Verwaltungsrecht

Erfolgreicher Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung

Aktenzeichen  10 CS 20.1632

Datum:
18.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 24605
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
AufenthG § 19c Abs. 3, § 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
ARB 2/76 Art. 7
ARB 1/80 Art. 13

 

Leitsatz

1 Die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens sind zumindest offen, sodass das Interesse des Antragstellers, bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens im Bundesgebiet zu verbleiben, das öffentliche Interesse am Sofortvollzug überwiegt. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es sprechen gute Gründe für die vom Antragsteller vertretene Auffassung, dass er sich auf die Stillhalteklausel des Art. 7 ARB 2/76 berufen kann, weil er die Vorschriften über die Einreise, den Aufenthalt und die Beschäftigung beachtet hat, und es nicht entscheidend darauf ankommt, ob er im Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis als eheunabhängiges Aufenthaltsrecht nur eine Fiktionsbescheinigung besaß. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 25 S 20.1345 2020-06-23 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 23. Juni 2020 wird in Nr.
I. geändert und die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers (M 25 K 20.1344) angeordnet.
II. In Abänderung von Nr.
II. des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 23. Juni 2020 trägt der Antragsgegner die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Mit seiner Beschwerde verfolgt der Antragsteller seinen in erster Instanz erfolglosen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage, den Antragsgegner unter Aufhebung des Bescheids vom 21. Februar 2020 zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu verpflichten, weiter.
Der Antragsteller reiste am 24. Juni 2016 mit einem Visum zur Eheschließung in das Bundesgebiet zu seiner in Hamburg lebenden deutschen Verlobten ein. Am 28. Juni 2016 erfolgte die Eheschließung. Ihm wurde eine bis 1. Januar 2018 gültige Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG erteilt, die bis 20. Dezember 2018 verlängert wurde. Am 13. Dezember 2018 beantragte der Antragsteller die erneute Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis. Er erhielt eine zunächst bis 13. März 2019 gültige Fiktionsbescheinigung, die dann von der Ausländerbehörde des Antragsgegners verlängert worden ist. Seine elektronische Aufenthaltserlaubnis, die bis zum 12. Dezember 2019 gültig gewesen ist, hat er nicht bei der Ausländerbehörde abgeholt.
Am 27. Februar 2019 verzog der Antragsteller in den Zuständigkeitsbereich der Ausländerbehörde des Antragsgegners. Seine Ehefrau teilte telefonisch mit, dass sie sich am 26. Februar 2019 vom ihm getrennt habe. Mit Schreiben vom 20. März 2019 hörte ihn die Ausländerbehörde zur beabsichtigten Ablehnung seines Antrags vom 13. Dezember 2018 an.
Am 26. April 2019 beantragte der Antragsteller die Erteilung eines eheunabhängigen Aufenthaltsrechts. Aufgrund von Art. 13 ARB 1/80 reiche eine zweijährige Ehebestandszeit für eine Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG aus.
Mit Bescheid vom 21. Februar 2020 lehnte der Antragsgegner den Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ab. Der Antragsteller könne sich nicht auf Art. 13 ARB 1/80 berufen, da er nur von 31. August 2017 bis 19. Januar 2018 als Arbeitnehmer beschäftigt gewesen sei. Selbst wenn es sich bei der vom ehemaligen Arbeitgeber ausgestellten Bescheinigung, wonach der Antragsteller bis zum 19. Januar 2019 gearbeitet habe, nicht um eine Gefälligkeitsbescheinigung handle, habe er im Zeitpunkt der Trennung von seiner Ehefrau nicht mehr in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden.
Den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der vom Antragsteller erhobenen Klage auf Verpflichtung des Antragsgegners, ihm eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, lehnte das Bayerische Verwaltungsgericht München mit Beschluss vom 23. Juni 2020 ab. Der Antragsteller habe kein eigenständiges Aufenthaltsrecht aufgrund der früheren ehelichen Lebensgemeinschaft mit einer deutschen Staatsangehörigen erworben. Die eheliche Lebensgemeinschaft habe spätestens Anfang März 2019 geendet. Der Antragsteller könne sich auch nicht aufgrund von Art. 13 ARB 1/80 auf eine verkürzte Ehebestandszeit von zwei Jahren berufen. Der Antragsteller sei kein türkischer Arbeitnehmer im Sinne des Art. 13 ARB 1/80. Er habe zu keinem der relevanten Zeitpunkte die Voraussetzungen der Standstillklausel erfüllt. Bei seiner Antragstellung am 13. Dezember 2018 habe er nicht gearbeitet. Sein Arbeitsvertrag habe am 19. Januar 2018 geendet. Bei der behördlichen Entscheidung über seinen Antrag und zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung habe er zwar wieder gearbeitet, es handle sich jedoch um keine ordnungsgemäße Beschäftigung im Sinne von Art. 13 Abs. 1 ARB 1/80. Eine ordnungsgemäße Beschäftigung setze eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position auf dem Arbeitsmarkt und ein nicht bestrittenes Aufenthaltsrecht voraus. Dementsprechend führe eine Beschäftigung während eines Aufenthalts aufgrund einer Titelfiktion nach § 81 Abs. 4 AufenthG nicht zur Anwendbarkeit der Stillhalteklausel. Der Antragsteller habe auch keinen Anspruch auf Aufenthaltserlaubnis gemäß Art. 6 ARB 1/80, da er noch kein Jahr ordnungsgemäß beschäftigt gewesen sei. Bei der Beschäftigung, die der Antragsteller seit dem 1. Juni 2019 ausübe, handle es sich nicht um eine ordnungsgemäße Beschäftigung. Ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ergebe sich auch nicht aus § 19c Abs. 3 AufenthG.
Im Beschwerdeverfahren beantragt der Antragsteller,
den Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 23. Juni 2020 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 21. Februar 2020 anzuordnen.
Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts habe er ein eigenständiges Aufenthaltsrecht nach § 31 Abs. 1 AufenthG erworben, da auf ihn die Standstill-Klausel des Art. 13 ARB 1/80 Anwendung finde. Voraussetzung hierfür sei nicht, dass der türkische Staatsangehörige bereits dem Arbeitsmarkt zur Verfügung gestanden habe, vielmehr gelte die Regelung gerade für türkische Staatsangehörige, die noch keine Rechte in Bezug auf Beschäftigung und entsprechend Aufenthalt nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 genössen. Die Stillhalteklausel sei auf ihn anwendbar, weil er während seiner Ehe ordnungsgemäß beschäftigt gewesen sei. Mit der erstmaligen Aufnahme einer Beschäftigung habe er Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erlangt und sei damit Arbeitnehmer im Sinne des ARB 1/80, der sich auf das Verbot, ihm den weiteren Zugang zum Arbeitsmarkt durch nachträgliche Beschränkungen zu erschweren, berufen könne. Auch nach Beendigung seines Arbeitsverhältnisses habe er weiterhin dem Arbeitsmarkt zur Verfügung gestanden, selbst wenn er nicht erwerbstätig gewesen sei. Der Antragsgegner sei rechtsirrtümlich davon ausgegangen, dass die Anwendbarkeit der Stillhalteklausel eine bereits erworbene Rechtsstellung nach dem ARB 1/80 voraussetze. Auch den Ausführungen des Verwaltungsgerichts könne insofern nicht gefolgt werden. Maßgeblich könne es nur darauf ankommen, ob der Antragsteller während seines unbestrittenen Aufenthaltsrechts dem Arbeitsmarkt durch eine ordnungsgemäße Beschäftigung angehört habe bzw. er dem Arbeitsmarkt weiterhin zur Verfügung stehe. Es liege ein ordnungsgemäßer Aufenthalt vor, wenn der türkische Staatsangehörige die Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaats über die Einreise, den Aufenthalt und gegebenenfalls Beschäftigung beachtet habe, sodass seine Lage im Hoheitsgebiet dieses Staates rechtmäßig sei. In Bezug auf ein Aufenthaltsrecht nach § 19c Abs. 3 AufenthG ergebe sich aus der von der Arbeitsagentur erteilten Zustimmung, dass es sich um eine Einzelfallentscheidung handle, die einzig auf die besondere aktuelle Pandemie-Situation zurückzuführen sei. Trotz des generellen personellen Engpasses würde die Arbeitsagentur zu normalen Zeiten nicht ihre Zustimmung erteilen. Der Umstand, dass der Antragsteller schon lange bei seinem Arbeitgeber beschäftigt sei, alle Arbeitsabläufe kenne und gut in den Betriebsablauf integriert sei, begründe ein öffentliches Interesse an seiner Beschäftigung.
Der Antragsgegner beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Das Verwaltungsgericht habe richtig entschieden. Selbst bei Anwendung der Stillhalteklausel und Zugrundelegung einer nur zweijährigen Ehebestandszeit habe der Antragsteller keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG, weil die anrechenbare Ehebestandszeit durch die Trennung der Eheleute in der Zeit von 1. Februar 2018 bis 18. März 2018 unterbrochen worden sei.
Ergänzend wird auf die elektronische Behördenakte und die Gerichtsakten (auch im Verfahren M 25 K 20.1344) verwiesen.
II.
Die Beschwerde des Antragstellers ist begründet. Das Vorbringen im Beschwerdeverfahren rechtfertigt die Abänderung des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 23. Juni 2020 und die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers auf Verpflichtung des Antragsgegners, ihm unter Aufhebung des Bescheids vom 21. Februar 2020 eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass der Antragsteller bei summarischer Prüfung der Rechtslage keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis habe und daher das öffentliche Vollzugsinteresse überwiege. Der Senat ist demgegenüber der Auffassung, dass die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zumindest offen sind, und kommt im Rahmen der Interessenabwägung zum Ergebnis, dass das Interesse des Antragstellers, bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens im Bundesgebiet zu verbleiben, das öffentliche Interesse am Sofortvollzug überwiegt. Der Antragsteller hat sich von Juni 2016 bis zum Erlass des streitgegenständlichen Bescheids rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten, er ist berufstätig und nicht straffällig geworden, so dass bei offenen Erfolgsaussichten für das Klageverfahren kein überwiegendes öffentliches Interesse an einer sofortigen Aufenthaltsbeendigung erkennbar ist.
Das Verwaltungsgericht ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass der Antragsteller als (ehemaliger) Ehemann einer deutschen Staatsangehörigen nur dann einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG hat, wenn er sich auf eine Stillhalteklausel berufen kann, was zur Folge hätte, dass die Verlängerung der Mindestdauer des Bestehens einer ehelichen Lebensgemeinschaft von zwei auf drei Jahre zum 1. Juli 2011 auf ihn keine Anwendung findet. Denn eine solche Stillhalteklausel beinhaltet rechtlich eine Unterlassungspflicht und verwehrt den Vertragsparteien des Assoziierungsabkommen EWG-Türkei, den Zugang zum Arbeitsmarkt für die Begünstigten gegenüber dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der jeweiligen Stillhalteklausel zu erschweren, mit der Folge, dass sich der Begünstigte in unmittelbarer Anwendung der Stillhalteklausel auf die für ihn günstigste Regelung seit deren Inkrafttreten berufen kann.
Für Arbeitnehmer wie den Antragsteller ist Art. 7 ARB 2/76 und nicht Art. 13 ARB 1/80 unmittelbar anwendbar. Art. 7 ARB 2/76 enthält eine Stillhalteklausel, die sich nur dadurch von Art. 13 ARB 1/80 unterscheidet, dass sie ausschließlich Arbeitnehmer und nicht auch deren Familienangehörige begünstigt. Die Stillhalteklausel des Art. 7 ARB 2/76 bewirkt, dass alle seither eingetretenen aufenthaltsu. arbeitsmarktrechtlichen Beschränkungen auf türkische Arbeitnehmer nicht erst seit dem 1. Dezember1980, sondern bereits seit dem 1. Dezember 1976, dem Inkrafttreten des ARB 2/76, unanwendbar sind (BVerwG, U.v. 25.6.2019 – 1 C 40.18 – juris Rn. 22).
Die Verlängerung der Mindestdauer des Bestehens einer ehelichen Lebensgemeinschaft zum 1. Juli 2011 von zwei auf drei Jahre stellt eine „neue Beschränkung der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt“ i.S.d. Art. 13 ARB 1/80 bzw. Art. 7 ARB 2/76 dar (vgl. EuGH, U.v. 9.12.2010 – C-300/09 u.a., Toprak – juris Rn. 62; Hess VGH, B.v. 10.10.2013 – 9 B 1648.13 – juris Rn. 8; BayVGH, B.v. 17.6.2013 – 19 ZB 13.361 – juris Rn. 9). Der Antragsteller erfüllt die Voraussetzungen der bis zum 30. Juni 2011 gültigen, für ihn günstigeren Fassung des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG, weil die eheliche Lebensgemeinschaft mit seiner Ehefrau mindestens zwei Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet bestanden hat, denn der Antragsteller war nach seiner Eheschließung im Juni 2016 bis 20. Dezember 2018 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG. Die kurzzeitige Unterbrechung der ehelichen Lebensgemeinschaft von 1. Februar bis 18. März 2018 ist insoweit unschädlich. Etwas anderes würde nur dann gelten, wenn sich die Eheleute am 1. Februar 2018 endgültig und dauerhaft getrennt hätten und danach die Mindestehebestandszeit wieder von vorne zu laufen begänne (NdsOVG, B.v. 10.11.2017 – 13 ME 190/17 – juris Rn. 16; Zimmerer in Beck OK Migrationsrecht, Stand 1.7.2020; § 13 AufenthG Rn. 16). Eine derartige endgültige Trennung lag aber im Februar 2018 nicht vor. Dies ergibt sich eindeutig aus dem Schreiben der Ehefrau des Antragstellers vom 26. März 2018 und dem Aktenvermerk der Ausländerbehörde vom 13. März 2017 (!, richtig: 2018) über ein Telefonat mit der Ehefrau (Bl. 161 und 164 der Behördenakten).
Um sich auf die Stillhalteklausel des Art. 7 ARB 2/76 berufen zu können, muss der betreffende Arbeitnehmer nach der Rechtsprechung des EuGH nicht notwendigerweise bereits über eine Rechtsposition aus Art. 6 ARB 1/80 verfügen (EuGH, U.v. 21.10.2003 – C-317/01, C-369/01, Abatay, Sahin – juris Rn. 81; U.v. 17.9.2009 –242/06, Sahin – NVwZ 2009, 1551 Rn. 50). Demzufolge findet die Stillhalteklausel des Art. 7 ARB 2/76 auf diejenigen türkischen Arbeitnehmer Anwendung, die sich bereits ordnungsgemäß im Bundesgebiet befinden, selbst wenn sie noch keine assoziationsrechtliche Rechtsposition innehaben. Demgegenüber soll sich derjenige türkische Staatsangehörige, der sich noch im Ausland aufhält, für die erstmalige Einreise ins Bundesgebiet nicht auf Art. 13 ARB 1/80 bzw. Art. 7 ARB 2/76 berufen können (vgl. hierzu AAH-ARB 1/80 Nr. 8.5.2). Die für türkische Arbeitnehmer geschaffenen Stillhalteregelungen des Art. 7 ARB 2/76 und des Art. 13 ARB 1/80 setzen jedoch einen ordnungsgemäßen Aufenthalt des Arbeitnehmers im Aufnahmestaat voraus. Ein ordnungsgemäßer Aufenthalt liegt dann vor, wenn der türkische Staatsangehörige die Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaats über die Einreise, den Aufenthalt und gegebenenfalls die Beschäftigung beachtet hat, so dass seine Lage im Hoheitsgebiet dieses Staates rechtmäßig ist (EuGH, U.v. 21.10.2003, a.a.O. Rn. 84 m. w. N.; U.v. 17.9.2009, a.a.O., Rn. 53; U.v. 7.11.2013 – C-225/12, Demir – juris Rn. 35; BVerwG, U.v. 10.12.2014 – 1 C15.14 – juris Rn. 14).
Zweifel hat der Senat allerdings an der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts, wonach sich der Antragsteller nicht auf die Stillhalteklausel berufen könne, weil er kein Arbeitnehmer sei, dessen Aufenthalt und Beschäftigung ordnungsgemäß sind. Zum Zeitpunkt des Antrags für die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis (13.12.2018) sei er nicht Arbeitnehmer gewesen, im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts sei er keiner ordnungsgemäßen Beschäftigung nachgegangen. Das Verwaltungsgericht lässt dabei offen, auf welchen Zeitpunkt für die Beurteilung der Arbeitnehmereigenschaft bzw. der Ordnungsgemäßheit des Aufenthalts abzustellen ist, damit der Betreffende sich auf die Stillhalteklausel berufen kann. Da das der gerichtlichen Entscheidung zugrunde zu legende materielle Recht dadurch bestimmt wird, ob der Antragsteller Begünstigter der Stillhalteklausel ist, kann es nicht auf den ansonsten grundsätzlich für die gerichtliche Prüfung eines Klagebegehrens auf Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bzw. der letzten Entscheidung des Tatsachengerichts ankommen. Der EuGH stellt in seiner Rechtsprechung einerseits darauf ab, dass es für die Anwendung der Stillhalteklausel des Art. 41 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen EWG-Türkei nicht ausschlaggebend ist, ob ein türkischer Staatsangehöriger sich zu dem Zeitpunkt, zu dem er einen Antrag auf Niederlassung im Gebiet eines Mitgliedstaates stellt, rechtmäßig in diesem Staat aufhält oder nicht (EuGH, U.v. 21.7.2011 – C-186/10, Oguz – juris Rn. 33 m.w.N.), andererseits hat er aber zu Art. 13 ARB 1/80 entschieden, dass diese Bestimmung einem türkischen Staatsangehörigen nicht zugutekommen kann, dessen Lage rechtswidrig ist, und der Begriff „ordnungsgemäß“ sich auf eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position, die ein nicht bestrittenes Aufenthaltsrecht voraussetzt, bezieht (EuGH, U.v. 7.11.2013 – C-225/12, Demir – juris Rn. 35 und 46 f.). Letztere Entscheidung sagt aber nichts darüber aus, zu welchem Zeitpunkt ein ordnungsgemäßer Aufenthalt und eine ordnungsgemäße Beschäftigung des Arbeitnehmers vorgelegen haben müssen, um sich auf die Stillhalteklausel berufen zu können. Aufgrund der Funktion der Stillhalteklausel als Meistbegünstigungsklausel, wonach sich ein Arbeitnehmer, der sich ordnungsgemäß im Mitgliedstaat aufhält und ggf. beschäftigt ist, auf die für ihn günstigste Rechtslage berufen kann, sprechen nach Ansicht des Senats gute Gründe für die vom Antragsteller vertretene Auffassung, dass er sich auf die Stillhalteklausel des Art. 7 ARB 2/76 berufen kann, weil er die Vorschriften über die Einreise, den Aufenthalt und die Beschäftigung beachtet hat, und es nicht entscheidend darauf ankommt, ob er im Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis als eheunabhängiges Aufenthaltsrecht nur eine Fiktionsbescheinigung besaß (so im Ergebnis auch Oberhäuser in Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, Art. 13 ARB 1/80 Rn. 8 ff; a.A. NdsOVG, B.v. 10.12.2019 – 13 ME 344/19 – juris Rn. 7). Auch der der Entscheidung des EuGH vom 9. Dezember 2010 (C-300/09 u.a., Toprak/Oguz) zugrunde liegende Sachverhalt stützt diese Ansicht, weil in diesem Fall die beiden türkischen Staatsangehörigen während ihrer Ehe als Arbeitnehmer ordnungsgemäß beschäftigt waren ohne eine Rechtsposition nach Art. 6 ARB 1/80 erworben zu haben, ihre Anträge auf Erteilung eines eheunabhängigen Aufenthaltstitels wegen der zu kurzen Ehebestandszeit abgelehnt worden waren und sie sich nach Auffassung des EuGH dennoch auf Art. 13 ARB 1/80 berufen konnten. Seine Arbeitnehmereigenschaft hat der Antragsteller im Übrigen nicht durch die Aufgabe seiner Beschäftigung im Januar 2018 verloren, da Arbeitnehmer auch derjenige ist, der die Ausübung einer Beschäftigung beabsichtigt (AAH-ARB 1/80 Nr. 8.4.2).
Ergibt sich ein möglicher Erfolg der der Verpflichtungsklage bereits daraus, dass der Antragsteller als Begünstigter der Stillhalteklausel bereits nach zweijähriger Ehebestandszeit einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG hat, kommt es für die Entscheidung des Senats nicht mehr darauf an, ob sich ein Anspruch des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auch aus § 19c Abs. 3 AufenthG ergibt. Zum Beschwerdevorbringen ist folgendes anzumerken: Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 19c AufenthG setzt einen begründeten Einzelfall und ein öffentliches Interesse, insbesondere ein regionales, wirtschaftspolitisches oder arbeitsmarktpolitisches Interesse voraus. Zuständig für die Beurteilung des arbeitsmarktpolitischen Interesses ist die Bundesagentur für Arbeit (AwH FEG, BGBl. I 2019, S. 1307, Nr. 19c.3.0 i.V.m. AVwV Nr. 18.4.3). Durch ihre Zustimmung zur Ausübung einer Beschäftigung als Warenverräumer hat die Bundesagentur (§ 39 Abs. 3 AufenthG) ein arbeitsmarktpolitisches Interesse für die Beschäftigung des Antragstellers bejaht. Auch wenn das „öffentliche Interesse“ einen gerichtlich voll überprüfbaren unbestimmten Rechtsbegriff darstellt (Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 19c AufenthG Rn. 13), bedarf es für eine abweichende Beurteilung durch das Verwaltungsgericht einer Auseinandersetzung mit den der Zustimmungsentscheidung zugrundeliegenden Gesichtspunkten (systemrelevant, längstens 6 Monate).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1; 3 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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