Verwaltungsrecht

Erfolgreicher Abänderungsantrag in asylrechtlicher Streitigkeit

Aktenzeichen  M 26a S7 21.30371

Datum:
8.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 6446
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 7
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7

 

Leitsatz

In der Person des Antragstellers sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG erfüllt, da er aufgrund einer psychischen Erkrankung und der fehlenden Behandlungsmöglichkeiten in Afghanistan nicht in der Lage ist, dort sein Existenzminimum zu sichern. (Rn. 25 – 26) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Unter Abänderung der Nr. I des Beschlusses vom 30.April 2018 (M 26 S 18.30191) wird die aufschiebende Wirkung der Klage vom 12. Januar 2018 hinsichtlich der in Ziffer 3 des Bescheids vom 15. Dezember 2017 enthaltenen Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der Antragsteller, nach eigenen Angaben afghanischer Staatsangehöriger und der islamisch schiitischen Religion zugehörig, reiste am … September 2016 in das Bundesgebiet ein, wo er am … Januar 2017 erstmals Asyl beantragte. Mit Bescheid vom 14. März 2017 wurde das Verfahren eingestellt.
Am … November 2017 beantragte der Antragsteller die Fortführung des Asylverfahrens. Das Verfahren wurde durch Bescheid vom 24. November 2017 fortgeführt. Im Rahmen der Antragstellung erhielt der Antragsteller ein Ladungsschreiben gegen Empfangsbekenntnis, mit dem ihm der 30. November 2017 als Termin zur persönlichen Anhörung mitgeteilt wurde.
Der Antragsteller nahm den Anhörungstermin nicht wahr, in der Folge wurde das Asylverfahren mit Bescheid vom 15. Dezember 2017 eingestellt (Nr. 1). Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 2). Der Antragsteller wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen, andernfalls wurde ihm die Abschiebung nach Afghanistan oder in einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht (Nr.3). Zudem wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
Zur Begründung führte das Bundesamt insbesondere aus, dass aufgrund des Nichterscheinens vermutet werde, dass der Antragsteller das Verfahren nicht betreibe (§ 33 Abs. 2 Nr. 1 AsylG). Der Asylantrag gelte damit als zurückgenommen. Abschiebungsverbote seien weder vorgetragen, noch lägen sie nach den Erkenntnissen des Bundesamtes vor. Auf die weitere Begründung des Bescheides wird Bezug genommen.
Hiergegen hat der Antragsteller am 12. Januar 2018 zur Niederschrift beim Bayerischen Verwaltungsgericht München Klage erhoben (M 26 K 18.30190), über die bislang noch nicht entschieden wurde. Zugleich beantragte er, die aufschiebende Wirkung der Klage hinsichtlich der Ausreiseaufforderung und der Abschiebungsandrohung anzuordnen. Diesen Antrag lehnte das Bayerische Verwaltungsgericht München mit Beschluss vom 30. April 2018 (M 26 S 18.30191) ab. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestünden nicht. Die Beklagte habe zu Recht das Nichtbetreiben des Verfahrens nach § 33 Abs. 1, Abs. 2 Nr.1 AsylG vermutet, es sei nicht nachgewiesen worden, dass das Versäumnis auf Umstände zurückzuführen war, auf die der Antragsteller keinen Einfluss hatte. Das bloße Behaupten einer nicht näher bezeichneten Erkrankung sei kein Entschuldigungsgrund, dieser Umstand sei im Übrigen erst im gerichtlichen Verfahren vorgetragen worden. Die Ladung zur Anhörung sei ordnungsgemäß gewesen. Das Vorliegen von Abschiebungsgründen nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG sei nicht ersichtlich. Das letzte der vom Antragsteller vorgelegte Attest datiere vom … August 2017 und bescheinige ihm eine fehlende akutpsychiatrische Behandlungsbedürftigkeit.
Mit Schriftsatz vom 8. Dezember 2020, eingegangen bei Gericht per Fax am 17. Februar 2021, ließ der Antragsteller durch seine Bevollmächtigte beantragen,
unter Abänderung des Beschlusses vom 30. April 2018, AZ 26 S 18.30191, die aufschiebende Wirkung der Klage vom 12. Januar 2018 gegen den Bescheid vom 15. Dezember 2017 anzuordnen.
Zur Begründung wurde vorgetragen, dass erst im Dezember 2020 die vollständigen Akten aus dem Erstverfahren durch die Antragsgegnerin vorgelegt worden seien. Bereits mit Schreiben vom 19. Januar 2017 habe der damalige Betreuer die Antragsgegnerin unter Vorlage des Betreuungsbeschlusses darüber informiert, dass für den Antragsteller eine Betreuung eingerichtet sei und der Antragsteller aufgrund seiner psychischen Erkrankung derzeit nicht in der Lage sei, einer Ladung Folge zu leisten. Die Ladung zur Anhörung am 20. Februar 2017 sei ausschließlich an den Betreuer adressiert gewesen. In der Akte der Antragsgegnerin sei zum Bescheid der Antragsgegnerin vom 14. März 2017 vermerkt, dass an den Betreuer zuzustellen ist. Die Antragsgegnerin habe daher Kenntnis von der fehlenden Handlungsfähigkeit des Beklagten gehabt. Es sei unzutreffend vermerkt worden, dass eine anwaltliche Vertretung durch den vormaligen Betreuer nicht mehr gegeben sei. Der Antragsgegnerin sei bekannt gewesen, dass es sich beim vormaligen Betreuer nicht um den Rechtsanwalt des Antragstellers gehandelt habe, sondern um dessen gesetzlichen Betreuer. Ferner sei ihr bekannt gewesen, dass der Antragsteller weiterhin psychisch schwer erkrankt gewesen sei, so dass er trotz der Befristung der vorläufigen Betreuerbestellung bis 26. März 2017 nicht davon ausgehen konnte, dass zum Zeitpunkt der Ladung im November 2017 keine Betreuung mehr eingerichtet war.
Der Antragsteller sei durch Beschluss des Amtsgerichts München vom 29. September 2017 erneut unter Betreuung gestellt worden. Die Aufgabenkreise umfassten Aufenthaltsbestimmung und Gesundheitsfürsorge. Mit Beschluss vom 12. Oktober 2017 sei die Betreuung unter anderem auch auf die Aufgabenkreise Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post im Rahmen der übertragenen Aufgabenkreise sowie Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern erweitert worden. Die Ladung zur Anhörung am … November 2017 sei durch Übergabe an den Antragsteller nicht wirksam zugestellt worden, da der Betreuer keine Möglichkeit zur Kenntnisnahme gehabt habe.
Der Antragsteller sei psychisch schwer erkrankt. Die schwere psychische Erkrankung werde durch das Gutachten der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie A* … … vom … Juni 2020 (vorgelegt mit Schreiben vom … August 2020 im Verfahren M 26 K 18.30190) belegt.
Im vorgelegten Gutachten wird folgende Diagnose gestellt: komplexe posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) mit selbstschädigendem Verhalten und Suizidalität nach F 43.1 und mit Störungen der emotionalen Stabilität im Sinne einer emotional instabilen Persönlichkeitsentwicklung nach F 60.30. Zusätzlich nach F 32.2 eine wechselnd mittelschwere bis schwere depressive Episode. In der Vorgeschichte Drogenabusus mit fraglicher Abhängigkeit, derzeit abstinent (F 12.2). Die vorliegenden psychischen Störungen seien sicher als schwer einzustufen. Das Gutachten beruhe auf einer Begutachtung des Antragstellers vom … April 2020 und der Auswertung der vorgelegten Behandlungsunterlagen der A* …Kliniken zu mehreren stationären Aufenthalten in den Jahren 2016 und 2017. Er sei der Gutachterin nicht bekannt gewesen und sei durch diese vorher nie behandelt worden. Der psychische Zustand des Antragstellers habe sich nach einer Vergewaltigung unter Drogeneinfluss durch mehrere Männer in Schweden massiv verschlechtert. Es wird ausgeführt, dass seit 2016 ein ständiger Kreislauf aus Phasen mit starker Selbstverletzung, suizidalen Krisen und ständigen Klinikbehandlungen bestehe. Eine Psychotherapie habe bislang nicht erfolgen können, da der Antragsteller noch zu instabil gewesen sei und er die medikamentöse Behandlung nicht ausreichend akzeptieren könne. Bei einem Abbruch des Verhältnisses zu seinen jetzigen Bezugspersonen bei der Caritas und zu seinem gesetzlichen Betreuer sei mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Verschlechterung und eine Steigerung der Suizidgedanken zu erwarten, da er diese auf sich allein gestellt nicht kontrollieren könne und nicht offenbare. Bei einer Abschiebung nach Afghanistan sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit einer starken Verschlechterung und massiven Gefährdung seines Gesundheitszustands und weiteren Suizidversuchen zu rechnen. Krankheitsbedingt könne der Antragsteller seine Affekte ohne fachliche Hilfe nicht ausreichend steuern. Bei erneuter Konfrontation mit dem Gefühl von Bedrohung sei mit Sicherheit von einer Reaktivierung der schlimmen Erlebnisse auszugehen, aus der entstehenden Angst seien selbstgefährdende Handlungen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, da diese bereits in Deutschland bei bloßer Konfrontation mit den Gedanken daran einträten. Aufgrund der Schwere der Störung müsse eine regelmäßige psychotherapeutische Behandlung in einer für den Antragsteller sicheren Umgebung erfolgen. Eine alleinige fachärztliche und rein medikamentöse Behandlung sei nach den AWMF Leitlinien für die PBTS und die Depressionen nicht ausreichend, aber zusätzlich erforderlich. Um die vorliegenden Gesundheitsstörungen erfolgreich zu behandeln, sei eine Aufenthaltssicherheit von mindestens zwei Jahren erforderlich. Auf sich allein gestellt könne sich der Antragsteller derzeit nicht versorgen, nicht arbeiten und sich keine Hilfe organisieren.
Mit Schriftsatz der Bevollmächtigten des Antragstellers vom … Februar 2021 wurde ergänzend vorgetragen, dass der Antragsteller im Iran geboren wurde und dort aufgewachsen sei. Er habe sowohl durch die Misshandlung durch seinen Vater – auch gegenüber der Mutter – als auch durch die Vorkommnisse während der Flucht nach Europa schwere Traumata erlitten. In Afghanistan habe er kein familiäres Netzwerk, das ihn unterstützen könnte, einzig eine Tante lebe noch dort, zu der er keinen Kontakt habe.
Mit Schriftsätzen vom … Februar 2021 und … Februar 2021 trug die Bevollmächtigte des Antragstellers unter Vorlage von ärztlichen Bescheinigungen weiter vor, dieser habe sich in den Jahren 2018 und 2019 mindestens neun Mal in stationär – psychiatrischer Behandlung befunden.
Mit Schreiben vom … September 2020 und … Februar 2021 im Verfahren M 26 a K 18.30190 hatte die Bevollmächtigte des Antragstellers unter Vorlage ärztlicher Bescheinigungen mitgeteilt, dass sich der Antragsteller zum jeweiligen Zeitpunkt in stationär – psychiatrischer Behandlung befinde. Zudem wurde im Schreiben vom … Februar 2021 unter Vorlage eines entsprechenden ärztlichen Attests vom … Juli 2020 mitgeteilt, dass sich der Antragsteller seit Juni 2020 in ambulant – psychiatrischer Behandlung befinde.
Die Antragsgegnerin stellte keinen Antrag.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten in diesem Verfahren sowie in den Verfahren M 26 S 18.30191 und M 26 a K 18.30190 sowie die Behördenakten Bezug genommen.
II.
1. Der Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO ist zulässig und begründet.
Nach § 80 Abs. 7 VwGO kann das Gericht der Hauptsache Beschlüsse über Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Abänderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen. Gegenstand dieses Abänderungsverfahrens ist die Prüfung, ob eine zuvor im einstweiligen Rechtsschutzverfahren getroffene gerichtliche Entscheidung ganz oder teilweise geändert oder aufgehoben werden soll. Dabei geht es nicht um die ursprüngliche Richtigkeit der im vorangegangenen Verfahren getroffenen Entscheidung, sondern allein um die Fortdauer dieser Entscheidung. Das Abänderungsverfahren ist demzufolge kein Rechtsmittelverfahren, sondern ein gegenüber dem Ausgangsverfahren selbstständiges und neues Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, in dem eine abweichende Entscheidung (nur) mit Wirkung für die Zukunft getroffen werden kann. Das Abänderungsverfahren trägt somit dem Umstand Rechnung, dass im manchen Fällen Veränderungen während des Hauptsacheverfahrens eintreten, auf die trotz formeller Rechtskraft und der damit verbundenen Bindungswirkung eines abgeschlossenen Eilverfahrens mit Wirkung für die Zukunft reagiert werden muss (vgl. VGH Mannheim, B.v. 06.12.2001 – 13 S 1824/01 – juris Rn. 5).
Ein Anspruch eines Beteiligten auf eine erneute gerichtliche Sachentscheidung soll dabei nur unter den Voraussetzungen des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO bestehen; danach ist ein Abänderungsantrag eines Beteiligten nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO nur zulässig, wenn veränderte oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachte Umstände vorgetragen werden, die geeignet sind, eine Änderung der Entscheidung herbeizuführen. Dazu gehören auch erst nachträglich zur Verfügung stehende Beweismittel. Neue Beweismittel führen aber nur dann zu einem Anspruch auf eine erneute Entscheidung des Gerichts, wenn durch sie die bisherige Entscheidung überholt ist und neu überdacht werden muss (vgl. OVG Münster, B.v. 17.9.2014 – 7 B 767/14 – juris Rn. 2).
1.1 Soweit der Antragsteller vorbringt, die Ladung zum Anhörungstermin am 30. November 2017 sei nicht ordnungsgemäß erfolgt, da diese der Zustellung an den gesetzlichen Betreuer bedurft hätte, handelt es sich nicht um Umstände, die sich seit der Entscheidung im ursprünglichen Verfahren geändert haben oder ohne Verschulden nicht geltend gemacht wurden. Dem Antragsteller war vielmehr bereits im Verfahren M 26 S 18.30191 bekannt, dass er zum Zeitpunkt der Ladung unter gesetzlicher Betreuung stand und, dass die Ladung nicht an den damaligen Betreuer zugestellt wurde. Dass die Antragsgegnerin die Behördenakten zum Erstverfahren erst im Dezember 2020 vorgelegt hatte, ändert hieran nichts, da es sich bei diesen Umständen um Tatsachen handelt, die in der Sphäre des Antragstellers liegen und ihm auch ohne Kenntnis der Akten bekannt war. Insofern ist in diesem Verfahren keine Entscheidung darüber zu treffen, ob die Ladung ordnungsgemäß war, dies bleibt vielmehr dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
1.2 Durch Vorlage des Gutachtens der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie A* … … vom … Juni 2020 mit Schriftsatz vom … August 2020 liegt jedoch nunmehr ein neues Beweismittel vor, das die Entscheidung des Gerichts vom 30. April 2018 änderungsbedürftig erscheinen lässt. Diese verschafft dem Gericht neue Erkenntnismöglichkeiten zur Sachlage, die zum Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht vorlagen. Die Sach- und Rechtslage hat sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt maßgeblich zugunsten des Antragstellers geändert (§ 77 Abs. 1 AsylG). Der Antragsteller hatte im ursprünglichen Verfahren (M 26a S 18.30191) zwar vorgetragen, an einer psychiatrischen Erkrankung zu leiden, jedoch lag zum damaligen Zeitpunkt nach dem Attest vom … August 2017 keine akutpsychiatrische Behandlungsbedürftigkeit vor, so dass das Gericht keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ablehnung der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG erkennen konnte.
Nach summarischer Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache fällt die zu treffende Interessenabwägung im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes nunmehr zugunsten des Antragstellers aus, da vom Bestehen eines Anspruchs auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Absatz 5 AufenthG auszugehen ist. Der Beschluss vom 30.April 2018 war daher abzuändern und die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zwar stellt nach der ständigen obergerichtlichen Rechtsprechung auch angesichts der aktuellen Auskunftslage eine Abschiebung nach Afghanistan nicht ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) mit der Folge eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG dar und es ist auch keine extreme Gefahrenlage anzunehmen, die zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG analog führen würde (vgl. BayVGH, U.v. 01.10.2020 – 13a B 20.31004 – BeckRS 2020, 26738 Rn. 17, beck-online, BayVGH, U.v. 06.07.2020 – 13a B 18.32817 – juris Rn. 47 m.w.N.). Der BayVGH geht weiterhin davon aus, dass ein alleinstehender und arbeitsfähiger Mann regelmäßig auch ohne nennenswertes Vermögen im Fall einer zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland Afghanistan in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten etwa in seiner Heimatregion oder in Kabul ein kleines Einkommen zu erzielen und damit wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten. Trotz großer Schwierigkeiten bestehen grundsätzlich auch für Rückkehrer durchaus Perspektiven in Hinblick auf die Sicherung des Lebensunterhalts, insbesondere Rückkehrer aus dem Westen sind auf dem Arbeitsmarkt allein aufgrund ihrer Sprachkenntnisse in einer vergleichsweise guten Position. Auf ein stützendes Netzwerk in Afghanistan oder einen vorherigen Aufenthalt im Heimatland kommt es hierbei nicht an; ausreichend ist vielmehr, dass eine hinreichende Verständigung in einer der afghanischen Landessprachen möglich ist (siehe zum Ganzen: BayVGH, U.v. 01.10.2020 – 13a B 20.31004 – BeckRS 2020, 26738 Rn. 24, beck-online, BayVGH U.v. 06.07.2020 – 13a B 18.32817 – juris Rn. 47 m.w.N).
Anders verhält es sich jedoch, wenn es sich im jeweiligen konkreten Einzelfall nicht um einen volljährigen, alleinstehenden und insbesondere gesunden und leistungsfähigen Mann im oben dargelegten Sinn handelt, dem es möglich sein wird, in Afghanistan ein kleines Einkommen zu erzielen.
Der Antragsteller leidet, wie sich aus dem inzwischen vorgelegten Gutachten vom … Juni 2020 ergibt, an einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) mit selbstschädigendem Verhalten und Suizidalität nach ICD 10 F 43.1 mit Störungen der emotionalen Stabilität im Sinne einer emotional instabilen Persönlichkeitsentwicklung nach F 60.30. Zusätzlich nach F 32.2 an einer wechselnd mittelschweren bis schweren depressiven Episode. Wie durch das vorgelegte Gutachten nun belegt wird, ist bei einer Abschiebung nach Afghanistan mit einer starken Verschlechterung und massiven Gefährdung des Gesundheitszustands des Antragstellers und weiteren Suizidversuchen zu rechnen, da der Antragsteller seine Affekte ohne fachliche Hilfe nicht ausreichend steuern kann. Zur Behandlung ist demnach eine regelmäßige psychotherapeutische Behandlung in Kombination mit einer fachärztlichen und medikamentösen Behandlung erforderlich.
Das Gericht geht davon aus, dass der Antragsteller angesichts der humanitären und medizinischen Versorgungslage in Afghanistan im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan keine Möglichkeit zu einer psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung haben wird. Die nachgewiesenen zahlreichen stationären psychiatrischen Aufenthalte in den Jahren 2018 bis 2021 belegen, dass der Antragsteller regelmäßig akut auf fachärztliche Versorgung angewiesen ist. Dies dürfte zu einer wesentlichen Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit des Antragstellers führen, die seine notwendige Existenzsicherung auf dem hart umkämpften Markt der Gelegenheitsarbeiten in einem Maße erschweren dürfte, dass die Schwelle der ernsthaften Existenzbedrohung erreicht ist. Laut Gutachten kann der Antragsteller sich auf sich allein gestellt derzeit nicht versorgen, nicht arbeiten und sich keine Hilfe organisieren. Es ist daher vom Vorliegen eines nationalen Abschiebeverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans auf der Grundlage der obergerichtlichen Rechtsprechung auszugehen.
Ob daneben auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – juris Rn. 16 f.).
Vor diesem Hintergrund war die Entscheidung des Gerichts vom 30. April 2018 wie aus dem Tenor ersichtlich abzuändern.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b Abs. 1 AsylG nicht erhoben.
3. Dieser Beschluss ist unanfechtbar.


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