Verwaltungsrecht

Erfolgloser Berufungszulassungsantrag – Änderung des Ausweisungsrechts

Aktenzeichen  10 ZB 16.57

Datum:
9.5.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 111540
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 2, § 54 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 1a, § 55 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3, § 81 Abs. 4 S. 1, Abs. 5
EMRK Art. 8
GG Art. 6 Abs. 1

 

Leitsatz

Besondere rechtliche Schwierigkeiten im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO sind nicht mit einem pauschalen Hinweis auf die geänderten Rechtsgrundlagen für eine Ausweisung durch die am 1. Januar 2016 in Kraft getretene Änderungen des AufenthG dargelegt. In der Rechtsprechung des Senats ist die rechtliche Beurteilung von Ausweisungsentscheidungen, die unter der bis zum 31. Dezember 2015 geltenden Rechtslage ergangen sind, anhand der aktuell geltenden Rechtsgrundlagen geklärt. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 1 K 15.1330 2015-12-08 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 6. August 2015 (außer in dessen Ziffer 3) weiter, mit dem er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen, seine Abschiebung in den Kosovo angeordnet bzw. bei nicht fristgerechter Ausreise nach Haftentlassung angedroht und die Wirkungen von Ausweisung und Abschiebung auf sechs Jahre befristet wurden (die Ablehnung der Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheids wurde nicht angegriffen). Das Verwaltungsgericht hat mit dem Urteil vom 8. Dezember 2015 die Klage abgewiesen.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich weder die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (I.) noch besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO (II.).
I.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne dieser Bestimmung bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; BVerfG, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.
1. Das Verwaltungsgericht hat die Ausweisung des Klägers auf der Grundlage der §§ 53 ff. AufenthG in der bis zum 31. Dezember 2015 geltenden Fassung (a.F.) für rechtmäßig erachtet.
Der Kläger habe den zwingenden Ausweisungstatbestand nach § 53 Nr. 1 AufenthG (a.F.) erfüllt; besonderer Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG (a.F.) stehe ihm nicht zu.
Es könne offenbleiben, ob der Kläger als faktischer Inländer gleichwohl nur im Rahmen einer Ermessensentscheidung nach § 55 Abs. 1 AufenthG (a.F.) ausgewiesen werden könne. Die Beklagte habe nämlich zumindest hilfsweise eine solche Ermessensentscheidung getroffen; diese begegne rechtlich keinen Bedenken.
Die Ausweisung sei auch vereinbar mit Art. 8 EMRK; sie sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt verhältnismäßig. Sie werde zwar nicht unerheblich in das Privatleben des Klägers eingreifen, sei allerdings angesichts der von ihm ausgehenden erheblichen Gefahren gerechtfertigt.
2. Die Beurteilung, ob ein Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 VwGO vorliegt, richtet sich grundsätzlich nach dem Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts. Eine nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ist daher zu berücksichtigen. Die Änderung der Sach- und Rechtslage ist allerdings grundsätzlich nur in dem durch die Darlegung des Rechtsmittelführers vorgegebenen Prüfungsrahmen relevant.
Der Senat hat daher das verwaltungsgerichtliche Urteil vom 8. Dezember 2015 unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens – mangels entgegenstehender Übergangsregelung – anhand der §§ 53 ff. AufenthG in der aktuell gültigen Fassung zu überprüfen. Eine – wie hier – nach altem Recht verfügte Ausweisung ist nach Inkrafttreten der §§ 53 bis 55 AufenthG in ihrer Neufassung am 1. Januar 2016 nicht rechtsfehlerhaft, wenn sie den ab diesem Zeitpunkt geltenden gesetzlichen Anforderungen entspricht, also gemäß der zentralen Ausweisungsnorm des § 53 Abs. 1 AufenthG der weitere Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet und die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (stRspr d. Senats, siehe z.B. B.v. 2.11.2016 – 10 ZB 15.2656 – juris Rn. 8).
3. Mit seinem Vorbringen hat der Kläger die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Ausweisung sei rechtmäßig, gemessen an den nunmehr maßgeblichen Regelungen der §§ 53 ff. AufenthG in der ab 1. Januar 2016 gültigen Fassung, im Ergebnis nicht ernsthaft im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in Zweifel gezogen.
a) Der Kläger macht zunächst geltend, die Ausweisung im Bescheid der Beklagten sei bereits nach der bis zum 31. Dezember 2015 geltenden Rechtslage rechtwidrig gewesen, denn sie habe nicht den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Ermessensausübung entsprochen. Die Bezugnahme in den Ermessenserwägungen in Nr. 1.5 des Bescheids auf die Ausführungen in den Nrn. 1.3 und 1.4 sei nicht zulässig gewesen; auch dürften generalpräventive Erwägungen nicht herangezogen werden. Damit habe in dem Bescheid auch eine wegen Art. 8 EMRK notwendige Einzelfallwürdigung nicht stattgefunden.
Wie vorstehend bereits erwähnt und wie auch vom Kläger vorgetragen, hat der Senat bei der vorliegenden Entscheidung die derzeitige Rechtslage, also §§ 53 bis 55 AufenthG in der aktuell geltenden Fassung, zugrunde zu legen. Entscheidend ist somit, ob das Urteil des Verwaltungsgerichts, die von der Beklagten verfügte Ausweisung sei rechtmäßig, auch nach Maßgabe der derzeitigen Rechtslage richtig ist. Es kommt damit nicht mehr darauf an, ob das Verwaltungsgericht die Ermessensausübung der Beklagten gemäß der damaligen Rechtslage zu Recht als fehlerfrei angesehen hat, sondern ob im Sinn des § 53 Abs. 1 AufenthG in der aktuell geltenden Fassung der weitere Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet und die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Klägers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
b) Soweit aus dem Begründungsschriftsatz vom 15. Februar 2016 entnommen werden kann, wendet der Kläger sich zum einen gegen die von der Beklagten sowie vom Verwaltungsgericht vorgenommene Gefahrenprognose. Dies ergibt sich aus dem Vorbringen, hinsichtlich der Verurteilung vom 5. Juni 2014 liege eine atypische Fallgestaltung vor, denn der Kläger habe aus „Angst um das Leben seines kleinen Halbbruders“ seinen Stiefvater geschlagen. Die während der Strafunmündigkeit des Klägers vorgefallenen Straftaten müssten außer Betracht bleiben, und auch die „Zeit der jugendlichen Delinquenz“ liege so lange zurück, dass sie nicht mehr berücksichtigt werden dürfe. Eine Schlussfolgerung von dem langen Katalog von Straftaten aus zurückliegender Zeit auf die aktuelle Frage einer Wiederholungsgefahr verbiete sich. In der Haft führe der Kläger sich gut, es hätten bisher keine Disziplinarmaßnahmen verhängt werden müssen. Dies spreche für eine Verhaltensänderung des Klägers, zumal er in der Justizvollzugsanstalt von einer Vielzahl von auffälligen und gewalttätigen Jugendlichen umgeben sei. Er habe von Februar bis Juni 2015 ein Anti-Gewalt-Training besucht und abgeschlossen. Auch habe er durch seine berufliche Ausbildung die Grundlage für ein bürgerliches Erwerbsleben gelegt, welches er nach der Haftentlassung beginnen werde.
Durch diese Ausführungen hat der Kläger die Annahme einer fortdauernden Gefahr nicht durchgreifend in Frage gestellt.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 33 m.w.N.). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr; vgl. z.B. BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 34; BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18). Auch der Rang des bedrohten Rechtsguts ist dabei zu berücksichtigen; an die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit dürfen andererseits keine zu geringen Anforderungen gestellt werden.
Das Verwaltungsgericht hat seine Prognose der fortdauernden Rückfallgefahr aus den erheblichen strafrechtlichen Verfehlungen des Klägers abgeleitet. Er sei schon in frühester Jugend durch strafbares Verhalten und Verfehlungen auffällig geworden, auch wenn diese wegen Strafunmündigkeit nicht geahndet worden seien. Bereits im Alter von 12 Jahren habe der Kläger erstmals strafrechtlich relevante Tatbestände verwirklicht. Auch in der Folgezeit sei es zu wiederholten Verfehlungen gekommen, der Kläger habe Körperverletzungen, Beleidigungen und Diebstähle sowie Verstöße gegen die sexuelle Selbstbestimmung anderer begangen. Letztlich habe er eine Vielzahl strafrechtlich relevanter Handlungen durchgeführt und dabei deutlich gezeigt, dass er keinerlei Respekt vor den Interessen anderer habe. Er sei jederzeit und rücksichtslos bereit, Rechtsgüter anderer zu beeinträchtigen oder zu verletzen. Die strafrechtliche Karriere des Klägers habe sich nach Eintritt der Strafmündigkeit fortgesetzt. Bis zu seiner Inhaftierung sei eine Vielzahl von Verurteilungen wegen verschiedenster Delikte erfolgt. Zuletzt sei er im April 2014 und im Januar 2015 zu erheblichen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Die zuletzt begangene Straftat habe er unter offener Bewährung begangen und damit zum Ausdruck gebracht, dass er sich auch durch strafrechtliche Ahndungen nicht von der Begehung weiterer Straftaten abhalten lasse. Auch sämtliche bislang eingeleiteten erzieherischen Maßnahmen hätten keinen Erfolg gezeigt. Den Behördenakten sei zu entnehmen, dass sich mehrere Stellen erfolglos darum bemüht hätten, den Kläger in die richtigen Bahnen zu lenken, all diese Versuche hätten letztlich nicht den gewünschten Erfolg gezeigt. Ebenso könne den Führungsberichten der Justizvollzugsanstalt kein positives Bild entnommen werden. In dem Bericht vom 2. April 2015 sei ausgeführt, dass der Kläger diverse Betriebe durchlaufen habe, bei denen es immer wieder zu Problemen mit Bediensteten gekommen sei, da der Kläger die Arbeit verweigert habe. Es sei noch nicht möglich, eine aussagefähige Zukunftsprognose abzugeben. Deutlich negativer falle der Führungsbericht vom 10. November 2015 aus. Dort sei ausgeführt, der Erfolg der bisherigen Maßnahmen (des Anti-Gewalt-Trainings) dürfe angezweifelt werden, da der Kläger wiederholt geäußert habe, in künftigen Konfliktsituationen genauso zu handeln wie früher. Aufgrund der geschilderten massiven Gewaltproblematik habe die Justizvollzugsanstalt die Einholung eines Prognosegutachtens empfohlen. Diese Beurteilung decke sich mit den Einschätzungen in den strafgerichtlichen Entscheidungen vom 20. Juni 2014 und 15. Januar 2015. Zuletzt habe auch der Eindruck, den der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht hinterlassen habe, nicht zu einer Einschätzung durch das Gericht geführt, die diese übereinstimmenden und nachhaltig schlechten Beurteilungen in Frage stellen könnte.
Aus diesen Erwägungen des Verwaltungsgerichts ergibt sich überzeugend, dass vom Kläger die hohe Gefahr weiterer schwerwiegender Straftaten vor allem aus dem Bereich der Gewalt- und Diebstahlskriminalität ausgeht. Mit seinem Vortrag in der Begründung des Zulassungsantrags konnte der Kläger dem nicht durchgreifend entgegentreten.
Der Vortrag zu der Verurteilung vom 5. Juni 2014 (richtig: vom 20. Juni 2014) ist nicht nachvollziehbar. Mit dem Urteil des Amtsgerichts Augsburg von diesem Tag wurden Gewalttaten zum Nachteil seiner damaligen Freundin abgeurteilt. Offenbar meint der Kläger das Urteil vom 27. Juni 2012, mit dem er wegen Beleidigung, Bedrohung, gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr und versuchter gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil seines Stiefvaters verurteilt wurde; irgendwelche Anhaltspunkte einer (auch nur vermeintlichen) „Nothilfe“ für seinen kleinen Stiefbruder finden sich darin jedoch nicht.
Auch hat das Verwaltungsgericht die strafrechtlichen Verfehlungen des Klägers während seiner Strafunmündigkeit und seine jugendrichterlichen Ahndungen nicht zu Unrecht herangezogen. Diese bilden nicht den Ausweisungsanlass; das Verwaltungsgericht hat sie vielmehr im Rahmen seiner Würdigung der Persönlichkeit des Klägers, mit ihren schnell aufeinander folgenden Straftaten schon ab der Strafmündigkeit und der sich steigernden Schwere der Straftaten, in seine Gefahrenprognose einbezogen. Dies ist entgegen der Meinung des Klägers für die Beurteilung einer fortbestehenden Rückfallgefahr durchaus angebracht und rechtlich nicht zu beanstanden.
Allein der Umstand, dass gegen den Kläger in der Justizvollzugsanstalt keine Disziplinarmaßnahmen verhängt werden mussten, obwohl er dort, wie er vorbringt, von einer Vielzahl von auffälligen und gewalttätigen Jugendlichen umgeben sei, und dass er ein Anti-Gewalt-Training absolviert hat, bedeutet nicht, dass er sein Verhalten nunmehr grundlegend geändert hat. Wie das Verwaltungsgericht ausgeführt hat, hat die Justizvollzugsanstalt in ihrem Führungsbericht vom 10. November 2015 sogar erhebliche Zweifel am Erfolg gerade des Anti-Gewalt-Trainings deutlich gemacht; der Kläger habe wiederholt geäußert, in künftigen Konfliktsituationen genauso zu handeln wie früher. Weiter wird dort mitgeteilt, dass der Kläger zur weiteren Auseinandersetzung mit der Aggressions-Dynamik vor dem Hintergrund seiner desolaten Kindheit und der dysfunktionalen Impulskontrolle auf der Warteliste für Einzelgespräche beim Psychologischen Dienst vermerkt sei, und dass aufgrund der geschilderten massiven Gewaltproblematik im Rahmen der Prüfung einer möglichen vorzeitigen Entlassung die Einholung eines Prognosegutachtens empfohlen worden sei.
Allein die Absicht, nach seiner Haftentlassung ein „bürgerliches Erwerbsleben“ zu beginnen, kann die Rückfallprognose des Verwaltungsgerichts ebenfalls nicht in Frage stellen.
c) Die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage nach § 53 Abs. 1 AufenthG unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise seine Interessen an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet überwiegt.
Die streitgegenständliche Ausweisung des Klägers ist weder unter Berücksichtigung der in § 53 Abs. 2 AufenthG – allerdings nicht abschließend – aufgeführten Umstände noch mit Blick auf die Anforderungen der wertentscheidenden Grundsatznormen des Art. 6 Abs. 1 GG und des Art. 8 EMRK unverhältnismäßig. Das Verwaltungsgericht hat bei der vom Kläger angegriffenen Entscheidung sämtliche entscheidungsrelevanten Gesichtspunkte im Rahmen seiner Prüfung der Verhältnismäßigkeit berücksichtigt, die nach neuer Rechtslage auch in diese Interessenabwägung einzustellen sind, und sie im Ergebnis in nicht zu beanstandender Weise gewichtet. Diese Bewertung begegnet damit auch unter dem Blickwinkel der Abwägung im Sinne von § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG keinen ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit.
Ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG ist beim Kläger nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1a AufenthG aufgrund seiner Verurteilungen gegeben.
Sein Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG wiegt dagegen nicht besonders schwer, weil keiner der Tatbestände des § 55 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 AufenthG erfüllt ist; die ihm am 12. Juli 1999 – nicht, wie er meint, am 16. Februar 1998 – erteilte unbefristete Aufenthaltserlaubnis, die ab 1. Januar 2005 als Niederlassungserlaubnis fortgalt (§ 101 Abs. 1 Satz 1 AufenthG), wurde durch bestandskräftigen Bescheid vom 6. September 2005 widerrufen. Die dem Kläger zuletzt erteilte befristete Aufenthaltserlaubnis lief am 16. Oktober 2009 ab. Seither bis zum Erlass des streitgegenständlichen Bescheids vom 6. August 2015 besaß der Kläger nur noch Fiktionsbescheinigungen gemäß § 81 Abs. 5, Abs. 4 Satz 1 AufenthG, was gemäß § 55 Abs. 3 AufenthG nicht als rechtmäßiger Aufenthalt berücksichtigt wird.
Sein Bleibeinteresse wiegt auch nicht im Sinn von § 55 Abs. 2 AufenthG schwer, weil keiner der Tatbestände der nicht abschließenden Aufzählung („insbesondere“) in § 55 Abs. 2 Nr. 1 bis 6 AufenthG erfüllt ist und keine vergleichbare Fallgestaltung, wie etwa eine besondere Betreuungsleistung durch den Kläger für nahe Angehörige, erkennbar ist (vgl. hierzu die Gesetzesbegründung, BT-Drs 18/4097, S. 52 ff.; ferner Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 55 Rn. 15; Cziersky-Reis in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 55 Rn. 27).
Gleichwohl kommt dem Gesichtspunkt, dass der Kläger als Kleinkind nach Deutschland gekommen ist, seither hier gelebt hat (allerdings unterbrochen von einem nach Aktenlage etwa zweieinhalbjährigen Aufenthalt in Kirgisistan) und bis Oktober 2009 eine Aufenthaltserlaubnis besessen hat, erhebliches Gewicht im Rahmen der zu treffenden Abwägung zu. Das Verwaltungsgericht hat den Kläger daher zu Recht als „faktischen Inländer“ angesehen und diesen Umstand gemäß seiner Bedeutung in seine Prüfung der Verhältnismäßigkeit eingestellt (UA S. 6), ist jedoch zu dem Ergebnis gekommen, dass dies angesichts der vom Kläger ausgehenden Gefahr seiner Ausweisung nicht entgegensteht.
Auch die weiteren vom Kläger in der Begründung seines Zulassungsantrags vorgebrachten Argumente, soweit sie sich auf die Richtigkeit der Abwägung beziehen, können deren Richtigkeit nicht durchgreifend in Zweifel ziehen. Das gilt sowohl für die desolate familiäre Situation in seiner Kindheit noch die Tatsache, dass der Kläger längere Zeit in verschiedenen Einrichtungen der Jugendhilfe verbracht hat. Dass für das Fehlschlagen dieser erzieherischen Maßnahmen wesentlich „Pflegepersonen, Lehrer und Jugendämter“ verantwortlich wären, wie der Kläger vorträgt, ist nicht zu erkennen, ebenso wenig ein Bezug der einzelnen Umstände der Jugendhilfemaßnahme in Kirgisistan zu der hier vorzunehmenden Abwägung. Die Schul- und Berufsausbildung hat das Verwaltungsgericht durchaus zugunsten des Klägers berücksichtigt, ihnen allerdings keine entscheidende Bedeutung beigemessen.
Es trifft zwar zu, dass die Beziehung des Klägers zu seiner Verlobten, die in Österreich lebe und arbeite, ihn aber regelmäßig in der Haft besuche, vom Verwaltungsgericht nicht berücksichtigt wurde, doch wurde dies erstmals in der Begründung des Zulassungsantrags vorgebracht. Da die Verlobte nach den Angaben des Klägers in Österreich lebt – weitere Angaben zu ihrer Person wurden nicht vorgetragen – kann auch diese Beziehung seinen Verbleibeinteressen kein entscheidendes Übergewicht verleihen.
Schließlich hat das Verwaltungsgericht – entgegen dem Vorbringen des Klägers – durchaus berücksichtigt, dass er (nur) gebrochen Albanisch spricht, allerdings hieraus den Schluss gezogen, dass er in der Lage sein wird, sich im Kosovo grundsätzlich zurechtzufinden.
II.
Auch der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO liegt nicht vor.
Eine Rechtssache weist besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten auf, wenn die Angriffe des Rechtsmittelführers begründeten Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung geben, die sich nicht ohne Weiteres im Zulassungsverfahren klären lassen, sondern die Durchführung eines Berufungsverfahrens erfordern (Seibert in Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl. 2014, § 124 Rn. 106).
Der pauschale Hinweis auf die geänderten Rechtsgrundlagen für eine Ausweisung durch die am 1. Januar 2016 in Kraft getretene Gesetzesänderung begründet keine besonderen rechtlichen Schwierigkeiten. Die rechtliche Beurteilung von Ausweisungsentscheidungen, die unter der bis zum 31. Dezember 2015 geltenden Rechtlage ergangen sind, anhand der aktuell geltenden Rechtsgrundlagen ist in der Rechtsprechung des Senats in ständiger Rechtsprechung geklärt (zuletzt z.B. B.v. 3.5.2017 – 10 ZB 15.2310). Auch das Bundesverwaltungsgericht hat sich mittlerweile dazu geäußert (U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 20 ff.).
Die Kostenentscheidung folgt nach alledem aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben