidrig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
3.1. Der Vortrag des Klägers im gerichtlichen Verfahren, in Nigeria gebe es zahlreiche lokale bewaffnete Konflikte, es herrsche Terror durch Boko Haram und es drohten Folter in der Haft sowie die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe, betrifft potentielle zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote. Eine Bindung der Ausländerbehörde und des Gerichts an eine Entscheidung des Bundesamts gemäß § 42 AsylG besteht mangels Durchführung eines Asylverfahrens vorliegend nicht, so dass die Ausländerbehörde weiterhin für die Beurteilung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote zuständig ist (§ 79 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Gemäß § 72 Abs. 2 AufenthG ist insoweit allerdings zwingend das Bundesamt zu beteiligen, was im vorliegenden Fall unterblieben ist.
Die unterbliebene Beteiligung führt jedoch nicht zu einer Verletzung des Klägers in eigenen Rechten, da das Beteiligungserfordernis als behördeninterne Verfahrensregelung keinen Drittschutz vermittelt. Der Zweck der Beteiligungsregelung in § 72 Abs. 2 AufenthG liegt nach den Gesetzesmaterialien (vgl. BT-Drs 15/420 S. 94; BT-Drs 16/5065 S. 190) darin, dass die Ausländerbehörde vor einer (positiven oder negativen) Entscheidung über ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG die Sachkunde des Bundesamts hinsichtlich der Verhältnisse in dem betreffenden Zielstaat einfließen lässt; eine Bindung der Ausländerbehörde an die Stellungnahme des Bundesamts besteht indes nicht. Das Beteiligungserfordernis stellt keine verfahrensrechtliche Schutznorm dar, die das Ziel verfolgt, Rechte des Ausländers zu wahren; vielmehr soll mit ihr nur verwaltungsintern das Einfließen der zielstaatsbezogenen Sachkunde des Bundesamts abgesichert werden (OVG NRW, B. v. 30.8.2012 – 17 B 751/12 – juris Rn. 6; VGH BW, U. v. 22.7.2009 – 11 S 1622/07 – juris Rn. 65; VG Regensburg, B. v. 18.7.2012 – RN 9 S 12.824 – juris Rn. 28). Dem Betreffenden bleibt es im Falle des Verstoßes gegen das Beteiligungserfordernis mangels Rechtskrafterstreckung des ein Abschiebungsverbot verneinenden Urteils auf die Bundesrepublik Deutschland und mangels gesetzlicher Bindung des Bundesamts an die diesbezügliche Entscheidung der Ausländerbehörde und des Gerichts unbenommen, beim Bundesamt einen Asylantrag zu stellen oder die Feststellung von Abschiebungsverboten zu beantragen.
3.2. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt nicht vor.
Dem Kläger droht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Verhängung der Todesstrafe oder eine unmenschliche Bestrafung. Nach den vorliegenden Erkenntnissen gibt es in Nigeria weder ein landesweites Meldewesen noch ein zentrales Fahndungssystem, so dass Fahndungsausschreibungen oder kriminalpolizeiliche Erkenntnisse – selbst für den Fall, dass konkret der Kläger von den Sicherheitskräften gesucht werden sollte – nicht zentral überprüft werden könnten. Relevante Informationen über die Begehung von Straftaten stehen der nigerianischen Seite bei der Abschiebung eines abgelehnten Asylbewerbers höchstwahrscheinlich nicht zur Verfügung, so dass betreffenden Personen keine weitere Strafverfolgung in Nigeria drohen dürfte bzw. eine weitere Strafverfolgung der Personen wenig wahrscheinlich erscheint (Auswärtiges Amt, Auskunft an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 20.2.2020; Auswärtiges Amt, Auskunft an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 28.1.2019 – 508-516.80/51965; v. 17.4.2018 – 508-516.80/49738). Dafür, dass dies bei Personen, die aus anderen Gründen abgeschoben werden, anders sein könnte, ist nichts dargelegt oder ersichtlich. Bei Rückführungsflügen sind in der Regel nur nigerianische Strafverfolgungsbehörden zugegen, die sich mit Menschenhandel und Drogendelikten beschäftigen. Andere Delikte genießen hingegen bei einer Wiedereinreise nicht das Augenmerk der Behörden (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Düsseldorf vom 19.2.2019 und an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 20.2.2020).
Des Weiteren bestehen auch angesichts der Sicherheitslage in Nigeria keine grundsätzlichen Einwände gegen eine Rückkehr des Klägers. Nach Überzeugung des Gerichts ist den vorliegenden Erkenntnismitteln nicht zu entnehmen, dass die angesprochene Bedrohungslage durch Terrorismus und Gewalt in Nigeria landesweit gleichermaßen herrscht. Vielmehr gibt es regionale und örtliche Unterschiede und infolgedessen zahlreiche Landesteile und Städte in Nigeria, in denen sich der Kläger gefahrlos niederlassen kann. Dem Kläger droht auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gefahr für Leib und Leben bzw. eine unmenschliche Behandlung wegen seines Glaubens. Die immer wieder aufkommenden, gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen christlichen und muslimischen Gruppen, bzw. die Angriffe und Auseinandersetzung mit der Gruppierung „Boko Haram“ sind überwiegend regional begrenzt und weisen nicht die Merkmale eines innerstaatlichen Konflikts auf (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 2013 -, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13/10 -, U.v. 27. 4.2010 – 10 C 4/09 -, U.v. 14.7.2009 – 10 C 9/08 und U.v. 24.6.2008 – 10 C 43/07 – sowie B.v. 14.11.2012 – 10 B 22/12 – jeweils juris). Das Ausmaß dieser Konflikte ist in Intensität und Dauerhaftigkeit nicht mit Bürgerkriegsauseinandersetzungen, die in Nigeria (noch) nicht festzustellen sind, vergleichbar. Nach den allgemein zugänglichen Erkenntnismitteln (Tagespresse, Medien) und Erkenntnissen des Gerichts kam es zwar auch im Jahr 2017 und 2018 sehr häufig zu Anschlägen der Gruppe „Boko Haram“ und sind auch die Einsätze der nigerianischen Sicherheitskräfte mit Gewaltexzessen und willkürlichen Verhaftungen verbunden. Allerdings konzentrieren sich die Anschläge von „Boko Haram“ und die daraus folgenden Auseinandersetzungen immer noch hauptsächlich auf den Norden bzw. Nordosten Nigerias, während es im Süden und Südwesten des Landes nur vereinzelt zu Anschlägen bzw. Terrorakten gekommen ist. Eine landesweite Verübung von Terrorakten durch die Organisation „Boko Haram“ findet nicht statt (vgl. dazu: AA, Lageberichte Nigeria vom 16.1.2020, 10.12.2018, 21.1.2018, 26.11.2016, 28.11.2014, jew. Zusammenfassung S.5 sowie II, 1.4., vom 28.8.2013, vom 6.5.2012, 7.3.2011, 11.3.2010 und vom 21.1.2009, jeweils Ziffer II.1.4).
Der Kläger ist daher in der Lage, diesen Konflikten durch Rückkehr in weniger gefährdete Gebiete aus dem Wege zu gehen. An dieser Stelle ist darauf zu verweisen, dass der Kläger ausweislich der Feststellungen im Strafurteil mit 14 Jahren nach Lagos ging, wo er jedenfalls längere Zeit gelebt hat und welches im Süden Nigerias liegt und daher als Ort der Niederlassung weiterhin geeignet ist. Selbst wenn der Kläger nicht an seine vormaligen Aufenthaltsorte zurückkehren wollte, kommt nach Auffassung des Gerichts beispielsweise auch eine Rückkehr nach Abuja, Port Harcourt bzw. Owerri in Betracht.
Letztlich ist nicht ersichtlich, dass sich der Kläger bei einer Abschiebung in einer extremen Situation befände, dass er im Falle einer Rückkehr nach Nigeria sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert wäre, wenn auch bei der Reintegration möglicherweise gewisse Anfangsschwierigkeiten zu überwinden sein mögen.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff ZPO.


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